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15 Seiten

Tod im Belt 3. Kapitel ( der Untergang )

Romane/Serien · Spannendes
© Geminus
17.Juni 1985

Breitbeinig, zwei Finger lässig auf dem Steuerrad ruhend wanderte Georg Sertes Blick über die stählernen Aufbauten des Oberdecks. In Kürze würde der rostige Leib der „Heinrich Engels“, die Meerenge Fehmarn Belt erreichen, deren trübes Wasser Deutschland von Dänemark trennt.
In seine derzeitige Stimmung, die von einer Kombination aus Anspannung und Stärke domminiert wurde, mischte sich eine Spur von Zynismus. Wirklich eine besondere Auszeichnung dieses letzte noch schwimmende Artefakt der IY-Klasse in Richtung Norwegen zu steuern, obwohl alle baugleichen Frachter seit Jahren außer Dienst gestellt und verschrottet waren.
Auch die „Heinrich Engels“ befuhr in einem technisch gerade noch akzeptablen Zustand, diese Passage. Aber das spielte nun ohnehin keine Rolle mehr.
Er hatte kurz nach dem Ablegen im Rostocker Hafen, als erster Offizier das Ruder übernommen, während Kapitän Heinz Ritter es sich unter Deck bequem gemacht hatte. Für einen Offizier der DDR-Handelsmarine, trug er sein dichtes schwarzes Haar extravagant lang und verbunden mit seinem drei Tage Bart, wirkte er auf den ersten Blick nachlässig. Den Fehler, ihn zu unterschätzen machte man jedoch meist nur einmal. Dem äußeren Eindruck setzte er ein hohes Maß an seemännischer Erfahrung, beruflicher Disziplin und einen messerscharfen Intellekt entgegen. Seine eng aneinander stehenden grauen Augen, von denen beinahe hypnotische Wirkung ausging, brachen oft, ohne Worte, jede Art von Widerspruch. Am frühen Abend noch war der Himmel von schweren Regenwolken bedeckt, die ihre Last in kurzen Abständen über der Ostsee entluden. Aber mittlerweile hatte ein von Süden aufgekommenes Hochdruckgebiet Dunst und Regen in Richtung Dänemark vertrieben. Sertes betrachtete aufmerksam die grünlich schimmernde Anzeige des Radars, das mit Hilfe von Suchstrahlen die Umgebung abtastete, und ein deutliches Bild der Küstenlinie, als auch die Anwesenheit anderer Schiffe auf ihr darstellte.
Die wenigen Reflexionen paßten perfekt in seine Planung. Außer der „Heinrich Engels“ erkannte Sertes lediglich drei weitere Schiffe, deren Positionen allerdings mehrere Seemeilen entfernt lagen. Die Nacht war jetzt fast sternklar und mit seinem Fernglas konnte er bereits den schmalen, nördlichen Küstenstreifen der Insel Fehmarn erkennen. Auch das Meer hatte sich beruhigt und lag von mäßigem Wind leicht gekräuselt vor ihm. Durch seine Beobachtungen abgelenkt war ihm nicht aufgefallen, dass Brigitte Haffer das Ruderhaus betreten hatte. Sie war offiziell als Dolmetscherin mitgefahren, wobei ihr Verhältnis zu ihm über das rein Berufliche hinausging. Ihre Beziehung als Liebe zu bezeichnen war jedoch mehr ein einseitiges Wunschdenken Brigittes. Sein Interesse an ihr war mehr profaner Natur und beschränkte sich auf das, was sie nachts in seiner Kabine zu geben bereit war. Sertes schien heute ungewöhnlich nervös. Auf der Stirn hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet und seine Augen wanderten unruhig zwischen den Instrumenten und dem Horizont hin und her.
„Stimmt was nicht Georg?“ Brigitte warf ihr braunes schulterlanges Haar zurück in den Nacken, strich mit einer Hand seinen Rücken hinunter und näherte sich mit den Fingerspitzen der Leistengegend.
„Lass das!“, fuhr er sie unerwartet schroff an.
„Was ist los Georg, du hast doch sonst nichts dagegen“, entgegnete sie mit gespielter Enttäuschung.
“Ich muss mich konzentrieren“, antwortete Sertes, ohne sie auch nur mit einem Blick zu würdigen.
„Du solltest doch längst unten bei unseren Fahrgästen sein. Der Leuchtturm von Staberhook kann jeden Augenblick in Sichtweite auftauchen. Tu mir bitte einen Gefallen und mach, dass du runterkommst!“
„Mach, dass du runterkommst“, äffte Brigitte ihn mit verstellter Stimme nach.
„Auch wenn du dich gerne als Kommandant hier aufspielst, du bist nicht der Chef, merk dir das.“ Sichtlich verärgert verließ sie das Ruderhaus.
