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12 Seiten

Im Schatten der Zeit

Fantastisches · Kurzgeschichten
2. Januar 1943, irgendwo in der Nähe von Stalingrad. Zeit: 8:55 Uhr MEZ

Mühselig stampfte der Soldatenzug durch kniehohe Schneemasse, wobei jeder Schritt knirschte. Die Sicht war aufgrund des diesigen Wetters extrem beeinträchtigt. Schnee rieselte gerade herunter. Die Mission lautete: Feindliche Artillerie Stellungen lokalisieren und ausheben.
Die achtzehn Soldaten, manche von ihnen schon seit ein paar Jahren dabei, getarnt mit weißen Leinentüchern, verfolgten jedoch seit zwei Tagen verbittert ein ganz anderes Ziel. Sie befanden sich auf der Jagd, auf der Jagd nach einen oder gar mehreren Heckenschützen, von denen sie attackiert wurden, wobei zwei Kameraden getötet wurden. Sie waren wie ihre Brüder, die einem hinterhältigen Anschlag zum Opfer gefallen waren.
Wenn im Krieg ein Kumpel ausgerechnet von einem Scharfschützen, der irgendwo verschanzt auf der Lauer lag, verletzt oder gar getötet wurde, nahm man dies persönlicher, als wenn ein Kamerad an der Front sein Leben verloren hatte, und es begann eine unbarmherzige Hetzjagd auf den Mörder. Oftmals waren die Soldaten nach solch einem hinterhältigen Attentat dermaßen verblendet, dass ihnen ihr eigentlicher Einsatzbefehl beinahe nebensächlich wurde. Ein freilaufender Jäger musste umgehend ausgeschaltet und gerächt werden, damit anderen Kameraden ein gleiches Schicksal erspart bliebe.
Karl Meininger, ein junger unerfahrener Leutnant, befehligte und führte den Grenadierzug an. Doch seit dem Anschlag des russischen Scharfschützen wirkte er unsicher, inkompetent und stimmte nun öfters zögernd den Befehlen des weitaus erfahrenen, dafür aber rangniedrigeren Stabsunteroffiziers Heinrich Steger zu. Mittlerweile, auch aufgrund der eisigen Kälte und des plagenden Hungers, tuschelten die Soldaten untereinander und zweifelten an Leutnant Meiningers Führung. Eine bedrohliche Revolte drohte sich gegen den fünfundzwanzigjährigen Leutnant anzubahnen.

