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10 Seiten

Die lange Suche

Romane/Serien · Nachdenkliches
„Es sind schlimme Zeiten und es sind die Letzten.“
Wie ein tobendes Echo hallten diese Worte durch seine Gedanken. Immer und immer wieder. Er hatte sie schon von so vielen Menschen an so vielen Orten gehört, dass er selbst beinahe daran glaubte. Aber das Schlimmste war nicht, was sie sagten, sondern dass, was er in den Augen der Menschen lesen konnte.
In ihren Blicken.
Hoffnungslosigkeit.
Ob Kranke oder Gesunde.
Aristokraten oder Bettler.
Ob es Suchende waren oder Verlorene.
Sie alle mochten verschiedensten Schichten angehören, hatten jedoch eines gemeinsam.
Sie hatten aufgegeben.
Doch noch gab es Hoffnung.
Vielleicht.
Und auch nicht für Alle.
Aber solange es auch nur für einen einzigen Menschen Hoffnung gab, lohnte es sich dafür zu kämpfen.
Oder zu sterben.
Er atmete tief durch.
Der Mond schien schwach auf Ephraim herab und betonte die Furchen und Falten in seinem Gesicht mehr, als ihm lieb war.
Er hatte seinen weinroten Umhang eng um sich geschlungen, um die Kälte wenigstens noch für eine Stunde fernzuhalten. Danach würde auch seine Körperwärme nicht mehr reichen, um ihm einen halbwegs erholsamen Schlaf zu schenken.
Sein Bein schmerzte. Mit jeder Stunde mehr. Und mit jeder Minute, die verstrich, spürte er den Sand aus seinen Händen gleiten. Spürte sein körperliches Versagen.
Der Suchende war dem Tode nahe. Näher als er es bisher jemals gewesen war. Und diesmal würde er dem Sensenmann nicht entkommen können.
Es war an der Zeit.
Vor fünf Monden war er in der Geisterstadt Evar Tan von einem Mutanten gebissen worden. Es war Ephraims eigene Schuld gewesen, weil er unvorsichtig war.
Weil er alt geworden war. Zu alt, um noch das hohe Ziel erreichen zu können.
Das war traurig und rührte ihn zu Tränen. Und obwohl er allein war, unterdrückte er sie. Ein Suchender weite nicht.
Ein Suchender gab niemals auf und kämpfte bis zum Schluss.
Ihm blieben vielleicht noch ein oder zwei Nächte.
Höchstens drei.
Aber auf keinen Fall mehr als vier.
Dann würde auch seine Suche nach einer Rettung für diese Welt auf immer vorbei sein.
Erfolglos.
Er lehnte sich gegen den harten Stein und versuchte, so bequem wie möglich zu liegen.
Es war Nacht geworden in der Wüste und es wurde Zeit zu schlafen. Ephraim hoffte, er würde diese Nacht nicht wieder von der Geisterstadt träumen, wie er es die Nächte zuvor getan hatte.
Und ein bisschen hoffte er auch, er würde am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen.
Beide Hoffnungen wurden nicht erfüllt.
Sein Traum raubte ihm wichtige Ruhe…

