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10 Seiten

Mädchen unterm Regenbogen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
„Mach. Endlich. Die. Verdammte. Musik. Leiser!“
Jedes einzelne Wort unterstrich Melody mit einem Schlag gegen die Wand, die ihr Zimmer von dem ihres Bruders trennte. Doch ihre Worte schienen nicht die geringste Wirkung zu haben. Die Bässe wummerten unerbittlich weiter und ließen ihre Bilder an der Wand vibrieren.
Melody zog sich ein Kissen über den Kopf. Schlagartig wurde es ruhiger um sie, doch die Vibration der Bässe durchfuhr immer und immer wieder ihren Körper.
Wann war ihr die Musik so zuwider geworden, dass sie sich vor ihr versteckte, vor ihr flüchtete? Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie ohne Musik nicht leben können…
Melody drehte sich auf den Rücken und legte sich den Arm über die Augen. Das Dröhnen aus dem Nebenzimmer wurde nicht leiser. Sie gab ein Knurren von sich. Dann stand sie resigniert auf, angelte sich ihr Mathebuch aus der Ecke, in die sie es zuvor wütend geschleudert hatte und versuchte weiter sich die unzähligen Formeln und Gesetze zu merken, die sie für die bevorstehende Klausur lernen sollte. Die Bässe jedoch wummerten und wummerten unerlässlich und zogen Melody immer weiter in eine unendlich melancholische Stimmung, die sie zurück in bessere Zeiten versetzte. Und mit einem Mal merkte sie, wie sehr sie die Musik vermisste…
Als Melody erwachte, schmerzte ihr Nacken. Irgendwann hatte sie den Kampf mit den Zahlen verloren und war erschöpft über ihrem Mathebuch eingeschlafen. Draußen war es mittlerweile dunkel geworden und der Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon weit nach Mitternacht war. Doch irgendwas hatte sie aus dem Schlaf gerissen.
Melody lauschte in die Dunkelheit hinein. Das Bass-Dröhnen aus dem Zimmer ihres Bruders war verstummt und eine Weile hörte man nur das Rauschen der Autos auf der Straße vor ihrem Fenster.
„Nein, Oliver! So geht das nicht weiter!“, durchschnitt die laute Stimme ihrer Mutter die Stille der Nacht.
Melody seufzte. Erschöpft ließ sie den Kopf zurück auf die Tischplatte ihres Schreibtisches sinken. Wieder einmal stritt ihre Mutter am Telefon mit ihrem Vater. Wieder einmal zu dieser nachtschlafenden Zeit. Und wieder einmal dachte ihre Mutter, dass Melody es nicht mitbekommen würde…
Leise schob Melody ihren Stuhl zurück und trat ans Fenster. Sie legte die Stirn an die kalte Scheibe und merkte, wie die Tränen, die in ihr aufstiegen, sich den Weg an die Oberfläche bahnten. Mittlerweile konnte sie sich schon nicht mehr erinnern, wie lange es bei ihren Eltern jetzt schon so lief, wie lange sie und Chord, ihr Bruder, schon diejenigen waren, die unter diesem Zustand litten. Manchmal wünschte sich Melody beinahe schmerzlich, dass sie sich endlich scheiden lassen würden. Vielleicht würde es dann besser werden. Vielleicht würde sie dann wieder mehr Freude am Leben haben. Vielleicht… wenn ihre Eltern endlich einen vernünftigen Umgangston finden würden…
Melody strich sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht und löste ihren Blick von der nächtlichen Straße. Sie drehte sich um und suchte sich ihren Weg zwischen noch nicht ausgeräumten Umzugskartons und Gegenständen, für die sich noch keinen neuen Platz gefunden hatte. Ihr Bett war einer der wenigen freien Plätze in ihrem Zimmer. Schniefend kuschelte sich Melody in ihre Decke, drehte sich zur Wand und ließ sich von ihren Tränen in den Schlaf wiegen…

Der Spind schepperte blechern, als Melody ihre Stirn dagegen schlug. Mathe… verhauen… natürlich. Was hatte sie anderes erwartet? Seit Wochen hatte sie keine Note mit nach Hause gebracht, die besser als ein „ausreichend“ war. Wie denn auch? Ihre Gedanken wurden von Dingen beherrscht, die keinen Platz ließen für Zahlen oder Vokabeln. Ihre schulischen Leistungen waren an einem historischen Tiefpunkt angekommen. Nie zuvor war sie so schlecht gewesen. Ihren Lehrern war das natürlich auch nicht entgangen. Nicht erst einen Brief hatte Melody verschwinden lassen, bevor ihre Mutter ihn in die Finger bekam. Sie sollte sich lieber um andere, eigene Probleme kümmern.
