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11 Seiten

Ahrok - 58. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Achtundfünfzigstes Kapitel: Abschied

„Es ist mir eine Freude, Sie wieder in Märkteburg zu begrüßen, Nikolas.“
„Vielen Dank, Lord Inquisitor von Braun, aber sparen wir uns doch bitte die Formalitäten und kommen schnellstmöglich zur Sache. Weshalb haben Sie mich von einem Auftrag hierher zurückbeordert?“
Die Reise bis in den Norden der Swanmark war bei diesem Winterwetter ungemein beschwerlich gewesen. Verschneite Handelsstraßen, unpassierbare Waldwege und das allgegenwärtige Unbehagen, das seiner Person permanent entgegen schlug, hatten die letzten zehn Tage zu einer Zerreißprobe für seine Nerven werden lassen.
Er hatte sein Pferd auf dem Weg hierher beinahe zu Tode geritten. Nun war er durchgefroren und am Ende seiner Kräfte, aber er konnte sich erst etwas Ruhe gönnen, nachdem er das Gespräch mit der Ordensmeisterin Gabriela von Braun hinter sich gebracht hatte. Das verlangten Etikette und Kodex gleichermaßen, dennoch hatte er weder die Kraft noch die Geduld, um jetzt noch belanglos mit seiner Mentorin zu plaudern.
„Mein lieber Nikolas.“ Die ergraute Dame wies ihn mit einer einladenden Geste an, auf dem mit rotem Samt bezogenen Polstern des Stuhls Platz zu nehmen. „Immer der emsige Arbeiter. Nie eine Pause, immer wachsam und immer so ernst.“
„Ich erfreue mich im Stillen an den kleinen Dingen im Leben, wie hängenden Ketzern und dem Geschrei einer brennenden Hexe.“
Sein Gegenüber lächelte und schwenkte den vergoldeten Weinkelch.
„Also dann kein Wein?“
„Nein, danke.“
Nikolas van Hauten ließ seinen Blick durch die Stube schweifen. Es war Jahre her, dass er in Märkteburg operiert hatte, aber die Einrichtung hier hatte sich seit seiner Initiation kaum verändert.
Es gab noch immer den vergoldeten Thron aus festem Mahagoni mit den Armlehnen in der Form von Löwenköpfen, auf dem Gabriela von Braun so gerne saß. Eine Galerie von Bildern säumte die Wände des Zimmers und sollte bei Besuchern den Anschein erwecken, dass die Inquisitorin Kunst zu schätzen wusste. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, dass sie die Bilder auch nur ein einziges Mal betrachtet hatte. Vermutlich gehörte es aber zu den Aufgaben eines Ordensmeisters solche Dinge lieben zu müssen.
Direkt neben ihrem Thron stand noch immer derselbe, kleine Beistelltisch aus Ebenholz, der farblich so gar nicht zum Rest der Einrichtung passte. Auf diesem ruhte dieselbe, goldene Kanne in der sich der gleiche, trockene Rotwein befand, den die Inquisitorin seit Jahren so schätzte.
Gabriela von Braun war eben eine Frau, die Regelmäßigkeit und Ordnung von sich und ihrer Umwelt abverlangte. Sie hatte sich seit ihrem ersten Treffen von vor über zwanzig Jahren keinen Deut verändert.
„Ich habe Ihren letzten Bericht kurz überflogen, Nikolas. Es war die beste Entscheidung, die Sie unter den gegebenen Umständen treffen konnten.“
„Natürlich war sie das. Schließlich haben Sie mich gelehrt, solche Entscheidungen zu treffen.“
„Wohl wahr. Sie haben sicherlich bereits gehört, dass wir hier in Märkteburg so einige Probleme hatten in den letzten Monaten.“
„Nein. Man hat versäumt mich darüber zu unterrichten.“
Natürlich hatte man es nicht „versäumt“. Es war nur eine oft genutzte Redewendung, um die unschöne Wahrheit zu verschleiern. Er wusste es und sie ebenfalls. Niemand hatte mit ihm geredet, weil es kaum jemanden gab, der es ertrug auch nur in demselben Raum mit ihm zu sein.
„Nun, dann will ich Sie kurz ins Bild setzen. Wir haben oder hatten es mit einer Invasion von Weißen zu tun. Ebenso gehen wir dem Verdacht nach, dass es Verderbtheit inmitten der Stadtwächter gibt.“
