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4 Seiten

Ein Zettel zum Glück

Kurzgeschichten · Romantisches
© Gabi Mast
„...Get your kicks on Route 66...“, sang Natascha gröhlend mit den anderen mit und wiegte sich dazu im Takt. Mehr war nicht möglich, die urige Kneipe war brechend voll und an ein Umfallen war nicht zu denken. Wie alle anderen Lokale in dieser Nightgroove-Nacht. Einmal im Jahr taten sich über zwanzig Kneipen in Pforzheim zusammen und veranstalteten dieses tolle Musikereignis. Lifemusik in jeder Kneipe und mit dem roten Armband, das man ganz zu Beginn bekommen hatte, hatte man Zutritt zu jedem der Konzerte. Die Band hier in diesem Lokal coverte all die Oldies, die Natascha aus ihrer Kindheit kannte. Es war die Lieblingsmusik ihrer Eltern, sie lief ständig zu Hause und so kam es, dass die junge Frau jedes der Lieder mitsingen konnte.
„Komm’, lass uns gehen“, nörgelte ihr Freund Holger. „Ich will in den irischen Pub.“
„Ach nee, jetzt warte noch ‚ne Weile, ich find die Musik hier so klasse.“
„Ich aber nicht. Ich will die Iren hören.“
„Bitte, noch ‚ne halbe Stunde, ja?“
„Nee, ich hör’ mir diesen alten Mist nicht länger an.“ Typisch Holger. Alles musste immer nach seiner Schnauze gehen. Und normalerweise gab Natascha immer nach. Aber heute nicht. Nein, sie hatte jetzt wirklich keine Lust auf irische Sauflieder. Vor allem hatte sie keine Lust, nach Holgers Pfeife zu tanzen. Wenn sie ehrlich war, ging er ihr in den letzten Monaten nur noch auf die Nerven. Wann hatten sie sich das letzte Mal nicht gestritten? Natascha reagierte einfach nicht mehr auf Holger und widmete sich ganz der Musik.
„... Unchain my heart, baby let me be, Unchain my heart, cause you don’t care about me, you got me sewed up…”
Erstaunlicherweise war Holger immer noch da. Natascha wand sich einfach ab von ihm, sie würde sich nicht die ganze Nacht seine beleidigte Fratze anschauen. Mehr noch, sie würde Schluss mit Holger machen. Gleich morgen. Irgend etwas schien ihr den Rücken zu stärken.
Was heißt hier schien? Es war unglaublich. Da umfassten zwei Arme sie fest von hinten und ein starker Körper wiegte mit ihr im Takt. Die ganze Zeit musste das schon so sein.
Das gibt’s doch nicht. Natascha versuchte, sich umzudrehen, aber dies wollte ihr aus Platzmangel nicht gelingen. Nur ein klein wenig den Kopf... Was sie sah, war umwerfend. Aus welchem Werbespot war denn dieses strahlende Etwas Mann entlaufen? Und ehe sie sich versah, hatte der freche Kerl sie einfach auf die Wange geküsst. Unverschämt, Natascha hatte ihn noch nie gesehen. Hilfesuchend blickte sie sich um zu Holger – aber der war nicht mehr da.
Natascha befreite sich aus den starken, wohltuenden, aber leider fremden Armen und drängelte sich aus dem Lokal. Draußen sog sie zunächst einmal ein paar Züge frischer Luft ein. Sie taten gut, befreiten sie aber nicht aus ihrem Dilemma. Was sollte sie tun? Holger im irischen Pub suchen? Sinnlos. Sie würde ihn in dem Gedränge nie finden. Außerdem hatte er sie schließlich stehen lassen. Wieder hinein gehen zu dem fremden Mann? Genauso aussichtslos, denn sie würde nicht mehr durchkommen. Außerdem kannte sie ihn ja schließlich nicht.
Natascha entschloss sich, zum Spanier zu gehen und sich diese Latinogruppe anzuhören. Holger hatte gleich von vorn herein abgelehnt, dort hinzugehen. Aber Holger gab es nicht mehr. Es gab nur noch Natascha.
Und diese Natascha genoss die Kneipennacht ganz alleine. Sie besuchte noch viele Lokale, hörte sich alle Arten von Musik an und fand jede toll. Und ab und zu bildete sie sich ein, ein strahlendes Gesicht irgendwo zu erkennen.
Mit Holger machte sie gleich am nächsten Morgen Schluss. Er rief sie an, um sich bei ihr zu beschweren, weil sie gestern nicht mit ihm gegangen war. Und Natascha erklärte ihm ganz sachlich, dass sie ab jetzt nirgendwo mehr mit ihm hingehen würde. Komisch, es tat überhaupt nicht weh.
Am Nachmittag entschloss sich die junge Frau zu einem langen Spaziergang im nahe gelegenen Wald. Die ganze Nacht stickige Kneipenluft war sie nicht gewohnt. Obwohl es nicht wirklich kalt war, vergrub Natascha die Hände tief in die Jackentasche und...
„Ruf’ mich an!“ stand auf dem Zettel und darunter eine Handynummer. Da hatte doch dieser freche Kerl ihr einen Zettel in die Tasche gesteckt. Und sie hatte nichts gemerkt. Ob sie wirklich anrufen sollte? Sie konnte doch nicht einfach einen wildfremden Mann anrufen. Obwohl, schließlich hatte sie eine ganze Weile in den Armen dieses wildfremden Mannes verbracht. Und gar nicht schlecht. Während des ganzen Spaziergangs überlegte Natascha, was sie tun sollte. Eigentlich kam sie zu dem Schluss, nicht anzurufen. Schließlich hatte sie grade heute früh eine Beziehung beendet und da war es nun wirklich zu früh, gleich wieder mit dem nächsten anzubändeln.
Zuhause angekommen, legte Natascha den Zettel auf den Couchtisch neben ihr Handy.
Sie war fest entschlossen, nicht anzurufen, und schon tippte sie die Nummer in ihre Tastatur. Es klingelte nur einmal, der Angerufene musste auf diesen Moment gewartet haben.
„Hallo Natascha...,“ meldete er sich, noch bevor die junge Frau etwas sagen konnte. Sie erschrak und legte auf. Woher kannte der Mann ihren Namen? Ihr wurde unheimlich. Jetzt klingelte ihr Telefon. Sie zögerte, wollte nicht abnehmen, konnte aber irgendwann das Dauerklingeln nicht mehr ertragen.
„Ja...?“ hauchte sie vorsichtig in den Hörer.
„Nicht wieder auflegen, ich kann doch nicht den ganzen Tag die Wahlwiederholung drücken,“ lachte es durchs Telefon.
„Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Ich kenne nicht nur deinen Namen, ich kenne dich schon viele Jahre und du mich auch.“
„Quatsch. Ich kenne Sie nicht. Woher denn auch?“
„Das verrat ich dir, wenn du mit mir Essen gehst heute Abend.“
„Spinnen Sie? Sie machen mir Angst.“
„Angst? Das will ich natürlich nicht. Wenn ich dir verrate, dass wir alte Schulkameraden sind, triffst du dich dann mit mir heute Abend?“
„Schulkameraden? Das glaub’ ich nicht.“
„Dann geh’ aus mit mir heute Abend. Ich werd’s dir beweisen. Beim Italiener an der Hauptpost?“
„Okay.“
Während Natascha sich vor dem Kleiderschrank das passende Outfit für den Abend zusammenprobierte, zermarterte sie sich den Kopf über alle ehemaligen Schulkameraden. Unmöglich, sie hatte sie alle durch und es gab keinen, der auch nur annähernd so gut ausgesehen hätte wie dieser Kerl. Bestimmt war das ein Trick, um sie kennen zu lernen. Klar, Holger hatte sie bestimmt mit Namen angesprochen und der Fremde hatte das gehört. Eigentlich, dachte Natascha, sollte ich da nicht hingehen. Aber sie freute sich viel zu sehr auf das Rendezvous mit dem schönen Mann.