Die Stahlskelette der zerstörten Wolkenkratzer ragen wie gebrochene Riesenfinger in den grellen Himmel. An den kümmerlichen Überresten der Häuser wuchert mutiertes Fleisch.
Die Fleischberge pulsieren langsam und gleichmäßig.
Sie atmen.
Nur weil sie da waren.
Sich windende Tentakel mit spitz zahnigen Mäulern an den Enden wuchern aus den parasitenhaften Fleischklumpen. Sie suchen fieberhaft in den Rissen der Häuser und im Asphalt nach Moosen oder kleinen Insekten, die sie verschlingen können.
In einigen Wochen würde es sterben. Wenn man das Existieren vorher als eine niedere Art von Leben sehen wollte.
Für Menschen sind diese widerlichen Mutationen eher ungefährlich, außer man ist töricht genug, ihnen zu nahe zu kommen. Dann könnte es durchaus passieren, dass die Tentakel nach einem Menschen greifen und ihn auch tatsächlich umbringen.
Ephraim hielt genügend Abstand.
Er weigert sich daran zu glauben, dass diese wabernde Masse einmal etwas Menschliches gewesen sein soll.
Der Suchende hatte die Stadt nicht umgangen, weil er gehofft hatte, hier unmutiertes Leben oder Nahrung zu finden.
Noch wichtiger: Wasser.
Aber die Stadt ist eine Geisterstadt und rein menschliches Leben ist nur in vorm von ihm selbst vorhanden. Der Sand hat die äußeren Straßen und Häuserzeilen schon seit langem in Besitz genommen und in einigen Jahren würde die Evar Tan ganz der Wüste verfallen sein.
Hier regieren einzig und allein der Verfall und das Vergessen. So wie es in den meisten kuppellosen Städten der Fall ist.
Ruinen säumen die alten Straßen auf denen Horden von Halbmenschen ziellos umherziehen. Sie sahen Ephraim unverwandt an, bleiben kurz stehen, gehen dann aber weiter ihre zerstörten Pfade entlang. Manche von ihnen sehen ihn nicht einmal an, schienen sogar Angst zu haben, weil sie wissen mussten, dass er ihnen überlegen ist.
Vielleicht ahnen sie sogar etwas von seinen Fähigkeiten oder sie erkennen ihn gar als einen Suchenden.
Wissen um die Geschichten, die man sich über seine Art erzählt.
Aber wahrscheinlich haben sie einfach nur genug Verstand, ihn nicht anzugreifen. Er trägt seinen Dolch betont sichtbar, so wie er es immer tut, wenn er eine Geisterstadt betritt. Evar Tan bildet da keine Ausnahme.
In den Wüstenregionen und der menschlichen Kolonien sind Halbmenschen und zweibeinige Mutanten eher selten, solche Kreaturen hausen weitestgehend in alten Ruinenstädten wie dieser hier.
Es gibt in Evar Tan genügend Verstecke und Schatten. Und natürlich Nahrung in Form von Pflanzen und Wasser aus Brunnen in den Kellergewölben.
Als die Halbmenschen, die allesamt drei Beine dafür aber nur ein zyklopenhaftes Auge besaßen, in eines der Hochhausruinen verschwinden, bleibt Ephraim stehen. Aus einem ziemlich breiten Riss im Asphalt wächst ein Kaktus mit großen roten Blüten.
„Fein.“, sagt der Suchende zu sich und zückt seinen Dolch und ritzt tief ins Fleisch hinein. Dann nimmt er eine seiner leeren Wasserflaschen vom Gürtel und hält sie an die verletzte Stelle der Pflanze. Einige Augenblicke später fließt klares Wasser aus der Pflanze in seine Flasche. Es dauert eine ganze Weile bis sie voll ist, aber Ephraim hat Geduld.
„Wo gesunde Pflanzen sind, da gibt es auch Wasser.“, sagt er und verschließt die volle Flasche.
Gerade als er sie in seinen Gürtel gesteckt hat, läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Jetzt erst bemerkt er, wie nahe er den von Fleischparasiten befallenen Wänden gekommen ist.
Doch zu spät.
Ephraim ist al geworden.
Zu alt, um das hohe Ziel zu erfüllen.
Eines der bezahnten Tentakel schwingt sich um seine Hüfte und zieht ihn noch näher an den Fleischklumpen heran. Und noch ehe er seinen Dolch zücken kann, kriecht ein Anderes in sein Hosenbein und rammt ihm seine Zähne ins Fleisch.
„Scheiße!“, schreit Ephraim mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und durchtrennt mit seiner Waffe das erste Tentakel, das ihn umschlossen hat. Gleich danach das Zweite.
Dann stürmt er so schnell es geht auf die Mitte der Straße.
Das Blut, welches aus den Tentakeln der Mutationen fließt, wirkt seltsam menschlich. Der Suchende denkt nicht darüber nach, er will keine Schuldgefühle spüren.
Aber er weiß, dass der Speichel dieser Fleischhaufen giftig ist.
Sehr giftig.
Und darüber denkt er nach…