„Verderbtheit gibt es überall vom Bettler bis hoch ins Königshaus. Niemand ist davor gefeit.“
„Da sprechen Sie ein wahres Wort. Dennoch ist es umso gefährlicher, ein solches Ärgernis innerhalb der Stadtwache zu wissen. Es öffnet Tür und Tor für unsere Feinde.“
„Ihr Wort ist der Götter Gesetz, Lord Inquisitor.“
„Sie kümmern sich also darum, Nikolas?“
„So wie Sie es selbst tun würden, Lord Inquisitor.“
Sie reichte ihm ihre Hand und er küsste den großen Ring auf ihrem Mittelfinger, bevor er sich demütig entfernte.
Auf seinem eiligen Weg hinaus bemerkte er nicht den Mann, der lautlos aus dem Schatten trat und sich der Ordensmeisterin näherte.
„Ich bitte demütigst um Vergebung, aber bitte erlauben Sie mir die Frage warum Sie sich mit diesem Scheusal abgeben, Lord Inquisitor?“
Die Stimme war weich und warm, aber dennoch war jedes einzelne Wort wohl überlegt und gefährlich wie ein Dolch. Solch eloquente Redekünste straften das verunstaltete Äußere das Mannes Lügen. Rosige, zollbreite Narben auf Stirn und Wange zeugten davon, dass etwas mit großen, langen Krallen vor nicht allzu langer Zeit sein Gesicht zerfleischt hatte.
Er nahm auf dem Stuhl Platz, den Nikolas van Hauten gerade verlassen hatte.
„Man braucht ihn nur anzusehen und weiß, dass das Urböse zugegen war, als er gezeugt wurde.“
„Ihre Erfahrung in allen Ehren, Herr Phoenix, aber Sie haben keine Ahnung, wie bedeutsam dieser Mann für uns ist. Er ist einer der Unberührbaren.“
„Würden Sie mir das bitte etwas genauer erläutern. Dieser Terminus ist mir bislang noch nicht untergekommen.“
„Also schön. Wir alle, Menschen, Zwerge, Elfen, Trolle, werden seit den Tagen von Atomus mit einem schrecklichen Fluch geboren. Die verderbte Magie steckt in einem jeden von uns. In einem mehr, in den Glücklichen weniger. Diese Verbindung zum Äther, die vor vielen Tausend Jahren entstand, können zwar nur die Wenigsten spüren, aber nachts in unseren Träumen, da wandern wir manchmal durch diese fremde Welt, die damals mit der unseren zusammenstieß und seither mit ihr verbunden ist.“
„Gut und schön, die theoretischen Grundlagen der Sphärenkonjuntion sind mir durchaus bekannt.“
„Sehr gut, dann muss ich an der Stelle nicht weiter ausholen. Einem Unberührbaren fehlt von Geburt an diese Verbindung zum Äther. Wenn er schläft, dann träumt er nicht, wenn er lacht, dann ist sein Herz dennoch leer und grau und was noch viel bedeutender ist, Magie kann in seiner Gegenwart nur sehr schwer gewirkt werden. Er ist wie ein Loch im Äther, weshalb sich Unberührbare als unersetzlich in den Reihen der Hexenjäger erweisen.“
„Ich verstehe.“
„Jedoch… wie Sie bereits selbst bemerkt haben, fällt den meisten, anderen Menschen auf, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie können es nicht sehen, sie können es weder riechen noch hören, noch erklären, aber vom ersten Moment an spüren sie, dass diese Leute anders sind und möchten ihnen dafür am liebsten den Hals umdrehen. Ist es nicht so?“
„Ja. Ganz genau so ist es. Ich hätte ihm so gern das Gesicht zerschnitten, nur um es nicht mehr sehen zu müssen.“
„Das ist das große Problem bei der Rekrutierung von Unberührbaren. Sie haben in der Welt dort draußen eine ungeheuer kurze Lebensspanne. Wenn sie nicht gleich nach der Geburt von der eigenen Mutter ersäuft werden, weil diese den Anblick ihres eigenen Kindes nicht ertragen kann, so schaffen sie es dennoch selten bis hin zur Pubertät.“
„Es ist also ein Glücksfall, dass sie ein solches Monster rechtzeitig gefangen haben.“
„In der Tat. Aber lassen wir den guten van Hauten doch seiner Arbeit nachgehen und wir besprechen noch einmal die genauen Konditionen des Vertrages. Abgesehen von ihrer Unwissenheit auf dem Gebiet der Unberührbaren scheint mir Ihre Republik nämlich recht weitsichtig zu sein.“