„Bald wirst du schon noch merken, wer hier der Chef ist“, murmelte Sertes halblaut in sich hinein, „aber dann wird es für dich leider zu spät sein.“ Die Neonzeiger seiner Armbanduhr zeigten zweiundzwanzig Uhr fünfzig. Mit einem Blick über das Vorschiff vergewisserte er sich, das Brigitte und auch alle restlichen Besatzungsmitglieder unter Deck waren. Kurz entschlossen schaltete er die Schiffssteuerung auf Automatik, griff nach einer bereitgelegten Tasche und verließ eilig die Brücke. Sertes wollte nicht gesehen werden und schlich sich mit äußerster Vorsicht vom Deck aus durch enge Gänge in Richtung Maschinenraum. An der Stahltür zum Aufenthaltsraum, in dem sich die übrigen Besatzungsmitglieder befanden, verharrte er einen Augenblick. Das Ohr an die geschlossene Tür gelegt, hörte Sertes die rauchige Stimme von Heinz Kummer, dem Schiffsingenieure. Wie erwartet, saßen er und die anderen Besatzungsmitglieder beim Skat. Gut, dass würde es nur noch leichter machen. Geräuschlos entnahm er ein schweres Vorhängeschloss aus der mitgebrachten Tasche, zog den Bügel durch zwei Verriegelungsösen der Tür, ließ ihn begleitet von einem mechanischen Klicken einrasten und eilte dann weiter zum Herz des Schiffes. Der schwere 12.000 PS Schiffsdiesel röhrte mit einer derart tiefen Frequenz, dass Sertes die Vibrationen bis tief in seine Eingeweide spürte. Bevor er den Maschinenraum betrat, setzte er einen Gehörschutz auf, der an einer Halterung vor der Tür hing. Ölgeschwängerte Luft schlug ihm atemraubend entgegen. Zielsicher steuerte er einen schwach ausgeleuchteten Bereich hinter dem Antriebsaggregat an. Unter einem Gewirr von Öl, Treibstoff und Kühlwasserleitungen, befand sich eine versteckte Wartungsklappe durch die man im Inspektions- oder Reparaturfall an den Treibstofftank gelangen konnte. Sertes zog einen Schraubenzieher aus der Tasche und begann eilig die Befestigungsschrauben der Zugangsklappe zu entfernen. Drei ließen sich ohne Probleme lösen. Bei der Vierten schien das Gewinde defekt. Der Kopf drehte sich, ohne dass die Schraube herauskam. Nur selten kam es vor, dass Sertes so etwas wie Aufregung spürte, nun aber durchspülte eine Welle von Nervosität sein Gehirn.
Sein Zeitplan erlaubte keine Unwägbarkeiten. Sertes zwang sich zur Ruhe.
Für eine elegante Lösung war keine Zeit. Entschlossen steckte er den Schraubenzieher unter die Aluminiumklappe und bog sie mit seiner Hilfe einige Zentimeter nach oben, bis er genug Platz bekam um mit seinen Händen in den entstandenen Spalt greifen zu können.
Sertes schrie auf. Ein scharfer Grad am Rand der Abdeckung hatte ihm tief in die Innenfläche seiner Hand geschnitten. Augenblicklich tropfte Blut auf den Boden vor ihm. Gehetzt sah er sich um. Zwischen zwei Rohren klemmte ein ölverschmierter Putzlappen. Sertes umwickelte provisorisch seine Hand und zog erneut an der Bodenluke. Begleitet von einem Knacken brach der Schraubenkopf und einen Moment später, lag der Zugang frei. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er die winzige Kammer aus. Am Boden hatte sich durch Leckagen eine Schicht ausgelaufenes Dieselöl gebildet und reflektierte den starken Lichtstrahl. Scharfkantige Stahlsprossen führten eineinhalb Meter hinunter und endeten neben der Wandung des Tanks, an dem mit Klebeband ein unscheinbares, schuhkartongroßes Paket befestigt war. Sertes stieg hinunter, löste behutsam die Befestigung, öffnete den Behälter und warf den Deckel achtlos auf den Boden. Der Inhalt wirkte beim ersten Hinschauen wie graue, in Zellophan eingepackte Kinderknetmasse. Semtex. Plastiksprengstoff. Zwei dünne Elektrodrähte führten aus dem unscheinbaren Paket heraus, die in winzigen Steckern endeten. Mit einem weiteren Stück Isolierband war ein unauffälliges Kästchen auf ihm befestigt, dass aussah wie ein mit Digitalanzeige versehener Reisewecker.
Sertes warf den blutverschmierten Lappen zur Seite, öffnete eine Abdeckung und legte eine handelsübliche Batterie in die dafür vorgesehene Halterung. Augenblicklich begann die Leuchtzifferanzeige des Schaltkästchens an zu blinken. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr übertrug er die aktuelle Zeit. Jetzt stand die Anzeige auf 11:00 Uhr. Auf einem kleinen Bedienpult neben der Anzeige legte er einen Kippschalter um und wechselte in den Programmiermodus. Wenige Tastendrücke später zeigten die Leuchtziffern 11:15 Uhr.
Der Sprengsatz war, bis auf den Anschluß des Zündkabels, vorbereitet. Sertes schloß für einen Moment seine Augen um innerliche Ruhe zu finden. Dennoch konnte er kaum das Zittern seiner Hände verhindern, als er die Stecker der Sprengladung die vorgesehenen Buchsen des Zünders einführte. Ein Moment der Unachtsamkeit bei der Programmierung, oder eine geringfügige statische Entladung und er würde in einer Explosionswolke zerrissen werden. Nichts geschah, die Ziffern leuchteten beruhigend und gleichmäßig rot. Ab jetzt erlaubte sein Zeitplan keinerlei Verzögerung. Aus seiner Hosentasche zog er eine neue Rolle Klebestreifen und befestigte den Sprengsatz in gleicher Weise wie zuvor am Tank. Aus seiner Handwunde war während der Aktion unaufhörlich Blut ausgetreten, so dass die Ladung rötlich schimmerte.