Entgegen seiner schwachen Hoffnung erwachte er am nächsten Morgen doch.
Schweißgebadet.
Und er spürte, dass er wieder schwächer geworden war.
In der Ferne sah er einen Schatten, der sich langsam auf ihn zubewegte.
Er setzte sich stöhnend auf und scharrte mit den Füßen im Wüstensand. Seinen roten Umhang legte er neben sich in den Sand und trank einen Schluck aus einer der Wasserflaschen, die er an seinem Gürel mit sich trug.
In sich selbst nach Hoffnung suchend beobachtet er die aufgehende Sonne.
Das rote Licht des anbrechenden Tages.
Wunderschön.
Zu Tränen rührend.
Und doch tödlich, wenn man die sengende Sonne nicht dann und wann mied.
Der Suchende dachte zurück an seine Ausbildungszeit in den fernen Bergen der Hochebene. Schon so lange her, dass es ihm wie ein Traum aus einer längst vergessenen Zeit vorkam.
Und genauso war es auch.

Ein schöner Traum, der sein Herz bluten ließ.
Ein Traum von Kindheit und Unbekümmertheit… die jedoch schnell aus seinen Augen verschwunden war.
Mit schwerem Herzen erinnerte er sich zurück an den Unterricht, den er als Suchender genießen durfte. Er hatte mehr gelernt, als die meisten anderen Menschen, trug durch dieses Wissen jedoch auch eine ungleich schwere Bürde.
Wissen bedeutete Macht, aber Macht bedeutete auch Verantwortung.
Selbst in dieser Zeit.
Der letzte Krieg vor unzähligen Generationen war verheerend gewesen. Biochemische Waffen brachten die Erde und das Leben auf ihr aus dem Gleichgewicht, machten ein normales Leben beinahe unmöglich. Ein einigermaßen komfortables Leben war nur noch in den neu errichteten Kuppelstätten möglich, draußen wartete früher oder später der Tot. Viele gingen ihren letzten Gang hin zu den Kolonien und Lagern, in denen sie dann starben. Viele freiwillig, andere wurden gezwungen, sobald sie ein erstes Anzeichen auf eine früher oder später tödliche Krankheit aufwiesen. Diejenigen, die freiwillig in die Lager zum kontrollierten Sterben kam, bekamen ein Kopfgeld, das ihren Familien und Angehörigen zugute kam um ihnen ein Leben in den Kuppelstätten ermöglichen sollte. So wurde es der Bevölkerung zumindest gesagt.
Die Welt außerhalb dieser Städte bedeutete den sicheren Tot.
Jedoch nur, wenn man nicht wusste, wie man in der Wüste überleben konnte.
Viele Menschen, die es sich nicht leisten konnten, in den neu erbauten Städten zu leben, mutieren oder starben. Einige jedoch passten sich den Gegebenheiten an.
Entwickelten über Generationen hinweg spezielle Fähigkeiten.
Und wurden so zu einer Legende.
Einer Hoffnung für alle anderen.
Und Ephraim war einer von ihnen.
Er war einer der wenigen Telepathen, die diese verseuchte Erde hervorgebracht hatte. Er war so eng mit der vergifteten Welt verbunden, das er Risse in der Realität erzeugen konnte, die in alternative Welten führten. Er war ein Teil einer postapokalyptischen Legende.
Ein Hoffnungsschimmer in den Augen der anderen Menschen.
Vielleicht war diese Hoffnung aber vergebens.