Graf Herbert von Lichtenstein hatte die letzten zwei Stunden nach seiner Rückkehr aus dem Hause Bärenburg allein in seinem Arbeitszimmer verbracht, um den Tag zu verdauen, der ihm so schwer auf den Magen geschlagen war.
Er hatte sich den ganzen Tag mit dem Grafen um die Eckpunkte des Ehevertrages gestritten. Nach ein paar Stunden dann waren sie sich zumindest bei der Höhe des Wittums und der Morgengabe einig geworden, aber was die Mitgift und den Brautschatz betraf, stellte der Ehemann in spe bislang reichlich überzogene Forderungen. Noch dazu wollte er sich nicht auf einen Hochzeitstermin vor dem Sommer einlassen. Dem zimperlichen Kerl war eine Heirat im Winter zu kalt.
Möglicherweise würde eine Verlobung jedoch bereits ausreichen, damit Herbert seinen neuen Schwiegersohn in der Expedition des Grafen von Greifenfels unterbringen konnte.
Morgen würden die Gespräche fortgesetzt werden und wenn sie, vermutlich dann am Ende der Woche, einen gemeinsamen Nenner gefunden hatten, so musste dann nur noch die Zustimmung des zwergischen Lehnsherren eingeholt werden. Es war eine reine Formalität heutzutage. Diese Zwerge mischten sich nie in menschliche Eheschließungen ein.
Er wollte sich gerade nachschenken, als er merkte, dass er nun auch den zweiten Krug geleert hatte. Der Kopf war ihm schwer und der viele Wein rumorte in seinem Magen, aber es ging ihm immer noch besser als bei seinem Gespräch mit der Familie von Bärenburg.
Nun denn, er sah es als Zeichen der Götter, die ihm zuriefen „Zwei große Krüge sind genug“.
Es war Zeit Ariane von den Neuerungen auf dem Ehemarkt zu berichten, auch wenn es sie seine Mühen sicherlich nicht zu schätzen wusste. Manchmal musste man seinen Kindern eben einen Stoß in die richtige Richtung geben.
Er erhob sich aus dem Stuhl und musste auch gleich wieder nach diesem greifen, um das Gleichgewicht zu erhalten. Der Wein trübte ihm etwas die Sicht und es dauerte einen kurzen Moment ehe er wieder fest mit beiden Beinen auf der Erde stand. In seiner inneren Unruhe hatte er wohl doch einen zu viel über den Durst getrunken.
Der Nebel vor seinen Augen lichtete sich und so schaffte er es ohne weitere Zwischenfälle den Gang entlang und die Treppe hinauf in das Obergeschoss.
Vor dem Zimmer seiner Nichte angekommen strich er sich die Falten aus dem Gewand und klopfte in altbekannter Manier die ersten acht Töne Swanmarker Marsches am Türrahmen. Es war ein so entzückendes Musikstück voller Kraft und Elan.
Niemand öffnete ihm.
„Ariane. Ich bin es. Bitte öffne die Tür.“
Das störrische Mädel antwortete auch jetzt nicht.
Er hatte keine Lust, um in diesen späten Abendstunden noch Spielchen mit ihr zu spielen. Seine Hand legte sich auf die Klinge.
„Ariane, ich komme jetzt hinein.“
Die Tür schwang auf und zeigte ihm ein dunkles, verlassenes Zimmer.
Er wusste sofort, dass sie sich über jede seiner Anweisungen hinweggesetzt hatte und wieder zu diesem blonden Tunichtgut gelaufen war.
Nur dem Umstand, dass bereits eine beträchtliche Menge Alkohol in seiner Blutbahn zirkulierte, war es zu verdanken, dass er diesen Verrat mit Fassung trug. Der Graf schloss die Tür und machte sich auf den Weg ins Krankenquartier, um seiner Nichte die Standpauke ihres Lebens zu halten.
Mit langen, kräftigen Schritten marschierte er durch sein Haus wie ein junger Soldat in Erwartung einer ehrenhaften Schlacht. Dieses Gör konnte jetzt aber etwas erleben. Sie redete mit ihm von verschiedenen Seiten des Zimmers aus? Hausarrest! Sie saß bei ihm auf dem Bett? Hausarrest bis zur Hochzeit bei Kürzung all ihrer Privilegien. Aber lag sie, mögen die Götter das verhüten, in seinen Armen, so würde diese von ihr so sehr verabscheute Hochzeit noch morgen stattfinden! Vertragsbedingungen hin oder her.
Er riss die Tür zum Quartier des lüsternen Strolches auf und stockte in seiner Wut, als er die zerwühlten Betten ebenfalls leer vorfand. Keine Kerze, keine Licht, kein beißender Geruch nach den Resten einer Mahlzeit oder nach zwei Kerlen, die sich keiner Duftwässer bedienten. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Er verließ nach einer kurzen Suche das leere Haus, um im Garten nach den Vermissten zu suchen, als er auf Albert Steiner traf, der gerade aus den Stallungen kam. Seltsamerweise war der Platz, auf dem seine Lieblingskutsche stehen müsste, ebenfalls leer.
„Albert? Albert!“, er winkte den Mann zu sich.
„Ja, Herr Graf?“
Sein Haushofmeister eilte umgehend an seine Seite.
„Albert, wo sind unsere Gäste?“
„Die sind weg, Herr Graf.“
„Weg?“
„Jawohl.“
„Tja… schön! Und meine Kutsche? Was ist mit der?“
„Die ist auch weg, Herr Graf. Zusammen mit ihrer Nichte.“
„Gibt es irgendetwas das nicht weg ist, Albert?!“
„Nun… ich bin noch da mein Herr.“
„Herrgott Albert, das war eine rhetorische Frage! Weißt du, wohin die drei verschwunden sind.“
„Nein, mein Herr. Der Zwerg hat sich seine Sachen aushändigen lassen und ist dann mit dem Jungen zur Tür hinaus spaziert.“
„Einfach so?“
„Einfach so, Herr Graf.“
„Ohne Gold zu verlangen oder Bier oder Schmuck.“
„Jawohl.“
Herbert von Lichtenstein verstand die Welt nicht mehr. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, aber er wusste nicht was. Aufgewühlt marschierte er in kleinen Kreisen um seinen Hofmeister herum.
„Und Ariane? Was ist mit der?“
„Das junge Fräulein hat sich vor etwa zwei Stunden dazu entschlossen, eine kleine Kutschfahrt durch die Stadt zu machen.“
„Eine Kutschfahrt durch die Stadt? Albert, sie hat so etwas noch nie getan.“
„Wenn Sie mir erlauben, Herr Graf, aber die Frauen stecken voller unberechenbarer Launen.“
„Da stimmt etwas nicht, da stimmt etwas nicht… Sattel Klothilde und mach sie bereit für einen Ausritt. Ich ziehe mich derweil um.“