Zurück im Maschinenraum trat er noch kurz die verbogene Inspektionsklappe zurück und näherte sich dann lautlos dem Versteck der Flüchtlinge. Der umgebaute Hohlraum war früher ein Teil des Laderaums gewesen, aber während eines Trockendockbesuchs umgebaut worden. Die Eingangstür verschmolz förmlich mit den unregelmäßigen Stahlwänden und war als solche von außen nicht zu erkennen. Konzentriert legte er das Ohr an die Tür. Nur leise verhaltene Stimmen drangen durch die Stahlwand. Aus der mitgebrachten Tasche zog Sertes ein Drahtseil, das er durch zwei vorbereitete Ösen zog und mit einem Karabinerhaken verband. Seine Handwunde begann nun zu schmerzen und er spürte das Pochen des Pulses. Ausschließlich von außen ließ sich die Tür jetzt noch öffnen.
„Adieu Brigitte“, flüsterte er unhörbar im Gehen.
Die Zeit verrann, ihm blieben weniger als neun Minuten. Hastig lief er in Richtung Oberdeck. Auf dem Weg zur Treppe drangen ihm aufgeregte Stimmen entgegen. Die Tür zum Aufenthaltsraum schlug heftig gegen das in die Stahlösen eingehängte Bügelschloss. Höchstwahrscheinlich warfen sich die Eingeschlossenen mit Gewalt von innen dagegen.
„Was soll der Blödsinn, schließ sofort die Tür auf, wir haben genug gelacht“, hörte er die Stimme des Kapitäns. Sertes Prioritäten ließen keinerlei Platz für Mitgefühl aufkommen. Am Oberdeck angekommen, sah er sich kurz um. Wie erwartet war Niemand an Deck zu erkennen. Ein Blick über die Reling in Richtung Fehmarn bestätigte das gute Timing seine Planung. Deutlich konnte er bereits das vereinbarte Blinksignal vom Leuchtturm Staberhook erkennen. Ein befriedigtes Grinsen überlief Sertes Gesicht. Alle hatten sie ihn unterschätzt. Zu schade eigentlich, kam ihm in den Sinn, dass kaum jemand der Genialität seines Planes gewahr werden würde. Aber genau das war die Quintessenz der Aktion. Eilig lief er zurück in das Steuerhaus und zog die Signallampe aus ihrer Halterung. Durch die Scheibe des Ruderhauses bestätigte er das vereinbarte Zeichen. Noch sechs Minuten. Mit einem Ruck riß er den Schrank mit den Notfalleinrichtungen auf, nahm eine Signalpistole sowie Schwimmweste heraus und verließ die Kabine.
Der letzte Teil der Aktion war der unangenehmste. Die Wassertemperatur im Belt lag um diese Jahreszeit etwa bei achtzehn Grad, so dass er nur bei längerem Aufenthalt im Wasser Angst vor Unterkühlung, haben mußte. Seine wirkliche Unruhe lag ganz woanders. Was Sertes geschickt über Jahre verheimlicht hatte, er konnte nicht schwimmen. Noch im Gehen streifte er die Schwimmweste über und rannte so schnell er konnte an der Reling entlang in Richtung Mittelschiff.
„Was hast Du vor, willst du ein kurzes Bad nehmen?“, hörte er unerwartet Brigittes spöttische Stimme. Sertes fuhr fassungslos herum. Es dauerte einen Moment bis er sich wieder strukturiert hatte.
„Was machst du den hier?“, giftete er sie an. “Ich dachte du wärst unten bei den Flüchtlingen?“
„Das Trinkwasser ist zu Ende gegangen, und ich hab kurz neues aus der Kombüse geholt. Vorher wollte ich noch kurz sehen ob du dich wieder im Griff hast. Aber was hast du eigentlich vor, müßtest du die Strickleiter nicht schon längst fertig machen?“ Brigittes Verdacht, dass hier etwas im Gange war und sich ihrer Kenntnis entzog, wurde von Sekunde zu Sekunde deutlicher. Eine unbestimmte Spannung lag zwischen Sertes und ihr in der Luft. Er hatte sich völlig verändert. Irritiert wich sie einige Schritte vor Sertes zurück der fast lautlos auf sie zukam.
„Was ist mit deiner Hose?“ Sertes sah an sich herunter. Selbst bei der schwachen Deckbeleuchtung war der beträchtliche Blutfleck deutlich zu erkennen.
„Unwichtig Brigitte, um mich brauchst du dir keinerlei Sorge zu machen“, meinte er spöttisch. In seinem Blick lag etwas Lauerndes, dass ihr zunehmend Angst machte.
Sertes griff wie beiläufig in die Außentasche seiner Jacke. „Scheiße“, entfuhr es ihm. Die 9 mm Makarov Armeepistole war verschwunden. Für eine aufwendige Suche fehlte die Zeit.
Seine Augen suchten nervös die Umgebung ab.