Der Schatten war näher gekommen.
Er hatte das Mädchen schon gesehen, bevor die Sonne als volle Kugel am morgendlichen Himmel stand. Lange bevor sie ihn bemerkt hatte.
Jetzt kam sie zielstrebig auf ihn zu.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie.
Sie war dünn, wahrscheinlich in eine der Kolonien geschickt worden und jetzt tat sie ihren letzten Gang.
Das Mädchen war ein Endgänger.
Das war traurig, weil sie noch so jung war. Eigentlich zu jung, um schon auf die letzte Reise zu gehen. Und wenn er sie sich so betrachtete, dann konnte er keine sichtbaren Symptome erkennen, die in irgendeiner Form hätten ansteckend sein können. Und in den meisten Fällen, waren die ansteckenden tödlichen Krankheiten von Anfang an sichtbar. Aber viele der in den Städten lebenden Leute wussten das nicht und hatten zu viel Angst vor eine Epidemie, um auch nur das geringste Risiko einzugehen.
Das Mädchen hatte schulterlanges, schwarzes Haar und grünrote Augen.
Ungewöhnlich.
Aber möglich.
Ihre Kleidung bestand aus nicht mehr als einem zerfetzten ehemals weißen T-Shirt und einer ausgewaschenen Jeans. Alles an ihr hatte die trostlose Farbe des Wüstensands.
„Hast du etwas Wasser?“, fragte sie schließlich, als sie nahe genug an Ephraim herangekommen war. Ihre Lippen waren rissig und ihre Stimme klang krächzend.
Sie brauchte Wasser um zu überleben.
Brauchte es dringend.
„Hast du was zum tauschen?“, hielt der Suchende entgegen. Er sah sie nicht direkt an, blickte stur in die aufgehende Sonne, trotzdem bekam er jede Bewegung und Gefühlsregung es Mädchens mit.
Sie stand eine Zeitlang neben ihm und sah ihn ratlos an. Dann weiteten sich ihre Augen etwas, als sie die sechs Wasserflaschen an seinem Gürtel bemerkte.
Schließlich begann sie zitternd ihre Hose zu öffnen.
„Mich.“, flüsterte sie.
Jetzt sah Ephraim sie das erste Mal direkt an, blickte in die außergewöhnlichen Augen des Mädchens.
Es waren schöne Augen.
Augen voller Hoffnung und Leben.
„Zieh dich wieder an und setz dich zu mir.“, sagte er ruhig.
Sie lächelte den Suchenden dankbar an und setzte sich neben ihm an den Stein.
Ephraim hielt ihr eine der vollen Flaschen hin. „Trink langsam.“
Das Mädchen nickte lächelnd und gehorchte. Offensichtlich war sie schon eine Zeit lang unterwegs, sie hatte den Geruch der Städte verloren und den der Wüste angenommen.
Ephraim gefiel dieser Duft weitaus besser. Selbst wenn ein Leben in der Wüste für die Meisten den Tot bedeutete, so war es für ihn doch ein Hauch von Freiheit.
„Es tut mir leid.“, flüsterte das Mädchen schließlich, als sie die ersten Schluckte getrunken hatte. Jetzt klang ihre Stimme wieder nach der eines jungen Mädchens. „Ich wollte dich nicht beleidigen.“
Der Suchende schüttelte langsam den Kopf. „Schon gut Kleine, hast du nicht. Es sind harte Zeiten.“ Er musterte sie. „Wie alt bist du?“
„Vierzehn.“, antwortete sie.
Er nickte nachdenklich. „Es gab schon viele, die sich mir wegen etwas Nahrung oder einem Schluck Wasser angeboten haben. Einige waren jünger als du.“
„Und bist schon mal auf ein Angebot eingegangen?“, wollte das Mädchen wissen.
„Nein.“, log der Suchende und trank ebenfalls einen Schluck Wasser. „Wie heißt du?“
„Nona.“, antwortete das Mädchen mit den ungewöhnlichen Augen.
„Ephraim.“
„Das ist ein Name aus den Hochebenen.“, stellte Nona freudig fest.
Der Telepath nickte. Er bemerkte, wie er von dem Mädchen aufmerksam gemustert wurde. Offensichtlich hatte sie Verdacht geschöpft, wagte aber nicht ihn zu fragen, ob er ein Suchender war.
Noch nicht.
„Gibt es Gott?“, fragte sie schließlich unvermittelt.
Ephraim sah sie verwundert an. „Warum fragst du mich das?“
Nona zuckte mit den Schultern, während sie noch einen Schluck Wasser trank und dann zufrieden ihre Lippen benetzte. „Ich weiß nicht, vielleicht weil ich mir nicht vorstellen kann, dass er das alles hier zulassen würde.“
Der Suchende rieb sich das Bein, bewegte es langsam vor und zurück. Es schmerzte immer mehr.
„Früher gab es ihn.“, antwortete er. „Heute ist er tot oder mutiert. Ersteres wäre besser für die Menschen.“
„Was ist mit deinem Bein?“ Ihre Worte klangen sorgenvoll, was ihn einerseits berührte, andererseits aber auch belustigte. Das Mädchen kannte ihn kaum und doch schien sie sich Sorgen um ihn zu machen.
Selten in dieser Zeit.
Selten, aber möglich.
„Ich wurde von einem giftigen Mutanten gebissen.“, antwortete Ephraim, während er sich weiter das Bein rieb. „Ich werde bald sterben.“
Das Mädchen sah ihn erschrocken an. „Das tut mir leid. Ich…“, stotterte sie und Ephraim stellte erstaunt fest, das sie mit den Tränen kämpfte. Ihre mitfühlende Art für Fremde war wirklich mehr als erstaunlich, wenn man bedachte, dass sie selbst ihren letzten Weg beschritt.
„Das muss es nicht.“, sagte der Telepath und lächelte das Mädchen an, während er ihr übers zerzauste Haar strich.