Ahrok und Ragnar waren wie üblich schweigend durch die ihnen altbekannten Straßen im Westbezirk gewandert und standen jetzt wieder vor den großen, immer geöffneten Toren zu Thans Halle.
Der Tempel des Totengottes bot schon bei Tage keinen schönen Anblick, warum mussten sie ihn immer nur dann aufsuchen, wenn es dunkel war.
„Than sei mit euch, werte Besucher“, begrüßte sie ein Priester.
„Dein scheiß Gott kann mich mal kreuzweise und jetzt lass uns durch.“
Ragnar hatte die letzten Stunden kein Wort mehr mit ihm gewechselt, aber diesem Ausbruch nach zu urteilen, gab es da noch immer unüberwundene Differenzen zwischen ihnen beiden. Nicht, dass Ahrok gerade sonderlich viel an einer Aussprache lag oder er auch nur einen Hauch Sympathie für den Zwerg hegte, der ihn so unglaublich brutal von seiner großen Liebe fortgerissen hatte. Langsam glaubte er daran, dass dieser Zwerg von besonders bösartigen Göttern gesandt worden war, um ihn davon abzuhalten, glücklich zu werden.
Der Valr sabotierte all seine Beziehungen, schleifte ihn von einem Massaker zum nächsten und trat ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Gemächte. Das konnte doch alles kein Zufall sein.
„Ah, die beiden Herren mit ihrer großen, abartigen Familie, wenn ich mich recht entsinne.“
Der Glatzkopf, der diese Worte an sie richtete, kam ihm gänzlich unbekannt vor.
„Ja. Genau die“, stieg er dennoch in das Gespräch ein.
„Was ist denn heute Euer Begehr?“
„Ich suche meinen Bruder.“
„Nun, dann habt Ihr erneut mein Beileid, wenn Ihr hier nach ihm suchen müsst. Wie lautet denn sein Name, dann kann ich in unseren Büchern nachsehen, wo er abgeblieben ist.“
Ahrok kratzte sich den Nacken, als sich ihm dieses widerliche Jucken zwischen die Schulterblätter legte. All die aufgebahrten Toten und die Fliegen ließen ihn sich noch unwohler fühlen, als noch vor ein paar Minuten.
„Ich glaube nicht, dass er unter seinem Namen hier herkam.“
„Es gibt nur sehr wenige Leute die nicht unter… Oh, ich verstehe. Er war also jemand, der enge Bekanntschaft mit dem Henker geschlossen hat.“
Ahrok nickte.
Der Haushofmeister des Grafen hatte ihm mitgeteilt, dass die vier Körper von denselben Leuten abgeholt worden waren, die auch die Richtstätten von Leichen befreiten, wenn sie zu verfault und zerfallen waren, um noch zur Belustigung oder Abschreckung zu dienen.
„Er muss vor etwa einer Woche hier angekommen sein.“
Der Priester ging zu einem Podest, auf dem ein dickes, ledergebundenes Buch ruhte und winkte ihn heran. Er blätterte ein paar Seiten zurück.
„Ah ja, wir haben hier eine offizielle Lieferung von vor neun Tagen. Sehr ungewöhnliche Zusammenstellung der Toten.“
„Ja, ich nehme an, dass das die richtige ´Lieferung´ ist.“
Ahrok hatte arge Probleme damit, dass der letzte Transport seines Bruders rein sachlich als Lieferung bezeichnet wurde, aber er vermied es, den Priester darauf anzusprechen.
„Sie müssen wissen, dass die Bestattung dieser armen Seelen gemeinhin eher unschön ausfällt. Es werden von der Stadt keine Mittel für die Begräbnisse von Verbrechern bereitgestellt. Keine Zeremonie, keine separaten Grabstellen, keine Blumen oder Gedenksteine. Einfach nur ein großes Loch im Boden.“
„Er war kein Verbrecher“, murmelte Ahrok leise, aber der Priester ging nicht darauf ein.
„Ich kann Sie zu der Stelle führen, an der seine Überreste liegen.“
„Ja… bitte.“
„Dann folgen Sie mir.“
Ahrok begleitete den Priester des Totengottes hinaus in den Winterabend und war überrascht, dass Ragnar sich ihnen anschloss. Sie verließen sehr schnell die ausgetretenen Wege und betraten ein gänzlich schmuckloses Areal, welches wohl das ungepflegteste des ganzen Gartens war. Man sah sofort, dass die harte Erde hier an einigen Stellen erst vor Kurzem umgegraben worden war.
„Dort hinten ist es.“
Ihr Begleiter wies auf ein Stück Land, das sich in keinster Weise vom Rest der trostlosen Gegen abhob.
