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2 Seiten

zerrissen

Trauriges · Kurzgeschichten
Der letzte Sonnenschein des Tages, Hand in Hand mit dem steten Rascheln der Blätter der Laubbäume. Amseln, Mönchsgrasmücken sowie auch Blau – und Kohlmeisen zwitscherten ihre Melodien in den Wald hinein. Es herrschte eine heitere Harmonie. Wie an jedem Tag. Damals zumindest.
Dann – ein Geräusch, als würde ein Regentropfen auf die Erde fallen. Sofort herrschte Stille. Man konnte geradezu sehen, wie das Schaudern einen Baum nach dem anderen ergriff.
Es war eine Träne. Das wussten alle im Wald.
Und erst jetzt, wo Stille eingetreten ist, hörte man ein leises Schluchzen. Vorsichtig blickten die Augenpaare in die Richtung, aus der die Töne kamen. Da war eine junge Frau in einem dunkelgrünen, zerrissenen Kleid und einem roten Samtbeutelchen, das sie sich um die Taile gebunden hatte. In ihrem tiefroten, zerstruppten Haar hingen kleine Äste und Blätter. Sie sass auf dem Boden, hatte die Beine angewinkelt und die Stirn auf die Knie gelegt. Eine quälend lange Flucht lag hinter ihr, soviel war klar.
Ihr in der Abendsonne sanft schimmernder Körper war mit Schnitten überseht. Blut lief ihr langsam an den Beinen und an ihrer Wange herunter. Meine Seele blutet, dachte sie traurig. Trotzdem gewann sie wieder etwas Fassung und nahm ihren geliebten Kräuterbeutel in die noch zitternden Hände. Aus diesem nahm sie ein paar Pflänzchen, mit denen und mit etwas Wasser sie auf einem Stein eine grobe Salbe machte, die sie sich auf die Schnitte reibte.
Es wurde dunkel. Sie suchte Schutz zwischen ein paar jungen, eng beieinanderstehenden Buchen, bevor die vollkommene Schwärze ihre Augen erblinden liess.
Noch immer war es ruhig im Wald. Alles Leben spürte, dass etwas anders war, dass etwas nicht stimmte, sich verändert hat. Und ihr Gespür wurde bestätigt, als vom Waldrand her plötzlich ein flackerndes, tanzendes Licht diesen Teil des Waldes durchflutete. Jemand hatte ein Feuer gemacht, ein riesiges, wie es schien. Jetzt Schreie. Schreie voller Schmerz. Viele Minuten lang. Von Schrecken erfüllt krabbelte die Frau weiter in die Baumgruppe hinein, stets darauf achtend, dass die Wunden den Boden nicht allzu sehr berührten.
Eine Ewigkeit, so schien es ihr, zerrissen die Schreie die Stille des Waldes, wie tollwütige Höllentiere, bis beinahe wieder Stille herrschte.
Abermals benetzte eine Träne den Waldboden.

Man schrieb das Jahr 1272.
Die erste Hexenverbrennung hatte stattgefunden.
 
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Kommentare  

Vielen vielen Dank für eure Kommentare!
Es ist ermutigend, wenn man weiss, dass es Leute gibt, denen meine Geschichten gefallen.


Nakita Kallehave (31.07.2010)

Kann mich nur anschließen. Ergreifender Text. Diese kurze Episode sagt mehr aus als mancher langer Text. Superschöner Satzbau, romantische Beschreibung der Umgebung und knallharte hochdramtische Darstellung, der grässliche Situation dieses Mädchens. Ganz ausgezeichnet.

Jochen (29.07.2010)

Gefällt auch mir. Schön, wie du uns, in dieser kurzen Episode, zunächst aufs Glatteis führst, indem du romantisch- verträumt beginnst, doch dann tritt die Wahrheit immer krasser zutage. Wunderschöne hochdramatische, bitterböse Kurzgeschichte. Man fühlt sich versetzt ins Mittelalter und möchte am Liebsten helfen.

Petra (29.07.2010)

Tolle atmosphärische Dichte, schöner federleichter Schreibstil. Du lässt den Leser zunächst ganz langsam in das Geschehniss einsteigen und dann bringst du die volle Dramatik. Erst am Schluss weiß man eigentlich worum es hier geht. Das trifft den Leser mitten ins Herz. Sehr gelungen. Ich bin ganz begeistert.

doska (28.07.2010)

Auch für diesen Kommentar möcht ich mich bedanken, Jingizu. Und ja, du hast recht, wenn du du schreibst, dass man daraus noch mehr machen kann. Es ist ein grosses Thema. Vllt folgt eine Fortsetzung.

Nakita Kallehave (28.07.2010)

Eine wunderbar beschriebene Momentaufnahme. Es klingt wie eine Einführung zu einem längeren Text - und falls es das nicht ist, kann das ja noch werden.

Die Thematik bietet zumindest noch viel Potential.


Jingizu (27.07.2010)

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