Die Soldaten stampften versetzt zum Vordermann in einer Reihe durch die völlig verschneite Lndschaft. Knatterndes Maschinengewehrfeuer, quietschende Panzerketten und dumpfe Artillerieeinschläge waren aus der Ferne zu hören. Zu ihrer Rechten bildete sich plötzlich, wie aus dem Nichts, eine dichte Nebelbank. Plötzlich warf sich das hintere Glied der Truppe abrupt zu Boden und gaben ein warnendes Handzeichen.
„Runter!“, fauchte ein Hauptgefreiter energisch, und klopfte sogleich auf die Schulter des Stabsunteroffiziers Steger, der sich daraufhin geistesgegenwärtig, wie alle Soldaten, flach auf den Boden legte.
Die MG-Schützen warfen sich in den Schnee, stützten das Maschinengewehr auf, klappten das Visier hoch, führten hastig ihren Patronengurt in den Lauf und zielten genau auf die Nebelbank. Eine minutenlange Totenstille herrschte, nur der herunterrieselnde Schnee, die fernen Granateinschläge, die Panzergeräuschen und ein paar krähende Raben waren zu hören. Ein Soldat eilte geduckt zum Zugführer. Leutnant Meininger und Stabsunteroffizier Steger blickten ihn fragend an.
„Hauptgefreiter Feldmann meldet einen Blitz im Nebel, Richtung zwei Uhr, gesichtet zu haben. Es könnte ein Mündungsfeuer gewesen sein, Herr Leutnant“, keuchte er.
Wortlos, sichtlich überfordert mit dieser Situation, richtete Leutnant Meininger seinen Blick wieder der Nebelbank entgegen, mit dem Gewehr im Anschlag. Nervös richtete er seinen Soldatenhelm. Stabsunteroffizier Steger griff in seine Jackentasche und zündete sich eine Zigarette an.
„Ein Mündungsfeuer? Aber man hat keinen Schuss gehört.“
Er nahm sein Fernglas und starrte in den auffällig wölbenden Nebel.
„Diese Waschküche kommt mir sowieso nicht geheuer vor“, murmelte er, wobei die Zigarette in seinem Mundwinkel wackelte. Doch plötzlich sah auch er einen Feuerblitz aufzucken, nur für einen Augenblick. Dann nochmal, zwei Mal kurz aus verschiedener Distanz und sogleich darauffolgend einen besonders grellen Lichtschein, als würde ein mächtiges Gewitter in der Nebelbank toben.
„ACHTUNG, MÖRSER!“, schrie Stabsunteroffizier Steger. Zugleich rammten die Soldaten ihre Köpfe in den Schnee, um sich vor den bevorstehenden Explosionen zu schützen.
Doch es passierte nichts.
Die einzigen Detonationen die zu hören waren, schlugen weit, weit entfernt ein. Stabsunteroffizier Steger zupfte an Leutnant Meiningers Jacke.
„Wir brauchen drei Männer, die da reingehen und die gottverdammte Gegend absichern.“
Doch anstatt ihm wenigstens mit einem Nicken zuzustimmen, starrte der Leutnant ihn nur verunsichert an. Stabsunteroffizier Steger verzog seine Mundwinkel und wendete sich dem Hauptgefreiten zu.
„Georg, schnapp dir einen MG- und einen Scharfschützen und dann schaut nach, was das verdammt nochmal war.“
Leutnant Meininger setzte gerade mit dem vorgehaltenem Zeigefinger zum Sprechen an, als der Hauptgefreite antwortete: „Wird erledigt, Heinrich.“
Apathisch schaute Leutnant Karl Meininger zu, wie der Hauptgefreite gemeinsam mit den auserwählten Soldaten über das freie Feld zur Nebelbank eilte.
„A-aber ich muss doch die Befehle erteilen“, stammelte der Leutnant.

Je näher die Soldaten der Dunstwolke entgegen traten, desto mehr verschluckte der Nebel ihre Gestalten, bis sie letztendlich wie Geister darin verschwanden. Aber bereits einen Augenblick später, zeichnete sich plötzlich die Silhouette des Hauptgefreiten Georg aus dem dichten Nebel wieder ab. Torkelnd kehrte er zu seinen Kameraden zurück.
Während der Hauptgefreite durch die Schneeverwehungen zum Grenadierzug zurück stampfte, schwankte er auffällig. Ein Schwarm Krähen hatte sich vor der Nebelbank platziert und krächzt. Einige der gefiederten Burschen breiteten ihre Flügel und flatterten wild, aber wagten sich nicht hinein. Erschöpft kniete der Hauptgefreiter Georg vor dem Leutnant und Stabsunteroffizier nieder, rammte sein Sturmgewehr in den Schnee und befreite sich keuchend vom Helm.
„Dort ist ein Bauernhof …,“ berichtete er atemlos, „ umgeben von Bäumen, die uns Schutz bieten. Die Dachgaube des Gebäudes … Sie dient als ein perfektes Versteck für einen Heckenschützen. Die MG und unser Scharfschütze“, keuchte er. „Beide sind in Stellung gegangen und halten genau drauf.“
Hauptgefreiter Georg hustete, spuckte in den Schnee und entschuldigte sich, weil ihm speiübel sei, wie er sich ausdrückte. Dann fuhr er fort: „Ich sah mich etwas um … In der Scheune … Aber da ist nichts. Ich habe alles erkundet. Unser gesuchter Heckenschütze … Er könnte sich durchaus im Haus befinden, Herr Leutnant.“
Stabsunteroffizier Steger runzelte die Stirn und blickte ihn ungläubig an.
„Mensch Georg, was erzählst du uns da? Allerhöchstens warst du ein paar Minuten in dieser Waschküche. Wie willst du die Gegend so schnell erkundet haben?“
„Nur ein paar Minuten?“ Der Hauptgefreite war immer noch außer Atem und wirkte zudem sehr blass. „Was soll das heißen, nur ein paar Minuten? Ich war länger als eine dreiviertel Stunde weg. Allein der Fußmarsch zum Bauernhof beanspruchte mindestens zehn Minuten!“
Stabsunteroffizier Heinrich Steger blickte streng in sein keuchendes Gesicht. Er sah es dem Hauptgefreiten an, dass ihm äußerst unwohl war und er zudem orientierungslos wirkte. Er musste offensichtlich sein Zeitgefühl völlig verloren haben. Der Stabsunteroffizier entschied sich, mit dem gesamten Grenadierzug zu den zwei Soldaten aufzurücken.
„Da ist noch was …“ Georg fasste Stabsunteroffizier Heinrich Steger am Arm. „Heinrich … mit dieser Gegend stimmt was nicht. Die Luft ist dort ungewöhnlich dünn, als würde man sich auf dem Gipfel des Mount Everest befinden.“