Ahrok trat näher und fand nichts weiter als frischen Dreck.
„Das hier ist alles?“
„Ich sagte ja bereits, dass eine angemessene Bestattung von niemandem bezahlt wird. Wollen Sie vielleicht im Nachhinein jetzt das Silber aufbringen, um Ihren Bruder umbetten zu lassen?“
„Wie viel würde es denn kosten?“
„Etwa fünfzig Thaler.“
„Das kann es mir nicht leisten…“
„Ich verstehe Ihr Dilemma. Trösten Sie sich damit, dass er nun in Thans Armen ruht und es dem Rabenfürst egal ist, wie der Körper bestattet wird. Vor ihm sind alle gleich. Ach, und… tun Sie mir bitte einen Gefallen. In diesem Grab liegen die Körper und Körperteile von zwölf oder vielleicht auch vierzehn Männern und Frauen – wühlen Sie bitte nicht dazwischen herum. Weder Than noch wir würden das sonderlich mögen.“
„Verstanden.“
„Gut. Dann lasse ich Sie nun allein. Sie finden den Weg hinaus dann sicher von allein.“
Ahrok nickte nur und starrte dabei auf die Erde zu seinen Füßen. Zwei Fuß, vielleicht ein paar Armlängen tief unter ihm lag Sebastian. Er schob das Kinn vor und versuchte eine der Erinnerungen an seinen Bruder zu erhaschen, die wie kleine Blitze in seinem Hirn hin und her huschten.
Bilder aus ihrer Kindheit leuchteten kurz auf und verschmolzen dann mit Erinnerungen aus ihrer Jugend.
In den letzten Tagen hatte Ahrok oft und viel über Sebastians Worte nachgedacht. All diese Beschuldigungen von wegen er wäre das Sorgenkind der Familie gewesen und dass sie seinetwegen in dieser Hütte fernab der Zivilisation hatten leben müssen. Wieder einmal fragte sich Ahrok, ob nicht ein Teil davon wirklich der Wahrheit entsprochen hatte oder ob das alles nur böse Worte in ihrem allzeit präsenten, geschwisterlichen Zwist gewesen waren.
Er wollte weinen, weil man wohl weint, wenn man am Grab eines Familienmitglieds steht, aber da waren keine Tränen. Da war kein Hass, keine verspätete Reue, keine innige Bruderliebe… nur eine Leere, die ihm leichte Kopfschmerzen bereitete.
Dass Ragnar kaum zwei Ellen von ihm entfernt eine kleine Grube aushob, diente ihm als willkommene Abwechslung zu seinen eigenen Gedanken.
„Was machst du da?“
Der Zwerg antwortete nicht.
„Komm schon, Ragnar, wir sollen hier nicht rumbuddeln.“
Auch jetzt strafte ihn der Valr immer noch mit Schweigen.
„Weißt du was? Es tut mir leid, dass ich dich so lang warten lassen habe. Ich wollte nicht mit Ariane… du weißt schon… aber es ist eben passiert.“
„Mhm“, der Zwerg kniete sich vor der Loch, dass er so eben gegraben hatte.
„Hörst du mir denn überhaupt zu? Ich versuche mich grad bei dir zu entschuldigen. Es war ein dummer Fehler und es kommt nicht wieder vor. Können wir jetzt gehen?“
„Nein.“
„Nein? Was nein? Hörst du mir nicht zu oder können wir nicht gehen?“
„Wir können noch nicht gehen. Ich bin noch nicht fertig.“
Ragnar schüttete den kleinen Jutesack neben sich aus und die Teile seines Hammers purzelten in das frische Loch.
„Du willst deinen Hammer hier beisetzen?“
„Ja. Hast du was dazu zu sagen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Ahrok hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte dein kostbares Stück Holz nicht beleidigen. Verbuddel es nur.“
Der Zwerg kniete ihm den Rücken zugewandt vor seinem Loch und verbeugte sich ein paar Mal in alle möglichen Richtungen. Er warf etwas Erde auf die Bruchstücke und verbeugte sich erneut.
Ahrok wandte sich ab, um bei diesem lächerlichen Ritual nicht auch noch laut loszulachen. Es war schlimm genug, dass der Zwerg seinem Hammer einen Namen gegeben hatte, aber die Waffe dann auch noch zu beerdigen wie einen lieben Freund – das verlangte mehr Verständnis, als er gewillt war aufzubringen.
Wenn er jedes Mal so einen Aufriss machen würde, wenn ihm eine Waffe abhandenkam, dann würden sie von dem Friedhof gar nicht mehr runter kommen.
Mit lauter Stimme begann der Valr dann auch noch irgendeine festliche Rede. Ahrok blickte sich um. Hoffentlich sah sie gerade niemand. So etwas Peinliches aber auch.

