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12 Seiten

Körper Kapitel 2

Romane/Serien · Spannendes
© H. Seeg
Kapitel 2

1

Zwei Wochen waren vergangen. J. und seine Kollegin dachten immer wieder an den Vorfall mit diesem Mann. In der Kirche. Immer wieder versuchten sie die Aussage des Predigers zu verstehen. Immer wieder prüften sie den Pfarrer und seine Vorgeschichte. Die ganze Geschichte klang unglaubwürdig. Realitätsfern. Niemandem hatten sie davon erzählt. Wer hätte ihnen auch glauben geschenkt? Sie wagten es selbst nicht ihren Wahrnehmungen zu vertrauen. Und ein solcher Vorfall widersprach allem, was sie je gehört und gesehen hatten. Doch wer hätte einen solchen Vorfall inszenieren sollen? Und vor allem: Warum hätte jemand einen solchen Vorfall inszenieren sollen? Was hätte der Täter davon gehabt? Was hätte überhaupt jemand davon gehabt? Eigentlich nichts.
Einen Vorteil hätte vielleicht, so stellten sich die beiden Beamten vor, der Pfarrer gehabt. Es hätte seine unglaubliche Geschichte unterstrichen. Es hätte das Bild, welches er vermittelte und durch Artikel belegte, unterstrichen; es hätte ein neues Bild ergeben. Ein Bild, das den Beamten die Sinnlosigkeit ihres Tuns vermittelt hätte. Wer hätte schon gegen das Übersinnliche ankommen können? So jedenfalls waren die Gedanken von Melissa und J. Gedanken, die noch immer von dem Vorkommnis gefärbt waren.
Daneben machten sie sich noch die Mühe nach dem Obdachlosen zu fahnden. Unzählige Heimatlose hatten sie hierfür verhört. Einige gestanden die Tat ziemlich schnell, es lockte ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen. Wenn auch nur für eine bestimmte Zeit. Andere versuchten mit Alibis zu glänzen, die es nicht gab. Alibis, die so leicht zu durchschauen waren wie eine Glasscheibe. Wieder andere sagten einfach gar nichts. Es schien oftmals so, als hätten sie es genossen im Mittelpunkt zu stehen.
Während die Presse einige Tage nach dem Vorfall beinahe täglich über den Mord berichtete, wurde es auch hier still. Dennoch war der Druck für die Beamten nicht weniger geworden. Die Zeitungen und andere Medien fragten auch ohne Berichterstattung beinahe täglich nach den Ergebnissen der Ermittlungen. Und ihr Vorgesetzter ließ es sich nicht nehmen immer wieder zu betonen, wie wichtig es sei, in diesem Fall weiter zu kommen. Aber eine spezielle Fahndungsgruppe einzurichten schien für den Chef nicht in Frage zu kommen. Warum auch immer. Stattdessen verteilte er alle anderen Fälle auf die Kollegen, die ohnehin schon überlastet waren. Es war nun einmal nicht wie im Fernsehen, dass nur ein einziger Fall zu bearbeiten war. Und dementsprechend hoch war die Arbeitsbelastung. So hatte die ganze Situation zumindest einen Vorteil. Wenn es auch ein Vorteil war, auf den die beiden Beamten gerne verzichtet hätten.
„Es kann doch nicht sein, dass es keinerlei Zeugen gibt“, zerriss Melissa die Stille, die nun schon seit einiger Zeit im Raum herrschte. „Anwohner, Passanten. Nichts. Nicht einmal ein Regenwurm.“
J. schaute sie einfach an und vermied es irgendeine Antwort oder einen Kommentar zu geben. Er kannte seine Partnerin und wusste, sie würden sich streiten, wenn er jetzt auch nur einen Ton sagen würde. Zu groß war die Aufregung; zu groß war der Druck auf seine Kollegin.
