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4 Seiten

Montag (II)

Romane/Serien · Amüsantes/Satirisches
© Isa Belle
7:00. Der Wecker klingelt, aber ich brauche ihn nicht. Ich bin nämlich seit anderthalb Stunden wach und habe krampfhaft versucht, mich in eine Position zu bringen, bei der mich mein neuer stacheliger Kurzhaarschnitt nicht piekst.
Mein ganzes Leben lang war ich immer diejenige in der Klasse mit den längsten Haaren, bis zur Hüfte. Deshalb wäre ich wahrscheinlich nicht mal eingeschlafen, wenn ich nicht das Gefühl verspürt hätte, an meinem Hals saugen mindestens 20 ausgehungerte Fledermäuse mit dem Kopf meines Wirtschaftslehrers. Denn ich bin viel zu aufgeregt, was meine Freunde, andere Leute und Leute, mit denen ich nicht mal Zeit verbringen würde, wenn man mir dafür anbieten würde, in einem Buch zu leben und das jeden Montag, sodass mein furchtbares Leben nicht die Gelegenheit bekommen kann, mich zu nerven, sagen werden.
Von dem ständigen Hin- und Hergewälze unter meiner Decke ist mir so warm geworden, dass mir die unmögliche Kälte in meinem Zimmer total erfrischend kommt.
Ich brauche viel weniger Zeit im Badezimmer als sonst, weshalb ich es schaffe, in Höchstgeschwindigkeit in die Küche zu fetzen um Zehntelstelsekunden vor meiner Mutter die Kühlschranktür aufzureißen und meinen Lieblingspudding zu ergattern. Viel Zeit bleibt mir nicht, meinen Triumph auszukosten, denn in dem Moment schlägt mein Vater die Zeitung zu, was bedeutet, dass er sich gleich Kaffee machen will, aber diesmal bin ich schneller. Mein Vater kuckt total verwirrt, als ich mit siegessicherem – dennoch wahrscheinlich ziemlich dummen – Grinsen meine Tasse hochhebe und mich prompt verbrenne. Egal, Triumph.