Mit dem Gewehr im Anschlag haltend, marschierte der Grenadierzug vorsichtig in den dichten Nebel hinein. Die Soldaten verteilten sich in der Gegend, so, dass der Sichtkontakt aber erhalten blieb. Es war dermaßen neblig, dass man nur wenige Meter vorausschauen konnte.
Schemenhaft bildeten sich vor ihnen die Konturen einiger Bäume. Eine unheimliche Stille umschloss der Nebel. Nichts war mehr zu hören, weder die fernen Mörsergranateinschläge noch das Krähen der Raben. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Zudem erschwerte die ungewöhnliche sauerstoffmangelnde Luft, wie sie eigentlich nur tausende Meter in der Höhe vorhanden war, zu atmen. Einige Männer klagten sogar über Übelkeit und Schwindelgefühle. Ein Gewehrschütze kniete am Baum und übergab sich. Selbst Stabsunteroffizier Steger fühlte sich merklich unwohl, überdies verlor er seinen Orientierungssinn was ihn veranlasste, auf seinen Kompass zu schauen. Die Nadel des Kompasses drehte wild gegen den Uhrzeigersinn. Als er auf seine Uhr schaute stellte er fest, dass der Sekundenzeiger sich nicht weiter bewegte. Alle Armbanduhren der Soldaten waren exakt um 9.25 Uhr stehen geblieben, wie es ihm jeder verwundert bestätigte.
„Vielleicht wurden hier biologische Waffen eingesetzt. Die Blitze sprechen dafür!“, flüsterte der Leutnant besorgt.
„Glaub ich nicht“, murmelte Stabsunteroffizier Steger. „Dann wären wir nämlich längst erledigt.“

Plötzlich tauchte aus dem Nichts der schemenhafte Umriss eines Gebäudes auf. Sofort versteckten sich die Soldaten hinter die Baumstämme. Ein paar Bäume weiter vorne sollten die vorangegangenen Soldaten in Stellung liegen aber abgesehen von ihren Waffen, fehlte von ihnen jede Spur. Vorsichtig schlichen der Stabsunteroffizier und der Hauptgefreiter Georg in gebückter Stellung an diesen Platz heran. Die Fußspuren der vermissten Männer führten dorthin. Der Abdruck ihrer Stiefeln und Körper waren deutlich zu erkennen. Das Maschinengewehr war durchgeladen und auf die Dachgaube gerichtet, und das Scharfschützengewehr stand ordentlich am Baumstumpf angelehnt. Nichts deutete daraufhin, dass die Männer ihre Stellung verlassen hatten oder gar in einen Kampf verwickelt wurden.
„Wie ist das möglich? Wo in Gottes Namen sind sie geblieben?“, fragte Georg völlig verwundert. „Die können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“
Heinrichs Augen rollten nachdenklich über die Baumkronen entlang. Vielleich hatte der Feind von Oben zugeschlagen? Doch außer Nebelschleier, der wie eine dichte Rauchschwade zwischen den Ästen vorbei zog, war nichts und niemand zu sehen. Vorsichtig betraten die Soldaten den Bauernhof.
Mittig auf dem Hof lagen zwei tote Pferde. Die übergroßen Einschusslöcher in ihren Leibern glühten und qualmten. Das verbrannte Fleisch zischte wie ein Steak auf dem Grill. Diese Tiere mussten wenige Minuten zuvor getötet worden sein.
Die gewaltigen Einschusslöcher erschauderten die Soldaten. Sogleich bildeten sie einen Kreis um die toten Tiere und richteten ihre Gewehre nervös in die Umgebung. Der Feind musste sich irgendwo unmittelbar in der Nähe aufhalten. Angst überkam sie. Der Atem des Feindes hauchte direkt in ihre Nacken.
Welche Waffe vermochte über solch eine verheerende Zerstörungskraft verfügen, rätselte Stabsunteroffizier Steger. Die Vermutung, dass diese Tiere von Mörsergranaten oder gar von einem Panzer erlegt wurden, schloss man aus. Nirgendwo waren Spuren eines Fahrzeuges im Schnee oder Überbleibsel einer Explosion zu entdecken. Sicherlich hatten die mysteriösen Blitze dies angerichtet, meldete sich der Panzerfaustschütze zu Wort. Seine Vermutung wurde aber von Georg energisch dementiert, denn als er die Gegend untersucht hatte, lagen die Kadaver noch nicht auf dem Hof und die Mündungsfeuer, sofern es welche waren, ereigneten sich bereits bevor er diesen Bauernhof erreicht hatte.