J. senkte seine Blicke wieder auf die Karte, die er vor sich ausgebreitet hatte. J. verfolgte noch immer die Spur, die der Prediger gelegt hatte. Es war der einzige Anhaltspunkt den sie überhaupt hatten. Die einzige Spur, die überhaupt in irgendeiner Weise belegbar war. Keine Spekulation. Aus diesem Grund hatte er sich die alten Akten noch einmal vorgenommen.
„Was machst du denn mit der Karte?“
„Ich markiere die Kirchen, an denen die Leichen gefunden wurden“, antwortete J. fast beiläufig. Er war vorsichtig, denn Melissa klang noch immer gereizt.
„Na ja, es gibt die Artikel und es gibt die Akten. Vielleicht sollten wir uns wirklich damit beschäftigen.“ Ihre Stimme wurde nun ruhiger. „Die Frage ist nur, wo wir den Obdachlosen auftreiben. Falls es ihn gegeben hat.“
„Es ist die einzige Spur. Und wenn dieser Obdachlose damals schon erwähnt wurde, wer sagt denn, das er wirklich obdachlos ist?“
Melissa schaute ihren Kollegen still an. Sie wartete auf eine weitere Ausführung von J.
„Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass es noch immer der gleiche Obdachlose ist. Vielleicht sollten wir uns die Frage stellen, warum die Leichen immer in eine Kirche wandern. Ich meine...“
„Es ist beinahe wie ein Ritual. Ich habe mir die Akten auch durchgelesen. Aber es können eigentlich nicht die gleichen Personen wie vor hundert Jahren sein. Wie sollen die denn so lange Leben?“ Ein Lächeln legte sich auf die Lippen der Frau. Sichtlich ruhiger als noch vor einige Minuten lief sie auf J. zu. Dann blieb sie neben ihrem Kollegen stehen.
„Sind wir uns einig die Spur weiter zu verfolgen?“, fragte J. vorsichtig. Ein kurzes Nicken der Braunhaarigen verriet ihm, dass er nicht alleine mit seiner Meinung war.
„Was sollen wir denn sonst machen. Wir haben keine andere Spur.“
„Und die, die wir haben, brauchen wir niemandem zu sagen. Nur Ausschnitte.“
„Das denke ich auch“, fügte Melissa hinzu. Sie wussten beide, ihre Kollegen, ihr Vorgesetzter würde sie für verrückt erklären, wenn sie mit einer Spur aufwarten würden, die ihren Anfang vor hundert Jahren nahm.
„Was tun wir?“, fragte J. Er kannte die Antwort schon. Melissa dachte in solchen Dingen ähnlich wie er.
„Wir sollten noch einmal zu diesem Pfarrer fahren. Wenn er das Zeug sammelt, dann hat das wohl einen Grund. Und irgend jemand muss vor seiner Geburt schon damit angefangen haben. Ich glaube nicht, dass das Archiv der Zeitungen so lange zurückreicht.“
„Ein Ausschnitt stammt von einer Zeitung, die vor vierzig Jahren abgebrannt ist. Hab ich schon kontrolliert. Da hat er den Artikel sicherlich nicht her.“
„Dann sollten wir die Frage beantworten, warum die Ausschnitte gesammelt wurden und wer damit angefangen hat...“
„Und vor allem, was er sonst noch davon weiß“, ergänzte er den Satz der Frau nahtlos.
„Was machen wir, wenn wir den letzten Vorfall nicht erklären können? Ich meine, ich glaube noch immer nicht an Übersinnliches. Aber wenn der uns jetzt....“
„Wir müssen ihm nicht unbedingt glauben“, gab J. zur Antwort. Er war sich nicht sicher, welche Geschichte sie hören würden. Er wusste nur, es war eine Chance weiter zu kommen. Vielleicht die einzige Möglichkeit, die sie hatten. Auch wenn er nicht an Geister und Dämonen oder ähnliches glaubte, so war er fest entschlossen, diese Dinge in sein Denken mit einzubeziehen. Denn für die Version des Predigers konnten diese Dinge wichtig sein. Und vielleicht würde sich die Geschichte nur deuten lassen, wenn man diese Weltanschauung mit einbezog.