„Du führst doch irgendwas im Schilde?“, fuhr sie argwöhnisch fort. Im Augenwinkel hatte sie gesehen dass er zu einem Schraubenschlüssel gegriffen hatte, den einer der Matrosen hier auf Deck hatte liegen lassen. Verzerrt grinsend kam er auf Brigitte zu, die bereits ihre Umgebung nach einer Fluchtmöglichkeit absuchte.
„Weist du was mit aufsässigen Besatzungsmitgliedern passiert, die nicht auf den Kapitän hören wollen?“, fragte Sertes rhetorisch. Fast übergangslos, mit einem katzenartigen Sprung war er bei ihr und holte mit dem Schlüssel aus. Brigitte reagierte blitzartig. Sie schrie auf und wich dem Schlag gerade noch aus bevor der Schraubenschlüssel auf die Reling aufschlug. Panisch floh sie hinter ein Ansaughorn, das ihr allerdings keinen wirklichen Schutz bot und lief weiter, gefolgt von Georg bis ans Heck des Schiffes. Erst als sie die hintere Reling erreichte, wurde ihr bewußt, dass sie hier wie in der Falle saß. Sie war eine gute Schwimmerin und die zwei Kilometer bis Fehmarn war für sie zu schaffen, aber für einen Sprung über Bord war hier der denkbar ungünstigste Ort. Verstohlen warf sie einen Blick über die Reling. Drei Meter unter ihr kreisten zwei gewaltige Schiffsschrauben, die die Wassermassen wie in einem Mahlstrom aufkochen ließen. Von hier aus von Deck zu springen war reiner Selbstmord. In Sekundenbruchteilen würde sie von den scharfkantigen Blättern zu einer zusammenhanglosen Masse zerschmettert werden. Zeit gewinnen und nachdenken war Brigittes einzige Chance. „Bist du verrückt geworden, du scheinst ja völlig ausgerastet zu sein?“, schleuderte sie ihm entgegen.
„Tut mir wirklich Leid Brigitte, aber dir jetzt alles erklären zu wollen übersteigt mein Zeitlimit und erscheint mir auch für dich völlig sinnlos.“
„Aber das ist doch Wahnsinn Georg, glaubst du nicht, dass wir eine Lösung für dein wie immer auch gelagertes Problem finden!“
Sertes ließ sich nicht ablenken und war im Begriff einen erneuten Angriff zu starten, schaute dann aber nervös auf seine Uhr und ließ den Schraubenschlüssel sinken.
Plötzlich wurde er völlig ruhig. Ein überlegenes Grinsen trat auf sein Gesicht.
„Du hast recht Brigitte, wozu die Anstrengung! Einen schönen Abend wünsche ich noch.“
Brigitte sah ungläubig zu wie Sertes zurück in Richtung Mittschiff lief, auf die Bordwand kletterte und ohne ein weiteres Wort ins Wasser sprang. Fassungslos lief sie an die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Sie fühlte sich betrogen. Wer war der Mensch wirklich, mit dem sie seit Monaten ein Verhältnis hatte. „Du verrückter Hund, was soll das Ganze?“, schrie sie ihm mit bebender Stimme hinterher, während er mit ungelenken Schwimmzügen Meter um Meter vorankam und allmählich aus dem Schein der schwachen Schiffsbeleuchtung entschwand. Verwirrt sah Brigitte ihm noch einige Sekunden nach. In geringer Entfernung konnte sie bereits die wagen Umrisse des Leuchtturm von Staberhook erkennen. Wußte man dort was vor sich ging?
„Ich muss Ritter fragen!“, fiel es ihr ein. Vielleicht weiß er, was plötzlich in Georg gefahren ist. Brigitte lief los, war jedoch kaum einige Meter weit gekommen, als begleitet von heftigen Detonationen eine sonnenhelle Feuersäule aus dem Rumpf des Schiffes brach. In einem ersten Reflex hielt sie sich den Arm vor die Augen und drehte sich zur Reling. Die Erkenntnis über die Bedeutung von Sertes Sprung in die Ostsee streifte sie nur für den Bruchteile einer Sekunde, als eine Druckwelle heißen Gases sie erreichte, von den Füßen hob und über die Bordwand hinweg ins Meer schleuderte.

Zehn Minuten zuvor

„Brigitte?“, fragte Tanja ungeduldig. Ein undefinierbares Geräusch am Zugangsschott hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.
Dunkle Ränder unter ihren Augen zeigten mittlerweile schonungslos ihre aufgesparte Müdigkeit.
Keine Antwort. Richard zuckte mit den Schultern und stand auf um einen Blick hinter die Stahltür zu werfen. Vergeblich, sie ließ sich nur einen Spalt öffnen und stieß dann auf Widerstand. Er langte mit seiner Hand hindurch und ertastete eine der Ösen durch die ein Stahlseil gezogen war.
„Sie haben die Tür verrammelt, haben uns eingeschlossen wie Tiere “, meinte er bitter und setzte sich resigniert zurück an den Tisch.
„Was glaubt ihr denn“, meldete sich Thomas. “Die können doch nicht riskieren, dass wir zum Pipi machen durch das halbe Schiff laufen und direkt der STASI in die Arme.“
„Hast du dich verletzt? Sigrid war auf Richard zugegangen und betrachtete seine linke Hand auf der ein roter Schimmer im fahlen Licht zu erkennen war.