Plötzlich eilte einer der Infanteristen, der die Gegend erkundet hatte, zum Zugführer und berichtete aufgeregt, einige Leichen hinter der Scheune vorgefunden zu haben.
Wortlos starrte der Grenadierzug auf drei verkohlte Leichen. Nur anhand ihrer Stiefel konnte man erkennen, dass es sich bei ihnen um russische Soldaten handelte. Vermutlich waren sie sogar die gesuchten Heckenschützen, denn ihre Scharfschützengewehre steckten mit dem Kolben säuberlich, nebeneinander gereiht im Schnee. Ihre vermissten Leute waren das jedenfalls nicht. Stabsunteroffizier Heinrich Steger packte einige seiner Männer an die Schultern und schleuderte sie zurück.
„Haltet ihr etwa einen Kaffeeplausch?“, fuhr er sie empört an. „Was steht ihr hier alle auf einen Fleck herum? Soll man euch etwa mit einer einzigen Handgranate erledigen? Sichert diese verfluchte Gegend ab … Sofort!“
In diesem Moment meldete ein weiterer Soldat, die zwei vermissten Kameraden wahrscheinlich gefunden zu haben. Er vermutete es jedenfalls. Sie lagen hinter dem Haus, ebenfalls vollkommen verbrannt und auch sie konnte man nur noch anhand ihrer Stiefel identifizieren, die ausschließlich von der deutschen Wehrmacht getragen wurde. Jetzt war es gewiss.
Der Tod ihrer Männer stellte wieder weitere Fragen auf, denn es waren auch diesmal nirgendwo Fußabdrücke auf dem schneebedeckten Boden vorhanden. Doch irgendjemand musste sie schließlich dort hingeschafft haben, weil, man machte sich die Mühe, die Leichen fein säuberlich nebeneinander in den Schnee zu betten und obendrein hatte der Mörder ihre Arme verschränkt. Genauso wie bei einer ägyptischen Königsmumie.
„Wir gehen jetzt in das verdammte Haus rein und egal wer oder was sich dort aufhält, wird sofort abgeknallt. Verstanden?! Auch wenn es Zivilisten sind!“, befehligte Stabsunteroffizier Steger mit strenger Stimme.
„Ich glaube, dass ich die Befehle geben sollte, Herr Stabsunteroffizier“, entgegnete ihm Leutnant Meininger aufgebracht. „Ich bin der Zugführer. Ich bin Leutnant. Ich habe einen höheren Dienstgrad!“, fauchte er.
Der Tod seiner Untergebenen und die gefährliche Situation, in der sich sein Grenadierzug unmittelbar befand, hatte Leutnant Meininger wachgerüttelt. Mit vorgehaltenem Zeigefinger deutete er wahllos auf ein paar Soldaten.
„Sie, mitkommen … Mitkommen … Mitkommen … Mitkommen. Sie auch, Herr Stabsunteroffizier Steger. Wir gehen da jetzt rein und eliminieren jeden! Die Anderen sichern die Gegend ab und geben Feuerschutz! Haltet mir die Dachgaube in Schacht, Männer!“
Dann zog der Leutnant seinen Rucksack ab, entsicherte seine Maschinenpistole, ging voran und öffnete leicht zitternd die Haustür.