2

Der schrille Ton der Türglocke erklang. Ungeduldig warteten die beiden Beamten vor der Tür. Hinter dem getönten Glas näherte sich eine Person.
„Wer ist da?“, erklang laut die Stimme des Predigers.
„Polizei. Wir wollten sie noch einmal wegen der Zeitungsausschnitte befragen.“ Die Beamten schauten sich verduzt an, während J. diesen Satz zurückrief.
„Einen Moment“, erklang es noch einmal kurz hinter der Tür. Dann lief der Prediger sichtlich in eines der Zimmer, die vom Flur abzweigten.
„Warum hat er nicht einfach die Tür geöffnet und nachgesehen wer da ist?“, fragte sich Melissa laut. J. zuckte einfach nur mit den Schultern. Dann öffnete sich die Tür.
„Entschuldigen sie, ich hatte mich kurz hingelegt. Wir haben gerade Mittagspause und es kommt selten vor, dass ich dazu die Gelegenheit habe“, erklärte der Pfarrer. Dann zeigte er den Jungen mit einem Handwink, dass sie hereinkommen sollen. „Im Pfarramt gibt es immer viel zu tun. Und seit meiner Scheidung bin ich sehr lange dort. Was soll ich hier auch machen so alleine?“, fuhr der Prediger fort. Seine Stimme klang noch getrübt von der Müdigkeit. Wortlos liefen sie in das Wohnzimmer und nahmen auf den Polstermöbeln platz.
„Wir hätten gerne mehr über die Zeitungsausschnitte gewusst“, sagte Melissa.
„Was genau wollen sie denn wissen?“
„Wer hat angefangen die Ausschnitte zu sammeln. Sie können es nicht gewesen sein. Einige davon kann man sich seit Jahren nicht mehr beschaffen.“
„Und vor allem, was wissen sie über die Leichen noch. Niemand sammelt die Artikel, wenn er nicht irgendwas vorher davon gehört hat.“
Ungläubig schaute der Geistliche die Beamten an, die nun auf eine Antwort warteten. Sein Gesicht verriet, dass er darüber nachdachte, aus welchem Grund sie diese Informationen haben wollten. Während er bei den letzten Begegnungen kaum eine Regung zeigte, schien ihn diese Frage sehr zu beschäftigen. „Warum wollen sie das wissen?“, fragte der Geistliche nach einigen Sekunden.
„Es ist der einzige Hinweis den wir haben. Und wenn sie mehr darüber wissen, dann wollen wir das auch wissen. Irgendwie müssen wir weiterkommen. Erzählen sie uns einfach alles aus ihrer Sicht, auch wenn sie glauben, wir könnten sie für verrückt halten“, gab J. zur Antwort.
„Wir brauchen einfach einen Zusammenhang und weitere Anhaltspunkte. Egal wie abwegig die sind“, ergänzte die hübsche Polizistin.
„Sie werden die Geschichte nicht mögen“, erklärte der Pfarrer. „Und ich weiß wirklich nicht, ob sie sie überhaupt glauben werden.“ Für einen Moment herrschte gespannte Stille im Raum. Gespannt schauten sie den Geistlichen an; vermittelten ihm mit ihrem Blick, dass sie nun die Geschichte hören wollen.
„Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie mir die Geschichte mit dem Grauhaarigen nicht abnehmen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mich deshalb verdächtigen oder zumindest für verrückt halten. Hiermit habe ich nun wirklich nicht gerechnet“, gab der Pfarrer zu verstehen. Seine Stimme war ruhig und dennoch erkannte man eine Spur von Freude; auch wenn er ansonsten versuchte, gelassen und ruhig zu wirken. „Na gut, dann hören sie mir zu“.

