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3 Seiten

Verloren

Trauriges · Kurzgeschichten
© Gabi Mast
Als Tina den Schüssel in der Haustür hörte, rannen die Tränen unwillkürlich noch schneller auf den ohnehin schon völlig durchnäßten Teddybären.
Der kleine Körper rollte sich noch enger unter der Bettdecke zusammen und Tinas Magen rebellierte noch heftiger als bisher.
Jedoch, sie wusste, es würde nichts nützen; das Unvermeidliche würde sich ereignen, wie immer, wenn der Vater aus der Kneipe kam.
Schon ging die Tür auf und das Licht an, und er kam – wortlos wie immer – auf ihr Bett zu. Wieder hatte er diese Zeitschriften dabei, in denen diese widerlichen nackten Frauen abgebildet waren. Auch den Photoapparat brachte er jedes Mal mit. Und was war das?
Es war eine Figur, die so aussah wie das ekelhafte Ding, das sie immer in den Mund nehmen musste und aus dem dann diese stinkende weiße Brühe floss. So sah es aus, bloß ohne Mann dran.
Ehe Tina weiter nachdenken konnte, hatte er schon die Decke vom Bett gezogen und ihr das Nachthemd von Leib gerissen. Das tat er jedes Mal, und irgendwann lag dann wieder ein neues im Zimmer.
Seine Befehle waren knapp. Er zeigte ihr Bilder, und sie musste dann so posieren wie die Frauen dort. Das Surren des Blitzlichts untermalte dieses grauenvolle Ritual. Es wurde lediglich übertönt von der erbarmungslosen Hand des Vaters, die zuschlug, sobald eine Stellung nicht zu seiner Zufriedenheit ausfiel.
Tinas Herz raste. Angst und Ekel ließen den kleinen Körper erschaudern. In ihrem Kopf nur ein Gedanke. "Hoffentlich lässt er bald von mir ab." Das Martyrium schien kein Ende zu nehmen. Jetzt legte er den Photoapparat aus der Hand und kam näher.
Sein Atem roch nach Alkohol und sein Körper nach Schweiß. Er fasste sie an – überall. Es schienen tausend Hände zu sein, die sich auf Tinas kleinem Körper breit machten. Sein Stöhnen wurde immer heftiger und das kleine Mädchen wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er daran ersticke. Ihr war, als ob ein grässlich wild gewordenes Tier sie anfiel und sie wartete auf den Moment, da es ihr den tödlichen Biss versetzte.
Ihr Kopf befahl ihr, sich zu wehren, aber der geschundene Körper gehorchte nicht. Tinas größter Wunsch war, endlich die Besinnung zu verlieren und nichts mehr mitzukriegen. Sie spürte, wie ihre Schenkel auseinandergedrückt wurden und dann – dieser unbeschreibliche Schmerz. Ihr ganzer Körper schrie – aber es war kein Laut zu hören.
Tina hatte panische Angst. "Nur jetzt nicht schreien", hämmerte sie sich ein. "Nur jetzt nicht schreien, sonst erschlägt er dich bestimmt." Sie konnte sich nicht vorstellen, was er ihr getan hatte, es war einfach zuviel für das kleine Wesen. Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen. Das Ungeheuer vor ihr verlor seine Umrisse und verschwand schließlich ganz. Sie war endlich in Ohnmacht gefallen.
Als Tina wieder zu sich kam, war sie allein. In ihrem Bauch tobte der Schmerz. Als sie fähig war, sich zu bewegen, sah sie das Blut.
Eine unbeschreibliche Wut erfasste sie. Das sichere Gefühl: "Das hätte er bestimmt nicht tun dürfen", war plötzlich da und zwang sie zum Handeln.
Er würde jetzt schlafen; das wusste sie genau. Er schlief immer, denn er hatte noch nie mitgekriegt, wie sie jedes Mal hinterher aufs Klo ging, um sich zu übergeben.
Sie zog die Sachen von gestern an, schlüpfte in ihre Hausschuhe und wickelte ihren Teddybären in ein Tuch. Dann schlich sie sich aus dem Haus und lief, so schnell sie konnte, weg.
Weg von zuhause, weg vom Dorf, einfach weit weg. Keuchend kann sie nach einer Weile an einem Zaun an. Sie musste eine Pause machen. Ihr Bauch tat immer noch schrecklich weh, aber das war jetzt Nebensache.
Da stand sie nun mit ihren fünf Jahren – ganz alleine – mit ihrem Teddybären. Sie stützte sich an den Zaunpfahl. In ihren Augen stand immer noch Angst geschrieben. Sie wurde sich bewusst, dass sie einfach weggelaufen war.
Was sollte sie jetzt tun? Zu wem sollte sie gehen? Sie kannte doch niemanden. Außerdem war hier weit und breit kein Mensch zu sehen.
Langsam veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Die Gedanken wurden klar; Entschlossenheit verdrängte die Angst.
Sie wollte keinen Menschen treffen. Sie musste hier weg, denn da war ein Weg und da konnte jeden Moment jemand vorbeikommen. Sie hatte beschlossen, dass keiner sie jemals finden würde.
Da, vor ihr, lag ein Wald. Da würde sie ein Plätzchen finden, wo sie sich verstecken konnte. Sie packte ihren Teddy aus dem Tuch und drückte ihn liebevoll an sich. Er war immer noch ganz nass. Fürsorglich wickelte sie ihn wieder ein, diesmal so, als wäre es ein Baby.
Tina hatte jetzt nicht mehr das Gefühl, alleine zu sein. Sie lief in den Wald hinein, ganz tief. Überall suchte sie nach einem Versteck. Keines schien ihr sicher genug.
Stundenlang irrte sie herum, bis sie endliche den Platz gefunden hatte, den sie suchte. Hier würde sie keiner finden.
Als man sie dann doch fand, konnte ihr keiner mehr etwas zuleide tun.
©1993 Gabi Mast –www.vonGabi.de
 
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Kommentare  

Eine sehr mitreissende traurige Geschichte! Da kommen Einem fast die Tränen. Sehr gut beschrieben. Gruß Sabine

Sabine Müller (17.05.2006)

Kleiner Tipp: Erfrieren ist wie einschlafen. Es tut nicht weh und man hat manchmal sogar schöne Visionen. Es würde deiner Geschichte gut tun, wenn sie im Winter spielte. (anfangs zitterte sie noch aber dann fühlte sie sich leicht...so leicht...usw.) Das hätte das traurige Ende für den Leser leichter gemacht.

Persönliche Meinung: gut!
Schade, dass sie nicht einen Abstecher in die Küche machte und was langes, funkelndes aus der Schublade holte und damit zu Vati...so ein Küchenmesser quer über die Kehle...
(aber das sind persönliche Wünsche eines, der als Kind selber betroffen war).
5 Punkte.


Stefan Steinmetz (26.06.2004)

Solche Typen wie der Vater lösen bei mir immer großes Unverständnis und Wut aus.
Warum tun die das?
Wenn das Mädchen schon nicht von lieben Menschen aufgenommen wird und allmählich wieder Kind sein darf, sollte doch zumindest dieser besoffene Kinderschänder festgenommen und hart bestraft worden sein.
Zumindest sollte in Geschichten das Empfinden der normalen Menschen, mit der Festnahme solcher Typen, befriedigt werden.
Die Realität ist ja leider anders.
Du beschreibst die Szenerie gut, soweit ich das beurteilen kann. Kann alles nur mit Filmszenen und Zeitungsberichten vergleichen. 5 Punkte


NewWolz (29.02.2004)

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