Vorsichtig betrat Leutnant Meininger mit einer vorgehaltenen MP 40 das Haus. Georg steckte, wie auch die anderen Soldaten, ein Bajonett auf sein Sturmgewehr. Vorsichtig, Schritt für Schritt, schlichen sechs Soldaten den Flur entlang und betraten dann die Türschwelle zur Küche. Dort stand ein gedeckter Tisch für vier Personen. Das Feuer im Kamin brannte. Die Wanduhr war seit 9.05 Uhr stehen geblieben. Georg näherte sich dem Kamin, über dem ein Kessel vor sich hin köchelte. Sachte hob er mit der Spitze des Bajonetts den Deckel an. Ein appetitlicher Duft stieg empor, der sich rasch in der Küche verbreitete. Der Stabsunteroffizier schaute Georg fragend an.
„Nur Suppe“, antwortete er kopfschüttelnd.
Mit jedem Schritt, den Stabsunteroffizier Steger in Richtung der Tür ging, die zum nächsten Zimmer führte und nur angelehnt war, knarrte der Holzboden. Je näher er dieser Tür entgegen trat, desto stärker pochte sein Herz. Der Schweiß lief ihm unter seinem Helm über die Stirn herab. Vorsichtig, mit vorgehaltenem Gewehr und mit dem Finger am Abzug haltend, stand er nun direkt davor und war gerade dabei seinen Gewehrlauf in den Spalt zu stecken, um die Tür langsam aufzuziehen.
Plötzlich schlug die Küchentür hinter ihnen abrupt zu, hindurch sie gekommen waren, die zum Korridor nach außen führte. Verdutzt blickten sie hinter ihren Schultern und hörten, wie sie verriegelt wurde. Genau in diesem Augenblick flog ein ovaler Gegenstand durch den Spalt der anderen geöffneten Tür, vor der Heinrich Steger stand, prallte gegen die Wand, fiel dann zu Boden und rotierte noch einen Moment. Heinrichs Augen öffneten sich weit und vor Schreck überschlug sich seine Stimme: „GRANATE!“