Seufzend öffnete Melody den Spind und tauschte ihre Schulbücher aus. Ein einzelnes Blatt, das zwischen zwei Büchern eingeklemmt gewesen war, segelte leise zu Boden. Ihr Blick folgte dem Blatt. Melody schloss die Augen. Wo kam das her? Hatte sie nicht vor Wochen alle Noten, jedes Lied, alles, war mit Musik zu tun hatte, aus ihrem Leben verbannt?
Bevor Melody sich danach bücken konnte, griff hinter der geöffneten Spindtür eine Hand nach dem Lied. Genervt schloss Melody die Tür und blickte in das freundliche Gesicht von Malin.
Das Mädchen betrachtete die Noten und lächelte Melody hoffnungsvoll an. „Du kommst also wieder?“
„Nein, ich komme nicht wieder!“ Wütend riss Melody ihr das Blatt aus der Hand. Sie nahm ihre Tasche vom Boden, drehte sich von Malin weg und lief den Gang entlang. Dem Notenblatt in ihrer Hand widmete sie keinen weiteren Blick. Hastig zerknüllte sie es und warf es in den nächsten Papierkorb.
Wie kam Malin auf die Idee, dass sie zurückkommen würde? Hatte sie ihr nicht klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass für Musik kein Platz mehr in ihrem Leben war? Dass sie nicht mehr wollte? Aber so war Malin schon immer gewesen. Stets freundlich, stets optimistisch. Auch das waren Gründe dafür gewesen, dass Melody sie bis vor ein paar Wochen ihre beste Freundin genannt hatte. Aber auch das war Vergangenheit.
Melody schüttelte den Kopf. Egal. Mit gesenktem Blick betrat sie den Klassenraum, suchte sich ihren Platz in der letzten Reihe und ließ sich, wie bereits die Stunden zuvor, vom Vortrag ihres Lehrers berieseln.
Ihre Gedanken kreisten und hinderten sie daran, sich auf das zu konzentrieren, was wichtig gewesen wäre. Immer wieder dachte sie über ihre momentane Situation nach. Darüber, wie ihre Familie auseinander gebrochen war. Darüber, wie lange es jetzt schon so lief, wie es lief. Wie sehr diese Situation ihren Bruder und das Verhältnis zu ihren Eltern verändert hatte. Wieder und wieder, immer die gleichen Gedanken. Melody stütze die Stirn in ihre Hände. Ihr Kopf war schwer und immer wieder kreisten ihren Gedanken um die eine Frage: Warum? Und wieder fand Melody keine Antwort darauf.
Langsam hob sie den Kopf wieder. Sie wollte nur noch hier raus. Den Rest der Stunde verfolgte sie den Zeiger auf der großen Uhr über der Tafel und betete, dass sie sich so unauffällig verhielt, dass ihr Lehrer nicht auf sie aufmerksam wurde. Als endlich der erlösende Gong ertönte, war sie die erste, die den Klassenraum verließ. Wie in einer Blase hastete sie durch die dunklen Gänge der Schule, achtete nicht auf ihre Umwelt, verfolgte nur das eine Ziel: raus aus dem Alltag, zurück in ihre eigene, kleine Welt, die sie sich in den letzten Wochen geschaffen hatte. Abgeschottet von allem und jedem.