Während die Sonne ihren Lauf tat und die Zeit wie Sandkörner aus einer Hand fiel, wurde die Luft stetig wärmer und das brennende Licht der Sonne unangenehm.
„Ich bin auch krank.“, flüsterte das Mädchen nach einer Zeit des Schweigens.
„Ich weiß, sonst wärst du nicht hier.“, antwortete Ephraim. „Ich kenne deine Geschichte.“
„Woher?“ Nona sah ihn ungläubig an.
„Weil alle Geschichten gleich sind, in dieser vergifteten Zeit.“ Der Suchende sah gedankenverloren die blutverkrustete Klinge seines Dolches an. „Du wurdest in eine der Kolonien geschickt.“
„Ja, damit meine Eltern das Geld für mich bekommen.“ Ephraim sah, wie das Mädchen mit den Tränen kämpfte. Doch sie unterdrückte ihre Gefühle, was er bewunderte.
Sie war mutig.
„Glaub mir Kleine, es ist scheißegal, ob du dort ankommst oder nicht. Deine Eltern werden in beiden Fällen kein Geld sehen. Die wollen nur, das du kontrolliert stirbst.“
Erst sah ihn Nona entgeistert und auch etwas trotzig an, wollte ihm etwas entgegnen, ließ es dann aber doch. Dann wurde ihr Blick wieder nachdenklich und schließlich stellte sie die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge lag.
Auch das bewunderte Ephraim.
„Du bist ein Suchender, stimmt‘s? Ein Telepath.“
Der Mann nickte.
Wortlos.
Sie schwiegen eine Weile.
Hörten dem Wind zu.
Und hörten ihn weinen.
„Es werden viele Geschichten über euch erzählt.“, unterbrach Nona schließlich den Wind in seinem Trauerspiel.
Ephraim nickte wieder. „Einige von ihnen sind wahr. Andere nicht.“
„Es heißt ihr könntet die Welt retten.“, flüsterte das Mädchen. Ihre Stimme zitterte etwas. Und es schwang ein Hauch Hoffnung mit, der beinahe greifbar war. „Was ist mit dieser Geschichte?“
„Hoffnung gibt es immer. Aber nicht in dieser Welt.“, erwiderte Ephraim.
„Was soll das heißen?“
Der Suchende sah das Mädchen an. Sah in ihre so seltenen grünroten Augen und sah die wachsende Hoffnung.
Das war Grund.
Der einzige Grund, weswegen er unterwegs war.
Hoffnung.
„Es gibt noch andere Welten als diese.“, sagte er schließlich.
„Dann stimmt es also.“, sagte Nona sah ihn vergnügt lächelnd an.
„Was?“
„Das ihr zwischen den Welten reisen könnt. Das ihr Portale erschaffen könnt.“
„Ja.“, bestätigte der Telepath. „Aber es ist sehr schwierig und kostet unheimlich an Kraft.“
Er schwieg eine Weile und lauschte wieder dem Wind.
Diesmal sprach er vom Tod.
Von seinem Tod.
Ephraim hatte schon soviel gesehen.
Vielleicht zu viel. Und doch nicht einmal einen Bruchteil von dem, was diese Welt und die vielen anderen zu bieten hatten.
Er war dem Tode geweiht.
Das Gift wirkte viel zu schnell.
„Ich bin am Ende, Nona.“, sagte er schließlich und als sie etwas sagen wollte, da hielt er ihr einen Finge an den Mund und schloss die Augen.
„Sei nicht traurig Kleine, meine Zeit ist vorbei.“ Dann öffnete er die Augen wieder. „Aber ich werde dich nicht hier zurücklassen… Nicht an einem Ort wie diesem.“
Er sah das Mädchen an.
Das Mädchen mit der Hoffnung in den grünroten Augen.
Sie weinte.
Schweigend.
Und Ephraim strich ihr durchs Haar. Küsste sie auf die Stirn und spürte ihr Verlangen nach Leben.
Er versuchte sie zu trösten und sie dankte ihm dafür.
Danke ihm mit einem Lächeln und ihren Tränen.
„Es gibt nur noch wenige Telepathen hier.“, sagte er schließlich während Nona sich die Tränen aus den Augen wischte. „Viele von uns sind in besseren Realitäten geblieben. Sie haben unsere Mission verraten, den Schwur gebrochen und das hohe Ziel vergessen.“