Doch es war zu spät, denn der Fluchtweg war versperrt. Einer der Männer rüttelte noch panisch an der Tür, während die anderen Soldaten, bis auf Leutnant Meininger und der Stabsunteroffizier, sich zu Boden warfen und ihre Köpfe mit ihren Armen schützten. Leutnant Meininger resignierte und blickte entsetzt. Stabsunteroffizier Steger ließ daraufhin einen lauten Schrei los und warf sich mit zugekniffenen Augen mit seinem Körper auf die Handgranate. Leutnant Meininger tat nichts, starrte nur auf den mutigen Stabsunteroffizier, der sich soeben dazu entschlossen hatte, sein Leben für seine Kameraden zu opfern, während die mit ihren Händen schützend auf dem Boden kauerten.
Doch nichts geschah.
Langsam öffnete Heinrich Steger wieder seine Augen, griff unter seinem Körper, hielt den ovalen Sprengkörper in seiner Hand, begutachtete die Granate und erhob sich. Er schmunzelte.
„Der dämliche Idiot hat den Stift nicht abgezogen.“
In diesem Moment hörte er ein Geräusch, welches jeder Soldat nur zu gut kannte. Das spezielle Geräusch vom schabenden Metall, das Geräusch eines abgezogenen Stiftes, der eine Handgranate aktivierte. Eine weitere Granate flog durch den Türspalt doch diesmal war Heinrich Steger darauf vorbereitet, fing die Granate auf, warf sie wieder hindurch und stieß die Tür zu.
Eine heftige Detonation erschütterte das Haus. Alles wackelte; Glas zersplitterte, Putzbrocken flogen hörbar umher und die Tür wurde aus der Zarge gerissen. Dann stieg dichter Staub aus dem Raum, der die ganze Küche erfüllte. Hustend erhoben sich die Männer.
„Los, rein da! Keine Sorge, das hat niemand überlebt“, sagte der Stabsunteroffizier. Daraufhin stürmte ein Soldat hinein. Kaum hatte er das qualmende Zimmer betreten, schoss er schreiend eine Salve mit der MP 40 gegen die Decke des Raumes.
„Du Mistkerl! Ich habe ihn! Ich habe ihn! Du Schwein!“, brüllte er während er fortan sein Magazin leerschoss, es hastig wechselte, wieder gegen die Decke hielt und erneut das Dauerfeuer eröffnete. Die Anderen stürmten hinein, richteten instinktiv ihre Waffen ebenfalls gegen die Decke und schossen.
Das Chaos brach aus. Die Soldaten schossen unkontrolliert gegen die Decke. Die Geschosse zerfetzten Holzbalken, Putzbrocken flogen explosionsartig umher und Glas zersplitterte.
„Feuer einstellen! Sofort Feuer einstellen!“, brüllte der Stabsunteroffizier aufgrund seines Bedenken, dass die Decke einstürzen würde. Als die Magazine leer geschossen waren, berichtete Gefreiter Tillmann, dass er etwas die Decke entlang huschen gesehen hätte. Er berichtete, eine schwarze, transparente Gestalt, ähnlich wie ein Schatten wäre kopfüber, wie eine Spinne geschwind die Decke entlang gekrabbelt und in das Loch in der Ecke geflüchtet. Apathisch blickend und zitternd zeigte er auf die aufgerissene Ecke der Decke.
„Herr Stabsunteroffizier Steger, ich schwöre bei Gott … Ein Mensch war das nicht!“, stammelte er. In seinen Augen spiegelte sich die pure Angst.
Nach diesen ganzen Merkwürdigkeiten die passierte waren zu urteilen, wunderte dem Stabsunteroffizier nun nichts mehr und befahl nach oben auf den Dachboden aufzurücken. Wortlos zog Leutnant Karl Meininger seinen Helm ab, lehnte gegen die Wand und rutschte mit dem Rücken weinend entlang. Bis er mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden hockte. Hauptgefreiter Georg kniete sich zu ihm herab und gab ihm eine schallende Ohrfeigen.
„Herr Leutnant … Herr Leutnant! Stehen Sie sofort auf! Los doch! Sie müssen die Nerven behalten! Der Feind ist auf dem Dachboden!“, brüllte er.
„Lass ihn, Georg“, antwortete Stabsunteroffizier Steger monoton. „Der ist fertig. Wir gehen ohne ihn hoch. Ich übernehme jetzt das Kommando.“

Langsam stiegen sie die knarrende Treppe hinauf zum Dachboden. Stabsunteroffizier Steger zielte sofort auf das Fenster der Dachgaube, als sein Kopf aus der Luke ragte, und dann nach rechts. Auf der linken Seite stand ein Schrank, der durch das einfallende Licht des Fensters einen Schatten warf und noch bevor er sein Sturmgewehr darauf hielt, verwandelte sich dieser Schatten in eine menschliche Gestalt. Heinrich Steger starrte entsetzt, er war einfach zu verblüfft, als dass er handeln konnte.
Mit bestimmenden Schritten ging diese Schattengestalt bedrohlich auf ihn zu, ballte eine Faust und ein gewaltiger Feuerstoß schoss heraus, der in seinem Gesicht zerberste. Schwarz, wie ein Stück Kohle, fiel der Stabsunteroffizier Steger rücklings brennend an seinen verdutzten Kameraden die Treppe hinunter.
„Heinrich hat`s erwischt!“, schrie Georg, „Heinrich hat`s erwischt! Macht die verfluchte Drecksau fertig!“
Als die Soldaten gerade auf die sich nähernde Kreatur mit dem Gewehr zielten, schnellte sie urplötzlich in die Höhe. Sie hielten ihre Gewehre nach oben, feuerten eine Salve ab aber die Geschosse prasselten lediglich in das Dachholzgebälk. Die Schattengestallt hatte sich praktisch mit den dunklen Winkeln verschmolzen und war plötzlich spurlos verschwunden. Eine weitere Schattenkreatur wuchs plötzlich lautlos aus den unteren Treppenstufen hervor und noch bevor die Soldaten etwas bemerkten, ballte das Wesen seine Faust und richtete auf gleicher Weise zwei weitere Soldaten hin, indem es ihnen in ihre Hinterköpfe feuerte. Georg und sein Kamerad drehten sich aufgeschreckt herum, schossen sofort wahllos umher aber die Kreatur rettete sich mit einem Sprung, schnell wie eine abgeschossene Rakete, hangelte am Dachgebälk und verschwand spurlos in dessen Schatten.
Der Schock saß tief bei den letzten zwei Soldaten, als sie fassungslos zur Dachspitze starrten. Das Letzte was der Hauptgefreiter Georg sah, waren jeweils zwei Kugelblitze, die von oben herab wie eine Feuerbrunst über sie walzte. Dann stürzten die zwei getöteten Soldaten rücklinks die Treppe herab, direkt auf die anderen Leichname.