„Nein, wie kommst du...“, weiter kam er nicht. Ratlos hielt er seine Finger unter die Hängelampe und besah sie eingehend. Mit einem Taschentuch wischte er sich die Hand sauber, konnte aber weder einen Schnitt noch eine Abschürfung erkennen. „Das Blut ist nicht von mir. Es muß draußen an der Tür geklebt haben. Was geht hier eigentlich vor?“ Ratlosigkeit breitete sich bedrückend in der engen Kabine aus.
„Jetzt fangt mal nicht an zu spinnen“, durchschnitt Helmuth Stimme das Schweigen.
„Brigitte wird sich beim hinausgehen an der Tür verletzt haben. Bei den ganzen scharfen Kanten hier ist das ja auch nicht verwunderlich.“
Auch wenn seine Erklärung nachvollziehbar war, legte sich ein weiterer dunkler Schatten über die Gemeinschaft.
Schon vor einer Stunde war es still in dem engen Raum geworden. Jeder von ihnen hatte seine Geschichte in kurzen Zügen erzählt und eine bleischwere Mattigkeit löste die Euphorie der vergangenen Stunden ab. Schwitzwasser kondensierte an den kalten Stahlwänden, lief in dünnen Rinnsalen hinunter und sammelte sich in den kleinen Senken des unebenen Bodens. Die Kekse und das wenige übriggebliebene Trinkwasser waren mittlerweile aufgebraucht.
„Brigitte müsste doch jeden Moment zurück kommen Helmuth“, fragte Tanja bedrückt. „Ach was, sie wird vermutlich noch etwas anderes zu tun haben, als uns zu bedienen. Schließlich müssen sie uns irgendwie unauffällig vom Schiff bringen.“
„Was denkst du in welchem Hafen das sein wird?“, fragte Sigrid.
„Ein Hafen?“, mischte sich Gerd ein. „Die werden uns irgendwo über Bord schmeißen, diese Teufel sind nicht daran interessiert uns zur Flucht zu verhelfen. Das Ganze ist ein einziger gottverdammter Bluff. Und diese eingebildete Ziege hat uns lediglich die Henkersmahlzeit serviert.“
„Jetzt reicht‘s“, Helmuth baute sich drohend vor ihm auf. „Noch ein Wort aus deinem dreckigen Mund und ich besorge dir einen längeren Badeaufenthalt in der Ostsee!“
„Ihr werdet noch an meine Worte denken“, schleuderte Gerd Helmuth erbost entgegen und zog sich lamentierend in den äußersten Winkel der Kabine zurück. Hier sackte er wie ein Embryo in sich zusammen, legte die Arme um die angezogenen Beine und begann, den Kopf an die kalte Schiffswand gelehnt, unverständliche Sätze vor sich hin zu murmeln.
„Was redet er da?“ Tanja war zu Gerd hinüber gegangen und beugte sich zu ihm hinunter. „--- Der Gruß ist durch einnehmen einer straffen Haltung und Blickwendung zu erweisen. Trägt der Strafgefangene eine Kopfbedeckung, so hat er diese für die Dauer des Grüßens…..---“ Tanja sah ungläubig von einem zum anderen. Richard kam hinzu und hörte einige Augenblicke zu. „Ich weiß was das ist, dass ist die Hausordnung vom Knast in Bautzen, Gerd scheint sie vollständig auswendig gelernt zu haben.“ Wie auf Kommando, wandelte sich Gerds undeutliches Gemurmel übergangslos zum Kasernenton. „-- In Werkstätten und auf Arbeitsstellen sowie in den Gemeinschaftsräumen entfällt das Kommando Achtung, während der Einname der Mahlzeiten...--“ „Halt deinen verfluchten Mund“, Helmuth war von der Bank aufgestanden und schrie Gerd außer sich vor Wut an. „Lass ihn“, Tanja hatte ihn am Arm gefaßt und zog ihn von Gerd weg. „Das alles ist zu viel für ihn. Er ist es nicht mehr gewohnt unter Menschen zu sein.“
„In einem hat Gerd recht“, mischte sich Helmuth ein. „Sie werden uns kaum in einem Hafen von Bord bringen. Ich wette, sobald wir irgendwo einlaufen, wird das Schiff unter Aufsicht der Stasi stehen.“
Widerstrebend setzte Helmuth sich an Tanjas Seite, als ein berstender Knall, gefolgt von starken Vibrationen den Schiffsboden erzittern ließ. Der ganze Rumpf schien von einer Riesenfaust angehoben und wieder fallen gelassen zu werden. Jede einzelne Schweißnaht, jede Schotte und Verstrebung des Schiffes ächzte unter immenser Belastung. Keinen der Flüchtlinge hielt es auf den Beinen. Die wenigen Einrichtungsgegenstände kippten um und bildeten mit den halt suchenden Körpern ein undurchschaubares Gewirr. Ein Gemisch von Schmerzensschreien und ächzendem Metall erfüllte die Luft. Unerwartet trat eine gespenstische Ruhe ein.
Das kraftlose Licht mit dem die zwanzig Watt Birne den Raum beleuchtete verlöschte kurz, um Sekunden später mit halber Kraft wieder aufzuflammen.
