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Der verlorene Schatten

Kurzgeschichten · Für Kinder
© Glaser
„Ursächlich kann ich da nichts machen“, sagte der Arzt. „Medizinisch ist es nicht möglich, einen verlorenen Schatten zu ersetzen. Allenfalls kann ich Ihnen etwas gegen Ihre Nervosität verschreiben. Hier ist ein Rezept für Tropfen, die rasch wirken.“

„Was würden Sie mir in dieser Situation raten, Herr Doktor?“ „Das ist schwer zu sagen, Herr Dagobert. An Ihrer Stelle würde ich einfach akzeptieren, dass der Schatten nicht mehr da ist. Man braucht ihn ja eigentlich nicht.“ „Das sagen Sie so leicht. Sie haben Ihren Schatten ja noch. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie sind am Strand, die Sonne scheint intensiv und alle werfen einen Schatten, nur Sie nicht. Das ist ja fast so, als ob Sie gar nicht da wären.“ „Jetzt übertreiben Sie aber!“, sagte der Arzt und lächelte milde. „Wir sehen uns in einer Woche, wenn Ihre Nervosität nicht abgeklungen ist.“

Herr Dagobert war ziemlich ratlos. Sein Schatten war weg, einfach so. Es war nicht etwa so, dass er deswegen Schmerzen hätte. Im Alltag störte ihn das auch nicht. Aber trotzdem, ein Mensch ohne Schatten, das ging ja gar nicht. Er suchte im Internet nach vergleichbaren Fällen, suchte in Bibliotheken, alles vergebens.

Seine Nervosität hatte sich zwar dank der Tropfen, die ihm sein Arzt verschrieben hatte, gelegt. Aber dennoch beschäftigte er sich andauernd mit der Frage, wie er seinen Schatten zurückbekommen könnte.

Eines Tages fand er in der Tageszeitung unter der Rubrik „Vermischtes“ eine Nachricht, die ihn stutzig machte. Zahlreiche Personen haben behauptet, einen Schatten eines Mannes gesehen zu haben, den Mann selbst hatten sie allerdings nicht wahrgenommen. Die Sache löste einigen Wirbel aus. Man ging von einer Sinnestäuschung aus, die allerdings in dieser Häufung noch nicht aufgetreten war.

Herr Dagobert recherchierte und fand heraus, dass dieser Schatten in Rimini aufgetreten war, genau dort, wo er seinen Schatten verloren hatte. Es war also sehr wahrscheinlich, dass es sich um seinen eigenen Schatten handelte.

Er fuhr sofort dort hin. Unterwegs schmiedete er verschiedene Pläne, wie er seinen Schatten einfangen könnte. Er gelangte zu der Überzeugung, dass es keinen Sinn machte, wenn er versuchte, den Schatten irgendwie zu überlisten. Der Schatten würde sich doch nur wieder von ihm trennen. Es blieb nur übrig, herauszufinden, warum es zur Trennung gekommen war.

In Rimini angekommen, erkundigte er sich nach dem seltsamen isolierten Schatten und erhielt eine ganze Fülle von Hinweisen. Er mietete sich in einem Hotel ein und ging in den folgenden Tagen sehr viel spazieren. Aber nichts geschah.

Schließlich kam er auf die Idee, eine Weissagerin zu konsultieren. Sie sagte ihm auf den Kopf zu, dass er seinen Schatten wohl beleidigt habe, indem er ihn fortwährend ignoriert habe. Er müsse sich entschuldigen, dann werde der Schatten wieder zu ihm zurückkehren.

So geschah es. Herr Dagobert ging an der Uferpromenade spazieren und murmelte halblaut Entschuldigungen vor sich hin.

Und plötzlich war sein Schatten wieder da.
 
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Kommentare  

Ein niedliches Märchen. Sag, hast du dabei an einen Kurschatten gedacht?

Dieter Halle (29.12.2012)

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