Die Klänge eines Flügels drangen wie durch Watte an ihr Ohr. Immer lauter und deutlicher vernahm sie die sanft angeschlagenen Töne des Instrumentes. Langsam bekam ihre Blase Risse. Widerwillig hob Melody den Kopf und versuchte die Quelle der Musik auszumachen. Auf der Bühne der Aula stand der große, schwarze Flügel. An ihm saß ein Junge, den sie nur zu gut kannte. Wie lange hatte sie selbst mit ihm musiziert. In seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit schlug Phillip immer wieder die ersten Takte des Liedes an. Immer und immer wieder, bis der Chor endlich die Bühne betrat und aus dem Summen der Sänger ein Lied entstand. „I see life with all its energy…”
Der Gesang des Chors füllte bald die ganze Aula und Melody stand wie angewurzelt, unfähig sich zu bewegen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als Malin sich aus der Mitte des Chores löste und sie mit ihrem Gesang direkt anzusprechen schien. Vor ihrem geistigen Auge sah Melody jede einzelne Note dieses Liedes aufsteigen und auch der Text hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, sodass sie ihn ohne weiteres hätte mitsingen können. Doch eine innere Barriere hinderte sie daran. Sie wollte von der Musik nichts mehr wissen! Wie vom Blitz getroffen rannte Melody los. Weg von der Musik, zurück in ihre Blase, in ihre eigene, dunkle Welt…

Das dünne Papier des Fotoalbums raschelte, als Melody vorsichtig umblätterte und die Bilder auf der neu aufgeschlagenen Seite betrachtete. Das obere der beiden Bilder zeigten sie und Chord. Arm in Arm, lachend. Melody konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern. Es war Chords elfter Geburtstag gewesen und sie hatte alle zusammen den Tierpark besucht. Zusammen – sie, Chord, ihre Mutter und ihr Vater. Chord hatte zu viel Eis gegessen und den Rest des Tages über Bauchschmerzen geklagt. Bei dem Gedanken an diesen Tag flog ein sanftes Lächeln über Melodys Gesicht. Es war ein sonniger Tag gewesen, doch dieser Tag lag schon Jahre zurück. Keinen Monat darauf war ein Teil von Melodys Welt zusammen gebrochen. Ihr Vater war spurlos verschwunden, von heute auf morgen. Einfach weg. Seitdem hatte Melody außer den Streitereien ihrer Eltern am Telefon nichts mehr von ihm gehört. Jeglicher Kontakt war abgebrochen… Und mittlerweile legte sie auch nicht mehr den geringsten Wert darauf.
Vorsichtig strich Melody über das lachende Gesicht ihres Bruders. Wenn sie ihn doch nur wieder genauso haben könnte... Unbekümmert und fröhlich, statt eines schlecht gelaunten Jungen, der kaum noch mit seiner Schwester sprach.
Das untere Bild zeigte Malin und sie. Dieses Bild lag noch gar nicht so lange zurück. Malin hatte sie dazu überredet, mit ihr Schlittschuh zu laufen. Noch nie zuvor hatte Melody das versucht. Entsprechend sah ihre Verrenkung an der Hand von Malin aus, die der Fotograf eingefangen hatte. Melody hob den Kopf und betrachtete sich im Spiegel, der gegenüber ihrem Bett hing. Selbst ihr fiel der krasse Unterschied zwischen der Melody auf dem Bild und der realen Melody auf. Viel war von der lachenden, unbeschwerten Melody auf dem Foto nicht mehr übrig. Die Schatten unter ihren Augen waren noch tiefer geworden, ihr Gesicht noch fahler und selbst das Grün ihrer Augen schien weniger intensiv als noch vor wenigen Wochen. Das Lachen war ganz aus ihrem Gesicht gewichen.
Als sich die Matratze neben ihr senkte, hob Melody erschrocken den Kopf. So in ihre Gedanken versunken hatte sie nicht bemerkt, dass jemand das Zimmer betreten hatte. Malin blickte ebenfalls auf das Foto und lächelte. Auch sie schien sich nur zu gut an diesen Tag zu erinnern.
Sie sah Melody an. „Wo ist dieses Mädchen hin?“ Sie deutete auf die lachende Melody im Bild.
Einen Moment lang blickte Melody Malin verblüfft an. Dann schlug sie das Fotoalbum fest zu.
„Was willst Du hier, Malin?“, fragte Melody abweisend. Sie hatte nicht die geringste Lust auf Gesellschaft.