„Mein Urgroßvater soll sich schon damit beschäftigt haben. Das hat jedenfalls mein Vater gesagt. Meine Mutter hat immer gesagt, dass die vorgergehenden Generationen etwas mystisch angehaucht waren. Sie glaubte nicht jedes Wort. Mein Vater allerdings hatte diese alten Geschichten immer aufgesaugt. Ich gestehe, es muss viel Unsinn dabei gewesen sein. Jedenfalls nach alle dem, was ich dann später erfahren habe.
Mein alter Herr hat damals angefangen, mir von diesen Morden zu erzählen. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Er hat immer darauf geachtet, dass er es in eine nette, kleine Geschichte verpackt. Es war vielmehr so, als erzählte er mir eine Gruselgeschichte, wie man sie an einem Lagerfeuer erzählt. Dabei hat er mit absoluter Sicherheit einige Passagen aufgewertet und andere abgeschwächt.
Mit siebzehn habe ich dann selbst angefangen mich mit diesen alten Geschichten zu beschäftigen. Dabei fielen mir die Artikel in die Hände, die mein Vater und mein Großvater gesammelt hatten. Es ging eben immer um diese Körper, die leblos, ohne Arme, Beine und Kopf in den Kirchen vor den Kreuzen lagen. Ich habe mich manchmal stundenlang damit beschäftigt. Irgendwann kannte ich die Gemeinsamkeiten. Nur den Ablauf kann ich ihnen bis heute nicht sagen. Ich habe viel darüber spekuliert, aber Antworten habe ich nicht gefunden. Ich kann ihnen noch nicht einmal sagen, ob es ein Muster gibt, wie die Opfer ausgesucht werden. Bisher wurde noch nie ein Opfer identifiziert soweit ich weiß. Wenn es anders ist, dann haben sie die Möglichkeit, mich darüber aufzuklären.“ Einen Moment lang wartete der Priester ab, ob die Beamten ihm etwas sagen wollen. Dann fuhr er fort.
„Dann wahrscheinlich nicht. Jedenfalls geriet ich schon damals in Verdacht, weil ich immer fragte, wie die Schnitte aussahen. Ich habe auf den Fotos immer wieder gesehen, dass da kein Blut lag. Auf den neueren Fotos. In vielen Zeitungen wurden überhaupt keine Fotos vom Tatort abgedruckt. Und wenn ich das in die Fragen eingebaut hatte, war das eben verdächtig. Irgendwann habe ich nicht mehr nachgefragt. Immer wieder hat man versucht, mir die alten Fälle nachzuweisen. Vor allem, als ich anmerkte, dass es bisher nur Männer waren, die getötet wurden. Es war eigentlich überdeutlich. Aber aus irgendeinem Grund hat bisher noch keiner darauf aufgepasst. Ich meine, wenn man sich nur damit beschäftigt, dann fällt schon auf, dass sich die Körper alle irgendwie ähneln. Sie sind nicht sehr muskulös, aber auch nicht dick. Sie sind alle ungefähr gleich. Und die Zeitabstände sind beachtlich. Wenn ich richtig liege, dann wird noch heute ein weiterer Körper gefunden werden. Es werden sechs sein. Sechs Körper. Es waren immer sechs Körper in kurzer Zeit. Mit festen Abständen. Zwei Wochen. Dann ist Ruhe – Für sechs Wochen. Dann geht es wieder von vorne los. Der Zyklus wiederholt sich dreimal. Nach dem dritten mal ist dann für viele Jahre schluss. Der Zyklus war seit meiner Kindheit erst drei mal. Jetzt das vierte mal. Und es wird so kommen und ich befürchte, es kann niemand etwas dagegen machen.
Ich kenne auch niemanden, der lange genug lebt, um das ganze immer wieder von vorne anzufangen. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum ich ausgerechnet Pfarrer geworden bin. Vielleicht nicht ganz bewusst, aber es ist mit Sicherheit ein Grund, warum ich an den da oben glaube.“
Der Geistliche wirkte nun nachdenklich. Seine Augen starrten in die Ferne; als würden sie die Beamten durchdringen. Als würde er versuchen unter ihre Haut zu sehen.
„Die Leichen lagen immer vor dem Altar haben sie gesagt“. J. wollte mit diesen Worten die fast rauschende Stille unterbrechen, die sich nun in dem Zimmer breit machte.
„Nein, ich sagte sie lagen immer vor einem Kreuz. Die sind für gewöhnlich auf dem Altar. Es gibt aber auch Kirchen, die haben noch andere Kreuze. Es gab vier oder fünf Leichen, die nicht vor einem Altar lagen. Ich habe, bevor ich das bemerkte immer geglaubt, es würde sich um ein Ritual handeln. Als ich das bemerkt hatte, dachte ich anders darüber.“
„Was dachten sie dann?“, fragte Melissa mit ehrlichem Interesse.
„Es ist kein Ritual. Das Kreuz soll die Körper beschützen. Das ist es, was ich denke. Es soll die Seelen nach Hause bringen.“
„Wie kommen sie darauf?“, fragte J.
„Auf einem Altar opfert man, unter einem Kreuz sucht man Schutz.“
„Ist das die christliche Anschauung?“
„Das mit dem Altar ist die Anschauung, die viele Völker seit allen Zeiten hatten. Immer gab es Opferstätten und sehr oft gab es einen Altar.“
„Und dieser Obdachlose?“, fuhr Melissa nahtlos fort.
„Der tauchte scheinbar schon zu allen Zeiten bei diesen Vorfällen auf. Schon mein Urgroßvater soll davon erzählt haben. Wenn sie mich fragen, liegt da der Schlüssel. Finden sie heraus, wer dieser Mann ist oder welche Gruppe damit zu tun hat und sie haben einen großen Teil der Lösung. Das ist jedenfalls meine Meinung. Ich tendiere eher zu einer Gruppe. Ehrlich gesagt. Dass er die Leute getötet hat glaube ich aber nicht.“
„Warum?“
„Weil er nicht versuchen würde, die Leichen unter ein Kreuz zu legen. Er würde sie nicht beschützen. Es wäre ihm egal. Er hätte sein Ziel erreicht. Warum sollte er die Seelen retten wollen? Das macht für mich keinen Sinn. Einen Sinn würde es nur bei einer religiösen Sekte geben, die opfern aber niemanden. Mir wäre zumindest keine bekannt, die das je getan hätte.“
Wieder kehrte Stille in den Raum ein. Melissa und J. betrachteten den Mann, der sich nun ganz gelassen nach hinten lehnte.
„Ich denke wir wissen genug. Es sei denn, sie hätten noch mehr Gemeinsamkeiten gefunden“, sagte J. und schwieg nach diesem Satz. So als wartete er auf eine Antwort.
„Nein, habe ich nicht.“