Umti Rôgsplittr!
Rihhi hammar ut Hammarôg!
Kruchr to manje tann!
Isarn for chrêg, bharan at hati, touwen at chrêg.
Umti Rôgsplittr,
Lohe hammar is Ulrik Tanngrisnir,
Thrud wafân is Rango Ulriksson,
Rihhi hammar is Ragnar Rangosson.
Slöpe in Valhöll til gjöll chrêga vake dik
i Einherir bharan dik for hlâste tid.

Nach jeder Zeile hatte der Zwerg eine Handvoll Erde in das Loch geworfen und nun nachdem er sein Gedicht beendet hatte, schüttete er die Grube vollends zu.
„War´s das?“
„Ja.“
„Ich hab noch nie einen Hammer beerdigt.“
„Dann sei froh, dass dir so etwas bisher erspart blieb“, antwortete der Zwerg trocken und ließ ihn einfach stehen.
„Ach, komm schon, Ragnar. Hab dich nicht so. Ich hatte auch einen Scheißtag. Ich sag, wir gehen zurück in die Herberge und danach trinken wir so richtig einen. Das ist die perfekte Nacht, um einfach nur sinnlos zu saufen.“
Der Zwerg drehte sich um und sah ihn an.
„Sinnlos saufen? So etwas gibt es nicht. Du hast noch viel zu lernen, Junge… also los, gehen wir uns sinnvoll besaufen.“