Erschrocken fuhr Malin zurück. „Ich… ich hatte gehofft, wir könnten reden… Du hast uns heute zugesehen…“
Genervt schloss Melody für einen Moment die Augen. „Malin, wie oft soll ich noch sagen, dass ich nicht reden möchte. Lass es einfach gut sein.“ Sie spürte wie sich die Matratze wieder hob, als Gewicht von ihr genommen wurde. Gott sei Dank… Doch als Melody die Augen wieder öffnete, war Malin nicht verschwunden. Sie hatte sich vor Melody aufgebaut, die Hände auf die Hüften gestützt.
„Melody, jetzt hör mir mal gut zu!“ Malins Blick war fest auf sie gerichtet, von Güte und Freundlichkeit war nicht mehr viel auszumachen. „Du bist nicht die Erste und Einzige, die als Scheidungskind enden wird. Viele andere vor dir haben schon das gleiche Schicksal erlitten. Und viele andere vor dir haben es auch geschafft. Also hör gefälligst auf die Märtyrerin zu spielen!“
Nun war es an Melody zurückzuweichen. So aufgebracht hatte sie Malin noch nie erlebt. Melody sprang auf.
„Malin, verschwinde, bitte! Ich habe keine Lust mit dir zu reden!“ Sie lief zur Tür und hielt sie auf, doch Malin machte keinerlei Anstalten ihr Zimmer zu verlassen.
„Nein, Melody, ich werde jetzt sicher nicht verschwinden, nicht schon wieder. Du wirst mir jetzt gefälligst zuhören!“ Malins Stimme war lauter geworden. Sie trat Melody wieder gegenüber.
„Mit mir kannst Du meinetwegen umspringen wie du magst. Mir ist es egal, ich werde trotzdem deine Freundin bleiben, auch wenn du mich vielleicht schon nicht mehr als Freundin siehst! Du verkriechst Dich hier in Deiner Welt und lässt keinen mehr an Dich heran. Was soll das?“
Vorsichtig trat sie einen Schritt näher an Melody heran und berührte sie vorsichtig an der Schulter. Melody zuckte unter ihrer Berührung zusammen, doch ließ Malins Hand auf ihrer Schulter ruhen.
Malin fuhr fort: „Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist, Melody. Ich glaube auch nicht, dass es die richtige Entscheidung war, den Chor zu verlassen. Chord hat mir erzählt, dass Du die Musik vollkommen aus Deinem Leben gestrichen hast. Warum?“
Melody drehte den Kopf zur Seite und presste die Lippen aufeinander. Sie wollte darüber nicht reden, sie konnte nicht. Ein Schluchzen kam über ihre Lippen.
„Malin, bitte geh!“, flehte Melody erneut, doch Malin sprach unbeirrt weiter.
„Du weißt, dass in ein paar Wochen die regionalen Ausscheidungen der Schulchöre ist, Melody. Und Du weißt, dass uns mit Dir eine unserer wichtigsten Stimmen fehlt. Komm zurück!“ Malin griff nach Melodys Hand. Und ehe sich Melody versah hatte Malin sie in eine feste Umarmung gezogen. „Ich bitte Dich, Melody! Zerstör Dich nicht weiter selbst. Ich brauche Dich!“
Malin löste die Umarmung, sah Melody noch einmal an und verließ dann das Zimmer.
Melody stand da wie vom Donner gerührt, sank schließlich zu Boden und brach in Tränen aus. Sie wusste, dass Malin Recht hatte, mit dem, was sie gesagt hatte. Aber sie wusste nicht, wie sie dem tiefen Loch, in das sie gefallen war, entfliehen sollte.
Früher war es die Musik gewesen, die ihr aus solch ausweglosen Situationen geholfen hatte. Doch heute gab sie der Musik die Schuld an allem, was ihr Leben in den letzten Jahren zerstört hatte. Immer und immer wieder war ihre Musik der Auslöser für Streit und Ärger in ihrer Familie gewesen. Melody, sing nicht so laut. Sing nicht so viel. Lass die Musik sein, kümmere Dich mehr um die Schule! Stell die Musik leiser, dein Vater muss arbeiten. Irgendwann war sie an einem Punkt angelangt gewesen, an dem sie mit der Musik und dem Gesang mehr negative Erinnerungen verband als positive. Und das war der Moment gewesen, an dem sie einen Schlussstrich unter die Musik zog. Nicht noch mehr sollte dadurch zerstört werden. Zeitweise redete sie sich sogar ein, dass die sie und die Musik an der Trennung ihrer Eltern Schuld hatten. Sie wusste, dass das nicht stimmte und trotzdem…ihre Familie, ihr Lachen, ihr altes Leben… Sie wollte nicht noch mehr verlieren. Falls das überhaupt möglich war.