„Das Notaggregat ist angesprungen“, stieß Richard, der sich als erstes wieder gefangen hatte hervor. „Ist jemand verletzt?“ Tanja und Gerd hatten sich nur ein paar leichte Blessuren zugezogen. Aus der Ecke in der Helmuth gesessen hatte kam jedoch ein verärgertes Stöhnen.
„Ich glaube ich habe mir den Knöchel gebrochen.“ Richard half Helmuth sich auf die umgestürzte Bank zu setzten, während Tanja sein Hosenbein hochgestreift hatte und ihn untersuchte.“ „Ist nicht gebrochen, vermutlich nur verstaucht, aber was ist passiert?“, fragte Tanja angsterfüllt.
„Sind wir mit einem anderen Schiff havariert.“
Richard hob die Hand.
„Seit doch mal einen Moment ruhig.“
Das monotone Stampfen des Schiffdiesels war verstummt.
„Die Maschinen sind ausgefallen!“ Fahles Licht fiel auf vier verzweifelte Gesichter.
„Auf dem Schiff muß es eine Explosion gegeben haben.“
„Eine Explosion? , was denn für eine Explosion?“ Tanja blickte verwirrt in die Runde. Dann sah sie sich suchend in der Kabine um.
„Wo ist eigentlich Sigrid?“ Niemand hatte in den dramatischen Momenten an sie gedacht. Sorgenvolle Blicke suchten den Raum ab. Helmuth hatte sie als erster entdeckt.
„Hier ist sie, unter dem Tisch, los packt mit an.“ Die Verschraubungen der Tischbeine hatten sich durch die Erschütterung aus der Bodenhalterung gelöst und Sigrid unter sich begraben. Nur ein Bein des schmächtigen Körpers ragte unter ihm hervor. Tanja, Helmuth, Richard und selbst Gerd packten an und hoben den schweren Gegenstand von Sigrid herunter.
„Sigrid was ist mit dir?“, Tanja hatte als erste die Sprache wiedergefunden und sich zu ihr hinuntergebeugt. Sanft und mit einer bösen Vorahnung schüttelte sie ihre Schulter.
Im ersten Augenblick wirkte Sigrid unverletzt, aber dann entdeckte sie, dass ihr Kopf in einem ungewöhnlichen Winkel vom Rumpf abstand.
„Geh mal zur Seite.“ Richard hatte die Lampe ein Stück zur Seite gezogen, so dass der Lichtkegel auf Sigrids Gesicht fiel. Der starre Blick, mit dem sie die Decke zu fixieren schien, gab allen die letzte Klarheit. Tanja umfaßte mit beiden Händen das schmale Gesicht, streichelte behutsam die noch warmen Wangen und sah mit tränenerfüllten Augen zu Richard auf, der mit hängenden Schultern da stand.
Sekunden wurden zu Minuten.
„Das ist jetzt nicht die Stunde der Toten“, unterbrach Helmuth die lähmende Stille.
„Denkt lieber nach, wie wir lebend hier herauskommen. Wenn das Schiff sinkt, saufen wir alle ab wie die Ratten, ist euch denn nicht klar, das wir hier unten eingeschlossen sind.“
Vielleicht ist lediglich der Schiffsdiesel hochgegangen und Brigitte ist ja auch noch da und wird uns schon nicht absaufen lassen.“ Tanja hatte versucht ihrer Stimme Zuversicht zu verleihen. Dabei spürte auch sie eine wachsende Angst in sich aufsteigen.
„Ganz egal, wir dürfen keine Zeit verstreichen lassen. Wir alle müssen sofort raus hier“, antwortete Richard und versuchte erneut die Tür zum Gang zu öffnen.
„Sie ist von außen mit irgendetwas versperrt, Helmuth hilf mit!“ Zu zweit lehnten sie sich mit aller Kraft gegen den Schott, dass jedoch nur wenige Millimeter nachgab.
„Wir brauchen einen Hebel den wir in den Spalt stecken können, so hat es keinen Zweck“, schrie Helmuth.
„Los nehmen wir alles auseinander. Mit einer Art Stange oder Hebel können wir die Tür sicherlich aufbrechen.“ Tanja, Helmuth und Richard untersuchten so schnell es ging die wenigen Einrichtungsgegenstände. Die Bänke waren aus einfachen Stahlrohren grob zusammengeschweißt. Die meisten Schweißnähte waren ohnehin schon gerissen, so dass Helmuth nicht lange brauchte um eines der Rohre aus dem Verbund zu lösen. Von außen her drang ein unbestimmtes Geräusch zu den Eingeschlossenen herüber.
„Ruhe“, schrie Helmuth. Einen Moment lauschten alle angsterfüllt, bis sich jedem die Ursache des Geräusches erschloss.
„Wasser, es dringt Wasser in den Schiffsrumpf ein.“
„Es ist sinnlos, unser Schicksal ist längst besiegelt.“ Auf Gerd hatte niemand mehr geachtet. Er war aufgestanden und im ersten Moment dachte Tanja er hätte sich vor Angst eingenäßt. Seine Hose glitzerte von Feuchtigkeit. Er deutete auf den Boden und jetzt erkannten alle, dass sich an der tiefsten Stelle Wasser gesammelt hatte.
„Der Gang!“, rief Helmuth, „es kommt durch den Gang.“ Aus dem Schlitz zwischen Stahlboden und Tür drang Wasser mitsteigender Intensität ein.