Völlig fassungslos, dass ich die erste Etappe ohne jegliche blöden Vorkommnisse überstanden habe, steige ich aus dem Auto und werde wieder einmal mit dem üblichen lauten, kalten, nassen, heftigen Montagswind begrüßt. Doch heute strotzen meine Haare der für sie lebensgefährlichen Auseinandersetzung mit dem Wetter, denn meine Friseurin hat sie mit ihren stärksten Haarpflegemitteln, deren Supermarktvorrat ich gänzlich aufgekauft habe, lahm gelegt.
Meine grimmige Genugtuung wächst noch mehr, als ich meinem alten Schwarm über den Weg laufe und es ihm diesmal schwer fällt, mich zu ignorieren. Im Gegenteil, seine ohnehin schon überdimensional großen Glubschaugen treten so stark hervor, dass ich für einen Moment das Gefühl kriege, er würde nie wieder blinzeln können. Wenn er nicht bald aufhört, so zu glotzen, bleibt ihm der Gesichtsausdruck. Ups, zu spät.
Als ich mich zu meinen Freunden stelle und deren Freunde, mit denen ich höchstens drei Worte in meinen bisherigen Leben geredet habe, nach und nach auftauchen, machen sie mir Komplimente, schlagen die Hand vor den Mund und wollen alles wissen, wann, wo, von wem. Ich stehe gern im Mittelpunkt.
Die erste Stunde geht in ihrem übrigen, langweiligen Trott vorüber, aber dann kommt wieder der Moment. Der Moment, in dem sich alles entscheidet. Der Moment, den wir alle mehr als absolut alles und jeden auf dieser Welt hassen, dessen Hass über alles Schlimme, was wir kennen hinauswächst. Der Moment, warum ich Montage so übermäßig hasse. Aber heute fühle ich keine Angst. Ich war die letzte Stunde nicht da und kann somit nicht ausgefragt werden, deshalb klopft mein Herz kein bisschen schneller, als sie unendlich langsam mit dem Stift die Klassenliste auf- und abfährt und bei einem Namen innehält. Das Leben ist schön!
Sie nennt einen Namen, meinen Namen…MEINEN Namen?? Sie schaut immer vorher ins Absentenheft, wie kann sie mich einfach überlesen haben? Echt. Ich mache sie auf die Tatsache aufmerksam, dass ich die letzte Stunde gefehlt habe, was sie ohne von ihrem Büchlein aufsehend mit einem „aber Grundwissen kann ich immer abfragen“ kontert.
Das einzige, wirklich einzige auf der Welt, was schlimmer ist als „der Moment“ ist dieser hier. Ohne Vorwarnung Angst haben zu müssen. Das Leben ist scheiße!
Darauf hätte ich echt kommen müssen, genau diese Situation hat sie uns gleich am Anfang des Schuljahres geschildert. Ach ja, es war natürlich auch noch Montag! Das war so was von klar, dass irgendwas Dummes noch offen steht, das Gemeinste, was sich mein Himmelskomitee ausdenken könnte, bis zum letzten Moment zu warten. Kann ich vielleicht einmal in meinem Leben, nur einen einzigen verdammten Tag erleben, an dem ich nicht abends im Bett liege und mich frage, was zur Hölle ich eigentlich getan habe?!
Zu Tode verängstigt wie eine Kuh – eine verdammt dumme, naive Kuh! – vor dem Schlachten stelle ich mich vor die Tafel, bete ein letztes Mal, obwohl ich weiß, dass es nichts bringt, atme ein letztes Mal ein, obwohl ich weiß, dass ich keinen vernünftigen Satz zustande bringen werde, und stelle mich ihren kalten, eisblauen Augen, die einen Moment lang größer werden. „Ach, neu gestylt und alles?“ Froh darüber, dass ich schon mal wenigstens eine Frage beantworten konnte, bewege ich meinen Kopf wie ein Wackel-Dackel rauf und runter.
„Na, da bist du ja heute viel zu hübsch zum ausfragen!“ Ich nicke noch immer wie eine Gestörte. WOAH, wow, Moment mal, Review-Taste! Ist das ein Traum? Das ist dasselbe Wunschdenken, das ich immer mache, wenn ich in einer Latein-Ex nichts hingeschrieben habe und darauf hoffe, dass es auch auf keine der Fragen eine Antwort gegeben hätte! An dem Lachen von den einen und den „Boah Wahnsinn, ey!“ – Rufen der anderen realisiert mein hin- und hergeschütteltes Gehirn, dass das hier wirklich passiert. Das gibt’s nicht!
Mein Hochstimmungsgefühl und Dauergrinsen hält bis zur Englischstunde an. Englisch ist mein absolut bestes Fach, also das war es zumindest, bis wir diesen vollkommen inkompetenten Lehrer bekommen haben. Ich bin so was von überzeugt davon – und meine Klassenkameraden auch – dass ich besser Englisch spreche als er. Auf jeden Fall hasse ich den Typen von der Tiefe meines Herzens, und ich bin überzeugt davon, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht, weil er mir, obwohl ich mich andauernd fürs Vorlesen melde, obwohl ich immer weiß, wie ein Satz richtig heißen müsste, obwohl ich mich bei jeder verdammten Vokabel, die niemand aber wirklich niemand außer mir weiß, melde, mit rotzfrechem Grinsen eine 3 in mündlich gegeben hat.
In dieser Stunde liest er einen Text vor und ich rechne es meiner Banknachbarin hoch an, dass sie es erträgt, neben mir in Englisch zu sitzen, weil ich mich bei allem, was er von sich gibt, im Flüsterton schreiend zu ihr wende. Doch heute fällt mir zum ersten Mal auf, dass ich kaum zwei Sätze hintereinander reihen kann, ohne wie der letzte aus der Irrenanstalt gelassene Vollpfosten loszulachen, wobei ich mit dem Kopf auf den Tisch schlagen muss, um nicht aufzufallen. Da merke ich außerdem, dass sich so ein wahnsinniges Glücksgefühl in mir breit macht, und ich kapiere, dass es mich total zufrieden stellt, mich über ihn aufregen zu können.
Das Schicksal ist seltsam. Gerade, wenn du denkst, dass du’s niederschlagen, mit Benzin überschütten und anzünden könntest…und dann klonen, jedes Einzelne ertränken, erstechen, erwürgen, vergiften, aufhängen, köpfen, zerkratzen, in einen Raum mit dem Mathelehrer drin einsperren und begraben könntest…und dann wieder ausgraben, packen und anschreien und laufen lassen, dann warten, bis es möglich wird, jemanden durch den Telefonhörer zu erwürgen…
Dann kommt so was :D


Diese Geschichte ist – bis auf rechtliche namentliche Änderungen ;) – vollkommen wahr. Genauso, wie meine andere Montagsgeschichte komplett wahr ist. Ich will damit sagen, dass auch total unbedeutsame Dinge – wie zum Beispiel ein neuer Haarschnitt – alles verändern können, wenn man will, dass sie Dinge verändern.
 
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Kommentare  

Hat mir auch wieder sehr gut gefallen, einfach, weil
es so schöne geschichten aus dem alltag sind. Ich
hoffe, es kommen noch ein paar
montaggeschichten, oder gern auch andere
wochentaggeschichten.


Homo Faber (12.02.2011)

wiedermal eine tolle story von dir!

S. éternité (10.02.2011)

Und diesmal ist es ein ganz anderer Montag. Wieder humorvoll und plastisch beschrieben. Wirklich geglückt.

Else08 (10.02.2011)

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