Leutnant Karl Meininger hockte mit ausgestreckten Beinen in der Küche, drehte seinen Helm auf dem Boden im Kreis und schaute dabei apathisch zu, wie dieser ausrotierte. Dann wiederholte er dieses Spiel, immer und immer wieder.
Aus dem Loch in der Dielendecke krabbelte auf allen Vieren langsam eine schwarze transparente Kreatur heraus, kroch kopfüber die Wand herunter, wie eine Spinne, und stellte sich provokativ mit verschränkten Armen vor ihm. Meiningers Blick erstarrte. Über seinen Mundwinkel zuckte der Ansatz eines Lächelns. Die Kreatur blieb stehen und regte sich zuerst nicht. Das Wesen neigte seinen Kopf zur Seite und blickte hoch. Scheinbar interessierte es sich für die Lampe. Neugierig berührte seine Klaue die Glühbirne, worauf die Küchenlampe sachte schaukelte. Während Es sich bewegte, vernahm Leutnant Meininger ein merkwürdiges Surren, wie er es bisher niemals zuvor gehört hatte. Behutsam zog er seine 08 Luger aus dem Halfter und richtete die Pistole gemächlich gegen diesen unheimlichen Schatten. Vielleicht hatte die Kreatur ihn noch gar nicht wahrgenommen? Vielleicht gelang Es nur zu sehen, wenn man sich bewegen würde, dachte Leutnant Meininger.
Das Gebrüll der hereinstürmenden Soldaten war schon zu hören und sein Finger rieb am Abzug der Pistole. Was er aber nicht bemerkte, weil er sich konzentriert dem Ding widmete – etwas Ähnliches hatte er bisher noch nie gesehen und blickte es gleichzeitig fasziniert an –, hinter ihm stand längst die zweite Gestalt, ballte die Faust und richtete sie langsam gegen seinen Kopf. Als Leutnant Meininger die Kreatur genau anvisierte und zum Schießen bereit war, lösten sich plötzlich beide Schattenwesen einfach auf. Die unheimlichen Kreaturen waren plötzlich spurlos verschwunden.