Die Vorstellung in diesem Käfig ertrinken zu müssen, hatte unterschiedliche Wirkung auf jeden einzelnen. Während Tanja, Helmuth und Richard sich weiter bemühten eine Stelle an der Tür zu finden, wo sie die Stange als Hebel benutzen konnten, war Gerd wieder in sich zusammengesunken und lallte wie in Trance vor sich hin. Immer mehr Wasser lief in die enge Kabine. Innerhalb kurzer Zeit, war ihnen der Wasserspiegel bis an die Fußknöchel gestiegen. Mit der Stange waren Richard und Helmuth in den Spalt eingedrungen. Zu zweit zogen sie an dem improvisierten Hebel, der sich zu ihrem Schrecken ohne die geringste Wirkung verbog.
„Es hat doch sowieso keinen Sinn“, schrie Gerd.
„Lass mich einen Moment nachdenken“, meinte Tanja. Sie zwang sich die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Wertvolle Sekunden vergingen.
„Wir haben nur eine Chance. Es muß uns gelingen die Scharniere der Tür zu zerschlagen. Seht ihr hier einen harten Gegenstand, eine Stein oder ähnliches.“ So schnell es eben ging wurde das Inventar des Raumes durchsucht. Nichts.
„Was ist mit eurem Privatkram den ihr mitgebracht habt?“, schrie Tanja die anderen an. An den verzweifelten Gesichtern erkannte sie, dass niemand eine Idee hatte.
„Gerd was ist mit dir?“, Alle Blicke konzentrierten sich auf Gerd, der immer noch in der Ecke des Raumes saß. Als wenn die Umstände nicht schon schlimm genug gewesen währen, erstarrten sie, als sie in den Lauf einer Pistole sahen.
„Bist du verrückt?“, Helmuth sprach das aus, was jeder andere im Raum dachte.
„Ich verrückt, ich bin der einzige hier in diesem Panoptikum, der klar genug im Kopf war und sich auf alle Möglichkeiten vorbereitet hat“, stieß er mit schriller Stimme hervor. An seinen fiebrig glänzenden Augen war zu erkennen, dass er kaum mehr Herr seiner Sinne war.
„Wie bist du an die Waffe gekommen?“, fragte Helmuth entsetzt.
„Ein Besatzungsmitglied war so unvorsichtig sie bei sich zu tragen. Und es kann durchaus von Vorteil sein, wenn man eine Zeit mit Taschendieben und anderen Kriminellen eine Gefängniszelle teilt. Seid ihr den so naiv zu glauben, dass die Explosion Zufall oder ein Unglück ist? Jemand will nicht, dass wir die Möglichkeit bekommen im Westen auszupacken.“
„Nur wegen uns ein ganzes Schiff in die Luft jagen?“, entgegnete Helmuth.
„Da hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben!“
„Ihr habt eben keine Ahnung“, erwiderte Gerd. Von dem Schifftyp, ist es vermutlich das letzte Exemplar. Es wäre ohnehin bald verschrottet worden.
„Selbst wenn du recht hast“, fiel Richard ihm ins Wort.
„Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Wir können versuchen mit der Pistole die Scharniere aufzuschießen. Jedenfalls ist es eine Chance.“ Gerd streckte die Hände mit der Waffe aus und zielte abwechselnd auf Richard und Helmuth. „Kommt mir nicht zu nahe, ich warne euch, wenn euer lausiger Plan daneben geht, haben wir alle Patronen sinnlos vergeudet und ich will nicht ertrinken.“
„Du wirst genau so wenig wie wir hier sterben, aber wir haben nicht bis morgen früh Zeit, los gib uns jetzt die Waffe“, schrie Helmuth und stürzte sich auf ihn.
„Nicht!“, schrie Tanja noch, doch es war bereits zu spät. Ein dumpfer Knall zerriss die enge Kabine. Einen Augenblick sah es aus, als hätte die Kugel ihr Ziel verfehlt. Helmuth blieb nur wie angewurzelt stehen. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper, dann sackte er lautlos in sich zusammen und war bereits tot, bevor er den überschwemmten Boden erreichte. Ungläubig starrte Richard auf den Toten, dann auf Gerd der fassungslos vor sich auf den Boden sah.
„Gib uns die Waffe Gerd“, forderte er eindringlich. „Ich wollte doch eigentlich gar nicht, ein Versehen.“ Gerd blickte Tanja und dann Richard in die Augen und einen Moment meinten sie einen Funken Klarheit zu erkennen. Dann nahm er die Pistole in beide Hände, drehte sie um und steckte den Lauf in den geöffneten Mund.
„Tu es nicht!“ Richard ging einen Schritt in Gerds Richtung. Bevor er jedoch bei ihm war, löste sich erneut ein Schuß. Das Projektil durchschlug Gerds Oberkiefer und verließ mit einem Gemisch aus Blut, Knochen und Hirngewebe seinen Hinterkopf. Sein schmächtiger Körper stürzte in das mittlerweile kniehohe Wasser, wobei sich das austretende Blut mit ihm mischte.
„Los jetzt“, mit einer Kaltblütigkeit die Tanja selbst überraschte war sie bei Gerds Leiche und entwand die Pistole aus seiner Hand. Sie übergab sie Gerd der eilig das Magazin öffnete und hinein sah.