3

Wieder saßen die beiden Beamten vor ihrer Landkarte. Ihre Augen tasteten die unzähligen Linien ab, die in den verschiedensten Farben vom Papier schillerten.
„Ich denke nicht, dass wir ein Muster finden werden. Ich glaube eher, wir sollten uns darauf konzentrieren, herauszufinden, woher dieser Penner kam“, gab J. zu verstehen. Melissa schaute ihn kurz an; richtete dann ihre Blicke wieder auf die Karte.
„Penner?“, erklang ihre Stimme fragend.
„Wie soll ich denn sonst sagen? Der wird wohl ein zu Hause haben schätze ich mittlerweile.“
„Denke ich auch. Aber wo sollen wir suchen?“
J. hob seinen Arm, grinste noch einen kurzen Moment und ließ seinen Finger auf die Karte fallen. „Hier.“, stellte der Junge kurz und knapp fest. „Genau in diesem Gebiet.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte die Kollegin verblüfft.
„Weil es hier drei Kirchen gibt, aber noch nie etwas passiert ist. Alle anderen Kirchen hatten schon Leichen. Also muss es doch hier was besonderes geben. Irgendwas, dass dafür sorgt, dass man keine Leichen hinbringt. Und...“
„Und das kann auch bedeuten, der Penner kann sich in dieser Region aufhalten. Oder die Gruppe, Sekte oder sonst was“, beendete Melissa die Ausführungen ihres Kollegen. „Klingt logisch und wieso sind wir jetzt erst darauf gekommen?“, fragte die Beamtin ironisch.
„Weil wir vorhin nach etwas anderem gesucht haben“, stellten die beiden Jungen beinahe im Chor fest.
„Wir suchten ein Muster und fanden keines. Jetzt haben wir ein Muster, aber ein anderes als wir erwartet haben.“
Melissa hörte ihrem Kollegen aufmerksam zu. Ein Lächeln zierte ihre Lippen. Ihre Augen strahlten für einen Moment Verträumtheit aus.
„Was ist?“, wollte J. wissen.
„Ich weiß nicht.“ Ihre Antwort kam in einem erschrockenen Unterton. „Wo genau wollen wir hinfahren? Das Gebiet ist ja nicht gerade klein?“
„Aber auch nicht groß. Wir fahren einfach alles ab, was uns zwischen die Finger kommt, vielleicht sehen wir ja irgendwas“, entgegnete J. der Frau.
„Sehr effizient mein Herr“, gab sie ironisch zurück. Ein kurzes Lachen ergänzte den Satz.
„Wir haben doch ohnehin keine Anhaltspunkte an denen wir gerade arbeiten könnten. Also fahren wir?“
Melissa zwinkerte dem jungen Mann zu, stand auf und lief in Richtung Ausgang. Dann blieb sie stehen und zeigte ihrem Kollegen mit dem Zeigefinger, dass er ihr nun endlich folgen solle.