„Und du?“, fragte Nona leise. Die Tränen hinterließen Spuren auf ihrem jungen Gesicht. In diesem Moment erkannte Ephraim, das sie kein Kind mehr war. „Warum bist du noch hier?“
„Weil das hier meine Welt ist.“ Der Telepath richtete sich stöhnend auf und bat Nona mit einen Handbewegung, es ihm gleich zutun.
Sie stand ebenfalls auf.
Dann sprach der Suchende weiter. „Und auch wenn alles ständig im Wandel ist, die Zeit einerorts stillsteht und woanders Sprünge macht. Auch wenn diese Welt unter unseren Füßen verdorrt, so ist es doch die meine. Die einzige, in der ich sterben will.“
Dann nahm er Nonas Hand und drückte sie.
Sie standen nebeneinander und sahen in die brennende Sonne.
Beide hatten Tränen in den Augen.
Sie waren miteinander verbunden, nicht nur dadurch, dass sie sich an den Händen hielten.
Ephraim gab ihr in diesem Moment etwas und Nona spürte es, sagte aber nichts.
„Es ist Zeit… ein letztes Mal.“, flüsterte der Suchende.
„Für was?“, hauchte das Mädchen.
Ephraims Augen schimmerten nun in einem tiefen rot und die Welt um die beiden begann auf sonderbare Art zu verschwimmen, als er dem Mädchen antwortete.
„Um das Portal zu öffnen.“
Die Umgebung um sie herum, wurde unwirklich, als wäre sie nur skizzenhaft auf ein vergilbtes Blatt Papier gemalt worden. Dann entstand unter lautem Summen ein Riss etwa zwei Meter vor den beiden. Als würde jemand mit einem Messer in eine Leinwand ritzen. Zuerst war er etwa nur einen Zentimeter breit, doch bald wuchs er soweit an, das ein erwachsener Mann mühelos hätte hindurch gehen können. Aus dem Riss in der Welt, aus dem ein gleißend helles Licht drang, hörte man leise und zaghaft blubbernde und rauschende Geräusche erklingen.
Beinahe klang es wie Flüstern.
In Luft geritzt.
Ein Loch im hier und heute.
„Was ist das?“, fragte Nona mit bebender Stimme immer noch die Hand des Telepathen haltend. „Es ist so…“
„Das ist das Portal.“, antwortete Ephraim mit schwacher Stimme. Als Nona das bemerkte drehte sie sich erschrocken zu dem Suchenden um. Blut tropfte aus seiner Nase und er war erschreckend blass geworden. Seine Beine zitterten und schließlich sank er kraftlos auf die Knie. Scheinbar verlangte ihm das Erschaffen des Portals mehr Kraft ab, als er noch zur Verfügung hatte.
„Ich weiß nicht, was dich auf der anderen Seite erwarten wird, Kleine.“
Sein Atem ging rasselnd, als er die Hand des Mädchens losließ und seinen Dolch aus dem Halfter zog. Dann reichte er die Waffe zitternd dem Mädchen.
„Nimm.“, sagte er. „Ich hoffe nicht, dass du ihn brauchen wirst. Aber…“
Diesmal war es Nona, die ihn unterbrach. „Ich verstehe.“, sagte sie und nahm den Dolch an sich. Die Klinge war verkrustet mit altem Blut, doch der Griff glänzte strahlend Gold, als wäre er regelmäßig geputzt worden.
„Aber was wird jetzt mit dir?“
Nonas seltsam gefärbte Augen waren tränennass, als sie sich zu Ephraim nieder kniete, der nun schwach und schwer atmend auf dem heißen Wüstenboden lag. Aus seinem Mund floss ein dünnes Rinnsal Blut, welches gierend schnell vom vertrockneten Boden aufgesaugt wurde.
„Meine Zeit hier ist vorbei.“, hauchte er. Dann sprach er röchelnd seine letzten Worte. „Gehe hindurch und suche nach Hoffnung. Ich habe dir nicht nur den Dolch gegeben…
Es gibt noch soviel mehr.
Solange es Menschen wie dich und mich gibt, gibt es auch Hoffnung. Sogar in dieser schlimmen letzten Zeit.“
Dann blieb sein Mund für immer geschlossen…