„Nur noch vier Patronen“, meinte er verzweifelt. „Das muß reichen.“ Unaufhaltsam stieg der Wasserspiegel und reichte inzwischen bis an Tanjas Oberschenkel. Durch die Stahlwände hindurch hörte sie das Kreischen von überlasteten Schotten die langsam unter dem steigenden Wasserdruck nachgaben. Die Tür nach draußen bestand aus vielleicht zwei Millimeter dicken Stahl. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Scharniere mit Hilfe eines vernünftigen Stemmeisens herauszubrechen.
„Tritt einen Schritt zurück.“ Richard schob Tanja mit der Hand hinter sich und richtete die Pistole auf das obere von zwei Scharnieren. Ein bellender Schuß löste sich. Die Patrone hämmerte auf das Metall und ein Stück des oberen Bandes brach heraus. Noch hing die Tür fest in der Halterung. „Vorsicht“. Ein weiteres Projektil traf das Scharnier. Richard hatte in der Aufregung nicht genau genug gezielt, und das Geschoß prallte mit einem peitschenden Geräusch ab und verschwand sirrenden im hinteren Teil der Kabine. Entsetzt sahen sich beide an. Noch eine Patrone. Diesmal zielte Richard genau. Die Kugel saß perfekt und das Scharnier sprang mit einem berstenden Geräusch auf.
„Gib mir das Rohr, schnell.“ Das Wasser stand bereits hüfthoch, so dass Tanja eine ganze Weile brauchte, bis sie auf dem Boden ergreifen konnte. Richard hatte mit bloßen Händen den oberen Teil der Tür ein Stück nach unten gebogen. In den entstandenen Schlitz steckte er die Stange und bog sie, soweit er konnte auf. Nur mit Mühe erreichte er eine Öffnung, durch den sie gerade hindurch passen konnten.
„Du zuerst, schnell. “Richard half Tanja in dem er sie an den Beinen griff und nach oben stemmte. Eine scharfe Kannte der Tür schlitzte ihr ein Stück der Hose auf und aus einem Schnitt rann Blut ihr Bein hinunter. Von all dem spürte sie nichts.
„Ich bin drüben, los komm.“ Tanja hatte Gerd an den Händen ergriffen und zog. Mit dem halben Oberkörper hatte er bereits den Flur erreicht, als sich in diesem Moment der Schiffsrumpf abrupt ein Stück auf die Seite zu drehen begann. Tanja spürte wie Gerds Körper zurück in die Kabine gezogen wurde und seine Hände ihr aus den Fingern glitten. Von überall her drang das Geräusch umstürzender Gegenstände an ihr Ohr. Der Schrei, der sie aus der Kabine erreichte, konnte nichts Gutes bedeuten. „Richard was ist los“, rief sie und ihre Frage mischte sich mit dem Gesang des sterbenden Schiffes. Einen Moment war Ruhe, dann drang seine Stimme stöhnend zu ihr herüber.
„Lauf Tanja, lauf zum Ausgang, wenigstens du mußt es schaffen. Ich bin unter dem Stahlspint eingeklemmt und spüre meine Beine nicht mehr.“
„Ich bleibe hier solange du noch eine Chance hast, warte ich komme zurück zu dir und helfe“, rief Tanja.
„Nein Tanja, dann ertrinken wir beide, du bist so weit gekommen.“ Tanja scherte sich nicht um Richards Einwand, sie quetschte sich durch die Tür zurück in die Kabine. Nur Richards Kopf und ein Teil seiner Schulter ragte noch hinter dem Stahlspint hervor. Der Wasserspiegel hatte bereits sein Kinn erreicht.
„Warum bist du zurückgekommen?“, fragte er verzweifelt, als er Tanja neben sich auftauchen sah.
„Jetzt wird keiner von uns überleben!“ Die Kälte des Wassers hatte Tanjas Körper gefühllos werden lassen. Mit der Hand strich sie Richard über das nasse Haar.
„Lass nur Richard, ich hab dich einmal verloren, ein zweites Mal wird es nicht geben.“ Sie hatte ihre Arme um seinen Kopf geschlungen und hielt ihn fest umklammert, als das Heck der „Heinrich Engels“ unter die Wasseroberfläche tauchte und der Bug sich ein letztes Mal trotzig aufbäumte. Augenblicke später füllte Salzwasser die letzten, nicht gefluteten Bereiche des Schiffes. Mit einem dumpfen Stöhnen gab der Frachter auf und sank, begleitet von ein Meer aus Luftblasen, innerhalb weniger Sekunden auf den sandigen Grund der Ostsee.
 
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Kommentare  

Spannend bis zur letzten Minute. Also wird Tanja gar nicht die Hauptakteurin deines Romans sein, wie ich es mir zunächst gedacht hatte. Aber der fiese Georg Sertes wird uns wohl auch im nächsten Teil deiner Story begegnen. Sehr gut gemacht.

Gerald W. (31.07.2011)

Überraschung, dass dieser Teil so enden würde, hätte ich nun nicht gedacht. Aber zwei haben wohl überlebt- Georg Sertes der Attentäter und vielleicht Brigitte Haffer als Zeugin. Hochdramatischer Schluss.

doska (31.07.2011)

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