Zwei Stunden waren die Beamten nun schon unterwegs. Immer wieder bogen sie in irgendwelche Straßen ein. Hin und wieder fuhren sie auch im Kreis. Auffälligkeiten gab es keine. Kein altes, leerstehendes Haus, keine Ruine. Alles war verbaut. Wenn der Penner in dieser Gegend wohnen würde, waren sich die Ermittler sicher, dann nicht in einer Ruine oder einem Erdloch. Bestärkt wurden sie in dieser Annahme durch die Tatsache, dass sie einige Einheimische befragt hatten. Niemand konnte sich daran erinnern, dass es in dieser Gegend leerstehende Gebäude gab. Auch Brücken, nach denen sich die Beamten sicherheitshalber erkundigten, gab es nicht.
„Meinst du Fehlanzeige?“, wollte Melissa wissen. Ihre Stimme klang enttäuscht. Dennoch gab sie sich kämpferisch und professionell.
„Nein, es muss hier sein. Es ist die einzige Erklärung. Ausgerechnet hier ist die größte Ansammlung von Kirchen auf engem Raum und ausgerechnet hier gab es noch nie eine Leiche. Schon seltsam oder. Es gab einige Kirchen, die wurden doppelt belegt. Also muss es nicht sein, dass hier die Leichen erst noch kommen. Ich glaube daran, hier irgendwo muss unser Obdachloser sein“, führte J. aus. Melissa klebte an seinen Lippen.
„Wollen wir etwas essen, da ist ein Imbiss“, unterbrach der Junge das Schweigen, das nach seiner Ausführung drohte den Platz im Fahrzeug einzunehmen.
„Gerne. Du zahlst“, bestimmte die junge Frau. J. lachte. Seine Augen richteten sich nur auf die Straße, so dass er die Blicke der jungen Frau nicht wahrnehmen konnte. Wenige Meter weiter blieben sie stehen.

4

„Perfekte Wurst, perfekte Pommes“, sagte J. Hastig steckte er sich das nächste Stück Wurst in den Mund.
„Die Pommes sind in altem Fett gemacht und die Wurst ein bisschen zu gut durch“.
„Eben“, gab J. zurück. Er machte keinen Scherz. Für ihn musste es in einem Imbiss so sein. Als Melissa ihn einmal fragte, warum er dieser Ansicht sei, gab der Mann an, dass er in seiner Kindheit immer zu einer solchen Bude gelaufen wäre. Es wäre nicht sehr oft vorgekommen. Aber wenn er durfte, dann holte er sich genau diese Kombination: Wurst und Pommes. Die Wurst fast verbrannt und die Pommes in altem Fett ausgebacken.
Melissa atmete einen Moment tief durch und lächelte dabei.
J. legte sein Gebratenes auf die Pappschale und starrte über die Straße.
„Was ist?“, fragte die junge Frau.
„Der Typ da drüben. Der sieht doch aus wie ein Nobelpenner. Der passt doch alles in allem auf die Beschreibung.“
„Meinst du wir sollen ihn mal fragen?“
„Also auf dem Revier war er bisher nicht. Ich denke, dass wir sollten. Ja.“ J. putzte seine Finger beinahe automatisiert an der Papierserviette ab und schmiss sie ebenfalls auf die Pappe. Melissa schob ihren Teller in die Mitte des Tisches. Dann liefen sie auf den Mann zu.
„Einen Moment“, rief J. zu dem Mann hinüber. Der Mann blieb stehen. Dann drehte er sich zu den Beamten. Schon aus der Ferne verspürten die Beamten ein Unbehagen in ihrer Magengegend. Sein Blick war starr, eisig. Seine Körperhaltung drohend. Seine Hände wanderten langsam aus seinen Hosentaschen.
„Wir hätten nur kurz ein paar Fragen an sie“, ergänzte J. den Satz.
Der Mann stand noch immer da. Noch immer starrte er die Ermittler an. Melissa blieb einen kurzen Augenblick stehen. Dann lief sie weiter. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ihre Hände wurden leicht feucht. J. lief schneller. Bis er fast rannte. Nur noch wenige Meter, dann kamen sie bei dem Mann an.