Ahrok lachte laut auf, als ihm der Valr einen, wie er behauptete, typisch zwergischen Witz erzählte. Es war befreiend, einfach nur zu Lachen und nicht an all die Umstände der letzten Zeit zu denken.
Sie waren Seite an Seite bereits wieder eine kleine Weile durch Märkteburg getrottet und er hatte beinahe vermutet, dass sie sich schon wieder verlaufen hatten, aber dann erkannte er das unverwechselbare Aushängeschild der „Herberge zum weißen Fluss“ im Fackelschein.
„Also was jetzt?“, wechselte Ragnar wieder das Thema. „Entscheid dich mal, gehen wir nach Norden oder nach Süden?“
„Ist das so wichtig?“
Ahrok hielt dem Zwerg die Tür zu ihrer Unterkunft auf und dieser bedankte sich mit einem Kopfnicken.
Die Herbergsmutter saß ihnen gegenüber am Tisch des Empfangsbereiches und strickte.
„Scheiße, ja.“ Ragnar hob die Hand zum Gruß. „Hallo. Also im Norden gibt es viel mehr…“
„Schön, Sie wiederzusehen, werte Herren“, rief sie ihnen nach. „Wir haben Ihr Zimmer noch immer so belassen wie bei Ihrer Abreise.“
„Danke, danke wir sind gleich wieder weg“, winkte ihr Ragnar zu ohne sich umzudrehen. „Der Süden ist gefährlicher. Ist ´n ziemlich heißes Pflaster da unten, das sag ich dir. Da kocht Hadwin grad eine Suppe und es brodelt schon so richtig. Also genau genommen ist das der richtige Ort für uns.“ Er öffnete die Tür zu ihrem alten Schlafraum. „Und nur um es zu erwähnen, im Süden gibt es viel mehr Zwerge. Dann lernst du mal ordentliche Leute kennen. Es sei denn natürlich wir treffen zuerst auf Terraner… oh, nein… Nein! Ihr Kinder macht mich echt fertig.“
Der Valr stoppte auf der Türschwelle, dann drehte er sich um und stapfte wütend an ihm vorbei die Treppe hinunter.
„Ragnar, was…?“
„Johann hat mir gesagt, dass er euch hier gefunden hat“, erklang einen Stimme aus dem Raum.


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Übersetzung des Nachrufs:

Umti Felssplitterer!
Mächtiger Streithammer aus Hammerfels!
Bezwinger vieler Feinde!
Geschmiedet für den Krieg, geführt im Hass, gefallen im Krieg.
Umti Felssplitterer,
leuchtender Kriegshammer von Ulrik dem Zähneknirscher,
starke Waffe von Rango Sohn des Ulrik,
mächtiger Hammer von Ragnar Sohn des Rango.
Schlafe in der Halle der Gefallenen, bis der Lärm des Krieges dich wieder erweckt
und die einsam Kämpfenden dich zum letzten Mal führen werden.
 