Mit den Handrücken wischte Melody sich die Tränen aus den Augen und stand auf. Malin hatte Recht. Sie wusste ja selbst, dass sie diese Spirale stoppen musste, die sie immer tiefer in ihre Depression zog. Erneut schloss sie die Augen – und zog dann eine Kiste unter ihrem Bett hervor. Langsam öffnete sie den Deckel und holte den letzten verbliebenen Notenordner heraus. Ganz hatte sie sich doch nicht trennen können, so sehr sie sich auch gezwungen hatte.
„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum…“ In geschwungenen Lettern prangten die Worte des Philosophen Nietzsche auf dem Ordnerdeckel. Melody seufzte. Wie viel Wahrheit in diesen Worten steckte…Behutsam schlug sie den Ordner auf und betrachtete die erste Seite, die dicht mit Noten beschrieben war. Sie bewegte die Lippen, sang lautlos den Text, Wort für Wort, Note für Note… Doch nach wenigen Zeilen schlug sie den Ordner wieder zu. Zu schwer wogen die negativen Erinnerungen.
Und dennoch – ihr Entschluss stand fest! Sie wollte raus aus diesem dunklen, tiefen Loch! Zurück ins Leben! Zurück zu ihrem Lachen! Zurück zu ihrer Musik!

In den nächsten Tagen merkte Melody, dass es eine Sache war, etwas zu beschließen. Jedoch war es eine andere Sache den Entschluss in die Tat umzusetzen. Gedanken und Gefühle ließen sich nicht einfach abstellen, wie man es gerne hätte.
Ein paar Tage lang beobachtet Melody die Proben des Chores von abseits der Bühne. Sie konnte und wollte nicht einfach wieder mitmachen, als wäre nichts gewesen. Sie war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sie den Chor in einer Zeit im Stich gelassen hatte, in der sie dringend gebraucht wurde. Zwar hatte Malin ihr versichert, dass sie nur zu gerne wieder einsteigen konnte… dennoch hatte Melody Angst davor. Sie wusste, wie Malin dazu stand, jedoch nicht, was die anderen sagen würden.
Melody schloss die Augen und lehnte ihren Kopf gegen die Säule der Aula. Glücklich bemerkte sie, dass der Gesang und die Musik sie beruhigten – und nicht, wie bis vor ein paar Tagen, Versagensängste in ihr auslösten. Sie hatte auch wieder begonnen, Musik zu hören. Nicht in dem Maße, wie sie es sonst getan hatte, aber sie konnte immerhin ein paar Lieder hören, ohne wütend oder traurig zu werden. Für sie war das ein großer Schritt. Sie wusste, dass sie das Malin zu verdanken hatte. Vielleicht war ihre Moralpredigt genau der Weckruf gewesen, den sie gebraucht hatte.
„Hey Melody!“ Philipp nahm neben ihr auf den Stufen Platz. „Wie geht es Dir?“
„Besser…“ Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Melody holte tief Luft. „Philipp, hör zu. Es tut mir wahnsinnig Leid, dass ich euch einfach im Stich gelassen habe. Ich hoffe, ihr könnt mir das verzeihen. Und…“ Sie stockte. „… ich würde wahnsinnig gerne wieder mit euch singen! Ihr klingt super! Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass ihr die regionale Ausscheidung gewinnen werdet!“ Vorsichtig sah sie Philipp an.