„Hallo, wir sind von der Polizei. Wir ermitteln in dem Mordfall in der Nachbarstadt.“ J. erwartete nun eine Antwort von dem Mann. Beinahe stechend war der Blick des Mannes, der fast eine Kopflänge größer war als J. Der Unterschied zu Melissa war noch gravierender.
Ruhig nickte der Fremde. Seine Augen blieben auf die von J. gerichtet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Augenlider noch nicht bewegt. Nicht ein einziges mal.
„Sicher fragen sie sich, was wir von ihnen wollen?“, kam über Melissas Lippen. Noch immer starrte der Nobelpenner J. an. So, als hatte er von der Frage der Frau keine Kenntnis genommen. So als hätte er Melissa einfach übersehen. Beinahe drohend wirkte diese Geste auf die Beamten. Dennoch ließen sie sich nichts anmerken.
„Wenn sie uns vielleicht begleiten würden. Wir hätte einfach ein paar Fragen an sie“, sagte J. zu dem Mann, der noch immer starr in seine Richtung schaute. Der junge Beamte wollte dagegen halten. Beinahe wie in einem Duell. Der Drang einfach wegzusehen erstarkte in dem jungen Polizisten. Dennoch hielt J. sich unter Kontrolle und versuchte die stechenden Blicke auszuhalten.
Der Mann drehte sich wortlos von den Beamten weg und lief einige Schritte. Die jungen Polizisten rannten dem Mann hinterher. J. reckte seine Hand nach dem Merkwürdigen aus und legte sie auf seine Schultern. Ruckartig blieb der Große stehen. Schneller als die Beamten es sehen konnten drehte sich der Lange um. Er packte sie an ihrer Kleidung. Ruckartig hob er sie hoch; bis ihre Beine über dem Boden schwebten. Erschrocken starrten sie dem Mann in sein Gesicht. Narben waren zu erkennen. Einst tiefe Wunden. Als wären sie Daunen, stemmte der Mann sie mühelos. Seine Blicke blieben starr. Mit einem Ruck warf er die beiden eins zwei Meter durch die Luft. Mit heftigem Schmerz prallten sie auf den Boden. Sie sahen, wie der Mann sich ruhig umdrehte und einige Meter weiter in eine Straße einbog. Regungslos starrten sie ihm nach. Ihr Herz pochte. Adrenalin betäubte nun ihren Schmerz.
„Hinterher“, kam leise über die Lippen des jungen Mannes. Schnell sprang er auf und rannte auf die Ecke zu.
Melissa blieb einfach liegen. Angst lähmte ihren Körper; lähmte ihre Gedanken.
J. blieb an der Ecke stehen. Seine Augen suchten die Seitenstraße ab. Leere beherrschte den langen Stadtstreifen. Hektisch schaute er zurück zu seiner Kollegin. „Scheiße“, schrie der Beamte. Dann rannte er zurück zu Melissa.
„Alles in Ordnung mit dir“, fragte der Mann besorgt.
„Was war das?“, wollte Melissa ängstlich wissen. Ihr Herz pochte gegen ihre Brust. Ihr Atem war tief und schnell.
„Ich schätze, das war unser Mann“, sagte J. Er versuchte seine eigene Angst zu verbergen. Er versuchte, seine Kollegin zu beruhigen. „Geht´s wieder?“
Melissa nickte, während sie bemerkte, dass ihr Herz langsam wieder ruhiger schlug. Noch immer spürte sie das betäubende Gefühl des Angsthormons in sich. Dann stand sie langsam auf und starrte noch immer in die Richtung, in welcher der Mann gerade eben aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.
J. half ihr auf. Dann wandte er sich von ihr ab und lief zu der Imbissbude. „Haben sie den Mann gesehen?“
„Hä?“, sagte die Frau hinter dem Grill.
„Na den Mann zu dem wir eben gerade gegangen sind. Der Mann, der uns auf den Bürgersteig geworfen hat. Den Mann eben“, sagte der Beamte hektisch.
„Hab niemanden gesehen“, sagte die Ältere gelangweilt. Melissa rannte zu ihrem Auto. Schnell riss sie die Tür auf, stieg ein, nahm das Funkgerät. „Hier 1912. Wir brauchen Verstärkung. Ein Verdächtiger auf der Flucht.“