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Kommentare  

Dieses Kapite endet ziemlich traurig. Auch mir kommt Ahrok verloren vor. Da kann Ragnar mit seinem kaputten Hammer nicht viel verändern. Hm, hier ist niemand ein Unschuldslamm, bin gespannt was du aus dieser Story gemacht hast.

Jochen (26.03.2012)

Zuallererst möchte ich mich bei euch allen für euren Kommentar bedanken.
Es mag durch aus sein, dass Francis hier Recht hat und mir ein bisschen die Ungeduld im Nacken sitzt.

Das Kapitel enthält ein paar versteckte Anspielungen, das ist durchaus wahr, aber nicht soooo viele wie du es wohl vermutest Ingrid, aber ich find es schön, dass du hier und da so manches hineininterpretierst.

Nun gut ich bin es also vorerst zufrieden und kümmere mich weiter um den Fortgang der Geschichte, bevor ich in den alten Kapiteln wieder herumwurschtel.

Danke euch allen


Jingizu (24.03.2012)

sehr kryptischer teil, in dem bestimmt einiges versteckt ist. seltsamerweiser muss ich dabei an ahroks vater denken, welcher ja noch lebt. oder hab ich das falsch gelesen? wie auch immer, dieser van hauten kennt die inquisitorin schon seit dreißig jahren, also kann er nicht mehr ganz so jung sein. und er ist ‚unberührbar’, das heißt, er kann nicht ‚träumen’ wie alle anderen im volk. die inquisitorin gibt damit zu, dass alle etwas mit der magie zu tun haben, mehr oder weniger. fragen über fragen. die verschwundenen kinder kommen mir in den sinn. wieder fragen... ;-)
nö, das kapitel ist aufschlussreich und gut, das einzige worauf ich verzichten könnte, ist die beschreibung der einrichtung in der inquisitoren... bude. aber das ist geschmackssache.
und die begebenheiten auf dem friedhof sind spitze!


Ingrid Alias I (24.03.2012)

Hallöchen,

also ich finde hier auch nix nu mäkeln.
Gut dein übliches Tempo ist ein wenig raus und es wirkt auf mich mehr wie ein Übergangskapitel, aber das ist ja auch nichts negatives.
Es liest sich locker und leicht weg und man ist schon gespannt, was deine Helden nun wieder anstellen werden.
Am Ende jedoch musste ich zweimal überlegen, wer denn nun den letzten Satz spricht.


Tis-Anariel (24.03.2012)

Kann mich nur anschließen. Sehr lebendig und echt geschrieben. Ahrok kann einem leid tun. Eine kaputte Kindheit und es gibt keinen Bruder mehr, den er nach alten Erinnerungen befragen könnte. Humorvoll wie immer ist Ragnar - freilich ohne es zu wollen.

Petra (23.03.2012)

Hi, kann nichts negatives über dieses Kapitel sagen. Ist wie immer gut geschrieben. Selbst wenn man sich dieses Kapitel gerade herausgepickt hat und es liest, ist keine Zeile langweilig. Vielleicht beruht deine Unzufriedenheit darauf, weil du ungeduldig bist? Das soll doch ein Roman sein und wenn er gut werden soll, dann braucht das eben seine Zeit!

Francis Dille (23.03.2012)

Ach dieses Kapitel... ich mag es noch nicht sonderlich. Ihm gehen in meinen Augen der Charme und der Esprit der letzten Kapitel ab, aber es ist momentan das Beste, was ich abliefern kann. Normalerweise würde es jetzt wohl monatelang in der Schublade verweilen und immer wieder sporadischen Änderungen unterzogen werden, bis mich dann irgendwann die Muse streift - aber ich will fertig werden mit dem 1. Teil von Ahrok und da ist es mir nuneinmal im Weg und deshalb auch in seiner unausgegorenen Form nun hier zu finden.

Auf Kritiken an diesem Kapitel bin ich daher ungeheuer gespannt. danke


Jingizu (23.03.2012)

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