Das Essen war, wie immer, ausgezeichnet. Aber nicht nur das, die beiden jungen Leute verstanden sich außerordentlich gut und der Kellner hatte eine wahre Freunde, zwei so gut gelaunte Menschen zu bedienen. Na, wenn die mal nicht über beide Ohren ineinander verknallt waren, verreit ihm seine Menschenkenntnis.
„Und du bist wirklich Simon Wagner, die Bürste?“
„Ja, das bin ich. Meine Frisur war damals zugegebenermaßen nicht grade der Hit.“
„Nee, aber deine Zahnspange und deine Brille.“ Natascha kicherte.
„Na ja, mit dir konnte ich natürlich nie mithalten. Warst du nicht die Kleine mit den Rattenschwänzen und den ständig an den Knöcheln hängenden Kniestrümpfen?“ Auch Simon lachte, aber sein Blick verriet, dass Natascha ihm außerordentlich gefiel. Er hatte alte Fotos aus der Schulzeit dabei und rückte beim Anschauen ganz dicht an Natascha heran. Wie selbstverständlich legte er den Arm um sie. Und sie ließ es sehr gerne geschehen.
„Na ja, ich finde, wir haben uns ganz ordentlich gemacht. Ich hätte dich niemals wieder erkannt.“
„Ich hab’ dich sofort erkannt, Natascha. Du warst schon immer sehr hübsch, aber am Samstag hat’s mich regelrecht umhauen.“
„Ach, und deshalb musstest du dich so an mir festhalten?“
„Genau. Nein, im Ernst, ich wollte dich ansprechen, aber dann war da dieser Sauerkohl, den du dabei hattest, da dachte ich, ich lass’ es lieber.“
„Aber nachher. Da hättest du doch mit mir sprechen können. Holger hat sich doch recht bald aus dem Staub gemacht.“
„Na ja, da hatte ich mich für eine andere Art der Kommunikation mit dir entschieden. Und die hat mich so verwirrt, dass es mir die Sprache verschlagen hat.“
„Spinner.“
„Verliebter Spinner, bitte. Wir wollen doch bei der Wahrheit bleiben.“ Simon schaute Natasche tief in die Augen. Und sie schaute zurück. Genauso verliebt. Holger hätte so was niemals getan, aber dieser Simon küsste sie mitten im Lokal.
„Ich glaube, wir sollten jetzt gehen,“ bat Natascha.
„Du hast recht. Was wir uns jetzt noch zu sagen haben, geht keinen anderen was an.“
Der Kellner freute sich über das reichliche Trinkgeld, aber auch darüber, dass sich diese außerordentlich sympathischen jungen Menschen gefunden hatten. Sicher würden sie seine Stammgäste werden.
 
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Kommentare  

Hallo Petra, hallo Doska

ich sage mal herzlichen Dank für die positiven Kommentare. Ich freue mich, dass meine Geschichte gefallen hat.


Gabi Mast (17.04.2010)

Da sieht man mal wie gut es ist, dass wir schreiben und lesen können. Schön auch, dass sie den Zettel noch rechtzeitig in ihrer Manteltasche entdeckt und ihn nicht etwa gedankenlos zerknüllt oder gar weggeworfen hatte. Tja, so kann manchmal ein kleines winziges Stückchen Papier eine sehr wichtige Bedeutung haben. Gute Story.

doska (16.04.2010)

Eine kleine amüsante Kennenlerngeschichte. Hat mir sehr gut gefallen.

Petra (14.04.2010)

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