5

Es hatte nur einige Minuten gedauert, bis die Verstärkung am Imbiss vorgefahren war. So standen nun sechs Fahrzeuge vor einer staunenden Imbissverkäuferin, die sich das Schauspiel sichtlich amüsiert ansah.
Die Beamten liefen die Straße entlang. J. und Melissa folgten ihren Kollegen. Noch immer spukte der Vorfall der vergangenen Minuten in ihren Gehirnen. Sie konnten es nicht wirklich glauben, was sie erlebt hatten. Die Angst, die ungebändigte Kraft dieses Mannes, sein starrer Blick. Woher kam dieser Mann? Wohin war er gegangen?
„Kannst du dich daran erinnern irgend etwas gerochen zu haben?“, fragte Melissa ihren Kollegen. Für einen Moment dachte J. nach.
„Nicht wirklich, warum?“
„So wie der Kerl ausgesehen hat, hätte er stinken müssen. Auch wenn er mehr oder weniger ein Nobelpenner war. Er hätte bis in den Himmel stinken müssen.“
„Was meinst du damit?“
„Ich glaube nicht, dass er wirklich auf der Straße lebt. Das ganze war vielmehr eine Tarnung.“
„Und das seit hundert Jahren oder wie?“, sagte J. Er versuchte etwas Humor aufzubringen. Er wusste nicht warum. Vielleicht wollte er sich einfach nur ein wenig aufmuntern. Vielleicht wollte er sich die Angst nehmen, indem er die Situation verharmloste.
„Erstens lebt niemand hundert Jahre und wie ein Opa hat der nicht ausgesehen. Wir wissen auch nicht wirklich, wie die damals aussahen. Noch einmal. Der war alles, nur kein Penner“, stellte die Frau energisch fest.
„Tut mir leid. Wahrscheinlich hast du recht“, sagte J. nun sanfter. Seine Stimme klang klar und besänftigend. „Lass uns in der Straße nachsehen. Vielleicht finden wir was.“
Melissa nickte. Sie wirkte beinahe genervt. Ein Eindruck, den sie immer versuchte zu vermitteln, wenn sie ihre Gefühle nicht zeigen wollte. Noch immer steckte ein Rest Angst in ihrem Körper.
„Was ist denn das da drüben?“, sagte Melissa plötzlich. Sie blieb stehen und schaute auf die andere Straßenseite. Dann lief sie langsam über die breite Straße.
„Was meinst du?“, wollte J. wissen, der ihr nun hinterher lief. Seine Augen suchten die Zäune der Grundstücke ab. Er konnte nichts erkennen.
Wie auf Schienen lief Melissa immer in die gleiche Richtung. Bis sie an einem der Zäune stehen blieb. Dann beugte sie sich über das Tor, hob irgend etwas auf und betrachtete es sich. J. kam gerade hinter ihr an.
„Sag den Kollegen bescheid, die Klamotten hätten wir“, sagte Melissa zu dem jungen Mann. Eine junge Frau schaute ungläubig aus der Haustür.
„Was machen sie da?“
„Gehört das ihnen?“
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
„Haben sie jemanden gesehen. Wer hat das hier hingeschmissen?“
„Ich habe niemanden gesehen. Ich weiß nicht.“
 
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Ich mag so richtig spannende, untypische Krimis/Fälle/Thriller. Das fängt wirklich spannend an und auch vom Inhalt her gefällt es mir bis jetzt ganz gut. Die Spannung dann besteht aber weiterhin nur, weil man halt wissen will, wie es weiter geht, aber nicht genug, dass die Geschichte einen so richtig fesselt, dazu liest es sich zu einfach und zu geordnet. An sich müsste das ganze noch ein Tick spannender und mysteriöser erzählt werden. Da fehlt mal so zwischendurch beim Lesen das packende, mitreißende. J. und Melissa sind noch sehr jung und manchmal für Polizeibeamte bisschen zu unschlüssig in Ihren Handlungen und Entscheidungen, aber das muss man mal noch abwarten, wie sich die zwei noch weiter verhalten.
Ja der Name J. war anfangs bisschen merkwürdig, aber dann fand ich es sogar gut, je öfter ich das gelesen hab und vor allem auch so englisch ausgesprochen. Das hat was cooles für einen Beamten, da er ja auch noch jung ist. Musste da auch dran denken, dass mich eine Freundin von mir auch immer nur mit meinen Initialen genannt hat und vor allem auch in Englisch ausgesprochen. War witzig und hat so gepasst.
So jetzt wieder zu Melissa und J. Beide haben ein Geheimnis, eine Angst vor irgendwas, vor Kirchen, vor früheren Erlebnissen? Sie können und wollen aber nichts darüber preisgeben, jeder hat wohl noch selbst damit zu kämpfen. Das müsste vielleicht auch noch geheimnisvoller von beiden öfters gedacht werden, gerade in den entsprechenden Situationen, aber ohne zu viel zu verraten. Das waren jetzt mal meine Gedanken beim Lesen bis jetzt. Mal sehen wie es weiter geht.


Fan-Tasia (08.07.2009)

Gefällt mir immer noch, dein mystischer Kriminalroman. Manchmal sind die Sätze allerdings etwas ungelenk. Leider habe ich nicht die Zeit, um im Einzelnen darauf einzugehen. Ich sage mir immer, ist jemand begeistert von der Geschichte, wird sich auch ein Lektor finden, der das Ganze korrigiert. Aber womöglich findet sich ja auch ein Leser, der gerade genügend Muße dafür hat. Insgesamt aber ist es eine tolle Idee, ist alles spannend erzählt. Es liest sich flüssig. Was mich ein wenig stört, ist, dass " J." mir als Name zu kurz erscheint, aber das ist wohl Geschmacksache.

Jochen (13.06.2009)

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