Zur gleichen Uhrzeit, an einem anderen Ort, in der fernen Zukunft im Jahre 2285

„Hast du das Hologramm abgeschaltet?“, fragte der Knirps.
„Nein, du? Ich könnte mir vorstellen, dass INKA 07 unser Game wiedermal unterbrochen hat, diese fiese Spielverderberin. Möge der Trojaner über ihren Prozessor trampeln!“, schimpfte das kleine Mädchen.
Die zwei Kinder waren offensichtlich verwirrt. Es war ihnen unerklärlich, weshalb es zu einem Verbindungsabbruch ihres Online Games gekommen war. Sie standen sich mit ihren hautengen schwarzen Overall bekleidet auf einer Spielplattform gegenüber, die von einem Computer gesteuert und kontrolliert wurde. In ihren Händen hielten sie jeweils eine Fernbedienung. Zugleich öffneten sie ihre Helmvisiere.
„Das darf doch nicht wahr sein! Wir standen kurz vorm zweiten Level und du ziehst den Stift nicht ab, du Doofi.“ Der Zehnjährige schüttelt fassungslos seinen Kopf. „Beim nächsten Mal ziehst du gefälligst den Stift ab. Das sind Handgranaten, die man zuerst scharf machen muss und keine Knallerbsen, die man einfach auf den Boden wirft, du Blödi!“
„Selber Blödi, selber!“, konterte seine jüngere Schwester mit gekniffenen Augen. „Dafür habe ich drei Russen und fünf Deutsche erledigt, du bloß zwei Deutsche und zwei blöde Pferde. Ätschi-Bätschi!“, sagte sie und streckte ihrem Bruder die Zunge raus.
Ein Hologramm, in Form eines Frauenkopfes, projizierte sich in die Mitte des Raumes.
„Kinder, wie habt ihr es wiedermal geschafft, mein erstelltes Passwort zu hacken? Ihr spielt ein verbotenes Timegame! Wenn die gesendeten Daten des Raum-Zeit- Kontinuums -Satelliten hierher in unser Haus zurückverfolgt werden, wird die Regierung euch beide zur Rechenschaft ziehen. Seid ihr euch dessen überhaupt bewusst? Immerhin seid ihr schon über sechs Jahre alt und somit strafmündig!“
Die Geschwister zogen ihre Helme ab und warfen sie schmollend in die Ecke.
„Das ist voll gemein. Beinahe wären wir ein Level weiter gekommen. Warum ist dieses Timegame eigentlich verboten? Wir spielen doch in einer Zeit, lange bevor es die globale Katastrophe gegeben hatte und die Menschheit nur durch eine simple Software, die eine künstliche Atmosphäre erzeugte, gerettet werden konnte. Die Leute, die wir killen, sind doch sowieso schon seit Urzeiten tot. Also, was macht das schon, wenn wir sie vorher platt machen?“
Der Computerkopf neigte sich sachte und lächelte, während er sich permanent im Kreise drehte.
„Richtig meine Lieben, aber Recherchen haben ergeben, dass der Urahne des Programmierers dieser lebensrettenden Software unter anderem im 2. Weltkrieg gedient hatte und somit die Gefahr besteht, diesen zu eliminieren. Dies würde bedeuten, der Erfinder dieser Software würde nie geboren werden und die Existenz der gesamten Menschheit wäre Folge dessen gefährdet. Außerdem ist es nicht auszuschließen, dass ihr euch bei diesem Onlinespiel verletzt. Die Geschosse aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und seien sie noch so veraltet, könnten euch trotz eurer Schutzweste verletzen. Darum dieses Verbot. Ich schlage euch ein anderes Timegame vor, eines aus dem Genre Sport. Diesmal dann wird euer Gegner nicht so leicht zu schlagen sein, denn ihr Zwei dürft Tennis spielen und eure Gegner werden sein … Steffi Graf und Boris Becker.“
„Steffi wer? Boris Bäcker? Backt der etwa noch Brötchen in einem Backofen?“, lachte der Junge. „Was soll denn das überhaupt sein … Tennis?“, fragte er naserümpfend.
„Ist mir egal. Wir lernen es beim Spielen. Du nimmst dir Boris vor und ich die Steffi. Die machen wir jetzt auch noch platt“, kicherte das Mädchen.
INKA 07 schmunzelte, zwinkerte mit ihren virtuellen Augen und verschwand verzerrend von der Bildfläche. Die Geschwister stülpten sich wieder die Helme über ihre Köpfe und klappten das Visier herunter. Ein Tennisplatz aus dem Jahr 1987 projizierte sich im Raum.
Ein neues Match begann.
 
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Kommentare  

Klasse Geschichte mit einem wirklich überraschendem Ende.

Daniel Freedom (18.10.2013)

Was für eine tolle Wendung. Die Geschichte ist ebenso mysteriös wie spannend - fein.

Andreas Tröbs (19.03.2012)

Schöne spannende Story. Hat auch mich sehr gut unterhalten.

doska (14.01.2012)

Ich bedanke mich bei dir

Francis Dille (09.01.2012)

Toll geschrieben. Flüssig und leicht zu lesen. Unwahrscheinlich spannend mit verblüffendem Ende. Kurz: Sehr gelungen!

Gerald W. (08.01.2012)

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