…und die Augen des Suchenden sahen ausdruckslos das Mädchen an, welches neben ihm weinte.
„Ich weiß.“, schluchzte sie und schloss zärtlich seine Augen. Dann küsste sie ihn auf die von Falten durchzogene Stirn und stand auf.
Sie verneigte sich vor ihm.
Schweigend.
Ehrfürchtig.
Und dankbar.
Als sie sich umdrehte, sah sie in den leuchtenden Riss vor ihr und ging langsam darauf zu. Das Grollen und Murmeln im Inneren des Lichts wurde lauter.
Neu. Ungehört.
Verführerisch.
Sie ging näher heran.
„Es sind schlimme Zeiten und es sind die Letzten.“, flüsterte das Mädchen, das ihre Stadt vor vielen Tagen verlassen hatte, um ihren letzten Weg in den sicheren Tot zu gehen.
Jetzt ging sie diesen Weg weiter…
…um zu leben.
„Aber solange es die Menschen gibt, gibt es Hoffnung. Auch in dieser schlimmen letzten Zeit.“, flüsterte sie, als sie die Augen schloss und durch das Portal trat.
Nona ging ins Nichts hinein.
Verließ die Wüste.
Verließ ihre Welt…
(…diese Ebene des Turms, wenn wir in einer anderen alternativen Realität wären...)
…und ging hinüber in eine Andere.
„Danke Ephraim. Danke für dein Geschenk.“
Als das Summen und Flüstern leiser geworden war, öffnete Nona die Augen.
Sie atmete tief ein, es roch nach regennassem Gras, und sie sah…
…Hoffnung (?)


("Die lange Suche" ist der vierte Teil einer längeren Geschichte.
Teil 1: Wüstenballade
Teil 2: Javen
Teil 3: Endgänger)
 
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Kommentare  

Wirklich sehr spannend, geradezu unheimlich. Einfach gelungen.

Jochen (18.07.2009)

Das ist eine wirklich anrühende Geschichte. Die ganze Atmosphäre kommt detailgenau herüber. Ich für meinen Teil könnte die verfallende Stadt, die Angst und die Verwüstung nahezu riechen.
Ich bin sehr an "Der dunkle Turm" erinnert. Übrigens einer meiner absoluten LIeblingsgeschichten.
Deswegen gefällt sie mir um so mehr.


Barbara Saskat (17.07.2009)

Hallo gedanke.in.ketten, ich muss wegen der Fortsetzung lachen. Ich würde sie mir zwar wünschen, aber Du hast das Ende mit dem nur einzigen Wort "Hoffnung" und dem Fragezeichen so gut dargestellt. Zum einen lässt es die Frage offen, ob es denn jetzt Hoffnung dort gibt und auch, ob es denn, wann auch immer, überhaupt eine Fortsetzung gibt. Da lässt Du Dir selbst die Freiheit und das find ich sehr erstaunlich gut das Ende. Überhaupt hast Du sehr gute Ideen von Anfang an und auch jetzt hier mit dem Portal zur anderen Seite und dem Riss in der Welt. Aus ursprünglich nur einer "kleinen" Geschichte baust Du ringsrum eine komplette Fortsetzungsgeschichte in Einzelteilen weiter, die wunderbare aufeinander abgestimmt sind. Und jeder Teil hat auch noch einen anderen Titel. Das find ich mal wieder was ganz anderes und originelles in der Literaturwelt und vor allem mit Sinn und Verstand geschrieben.

Fan-Tasia (16.07.2009)

Interessant und sehr schön spannend. Lebensechte Atmosphäre trotz aller fantastischen Dinge, die in deiner Welt geschehen. Man wird richtig neugierig auf das, was als Nächstes kommen wird.

doska (16.07.2009)

Oh, danke dir Fan-Tasia. Ich fühl mich richtig geehrt!
Ne Fortsetzung wird sicherlich kommen. Irgendwann... denn zur Zeit hab ich nur ne sehr vage Vortsellung, wies weitergehen soll. Na, mal sehen...
LG


gedanke.in.ketten (15.07.2009)

In seiner ganzen Grausamkeit und Traurigkeit, die das innehat, liest es sich aber auch noch so schön poetisch. Ich bin von den ganzen Teilen angetan und begeistert. Dem melancholischen, traurigen, nachdenklichen gibst Du mit Deiner Schreib- und Ausdrucksweise, die ich sehr schön finde, die ganz besondere Note. Das ist die perfekte 4. Fortsetzung und hat einen schönen Übergang dazu. Ich finde jedenfalls, daß alle Teile nur so in der vorgesehenen Reihenfolge zu lesen sein sollten und keiner getrennt, wegen dem Zusammenhang und Verständnis. Denn es wäre schade, wenn man nicht die ganze Geschichte, was alles vorangegangen ist, dazu kennt. Mit dieser Reihe ist Dir was sehr Gutes gelungen und ich bin gespannt auf eine weitere Fortsetzung.

Fan-Tasia (15.07.2009)

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