Auch er lächelte. „Melody, das freut mich! Ehrlich!“ Er drückte sie leicht. „Malin hat mir von Deinen Problemen erzählt. Ich bin froh, dass Du wieder mitmachen möchtest! Komm!“
Er nahm Melodys Hand und führte sie zur Bühne, wo der Chor sich soeben besprach. Als Malin aufsah und Melody erblickte, stieß sie einen freudigen Jauchzer aus. „Willkommen zurück!“
Philipp schob sie zum Kreis der anderen Sänger. Malin ergriff ihre Hand. Und ehe Melody sich versah, hörte sie die ersten Takte des Liedes, dass ihr mehr als anderes aus der Seele sprach, gesungen von den Menschen, die ihr am meisten geholfen hatten…

„Lean on me, when you're not strong
And I'll be your friend
I'll help you carry on…”

Der Applaus brandete auf, als Malin und Melody die letzten Noten des Liedes verklingen ließen. Die Euphorie der Zuschauer sprang auf Melody über und vor lauter Begeisterung umarmte sie Malin stürmisch.
Keine zwei Wochen war es her, dass Melody sich wieder ihrem Chor angeschlossen hatte. Die Musik wieder für sich entdeckt hatte. Die Musik, die sie endlich aus ihrer tiefen Depression geholt hatte. Und jetzt stand sie hier. Hier, auf dieser großen Bühne, als Solostimme für ihren Chor bei den regionalen Ausscheidungen für Schulchöre. Sie konnte es kaum fassen, dass sie und Malin es geschafft hatten das Publikum so zu bewegen.
Malin zog sie hastig von der Bühne und kaum hatten sie den kleinen Raum hinter der Bühne erreicht, brach Malin in Jubelstürme aus: „Melody, das war der reine Wahnsinn!“ Jetzt war es an Malin Melody zu umarmen.
Auch die anderen Chormitglieder und Philipp betraten den Raum und applaudierten ihren beiden Solistinnen. Melody konnte nicht anders – sie strahlte über beide Ohren. Sie ließ sich auf eines der Sofas fallen und betrachtete ihre Mitstreiter. Wie konnte sie so dumm gewesen sein, diese wunderbaren Menschen im Stich zu lassen, ihre über alles geliebte Musik aus ihrem Leben zu verbannen? Nie wieder würde sie solch einen Fehler begehen.
Malin nahm neben ihr Platz. „Melody, das ist der Sieg!“ Sie drückte ihre Hand.
Melody zog die Nase kraus. „Beschrei es nicht. Noch haben die Trophäe nicht…“
Malin lächelte. „Ich bin so froh, dass Du wieder da bist…“, flüsterte sie leise. „Ich hab Dich so vermisst…“
Melody sah auf. Ihrer Freundin standen die Tränen in den Augen. „Malin… nicht. Wein nicht. Es ist doch jetzt alles gut. Und ich bin Dir so dankbar dafür!“
Malin schniefte und lächelte schief.
Eine Durchsage ließ die beiden Mädchen hochschrecken. Die Stimmen waren ausgezählt, die Chöre mussten sich auf der Bühne einfinden. Sie sahen sich an, nickten einander zu und verließen gemeinsam mit den anderen den Raum.
Die Anspannung, die auf der Bühne herrschte, war beinahe mit den Händen zu greifen. Überall hielten sich Sänger an den Händen oder hatten die Hände wie zu Gebet gefaltet.
Der Moderator zog die Verkündung der Platzierungen künstlich in die Länge.
Melody kaute auf ihrer Lippe. Lange hatte sie keine derartigen Gefühle mehr verspürt. Sie wollte den Sieg so sehr! Es waren nur noch zwei Plätze zu verkünden und bisher war ihr Chor nicht dabei gewesen. Das bedeutete, dass sie mindestens unter den ersten beiden platziert waren. Aber nur der Erste schaffte es sich für die landesweiten Ausscheidungen zu qualifizieren. Der Moderator erzählte und erzählte. Er beglückwünschte den Drittplatzierten und überreichte die Trophäe. Neben ihr war Malin schon ganz unruhig. Sie hüpfte vom einen auf den anderen Fuß und kaute an ihrem Fingernagel. Melody lächelte. Es war so gut hier zu stehen.
„Und nun, meine Damen und Herren, sehen Sie hier die Sieger!“ Der Moderator hatte sich die Siegertrophäe geschnappt und lief zwischen den beiden letzten verbliebenen Chören hin und her. „Wer wird gewinnen? Bob Chilcotts „Can you hear me“ vom Schulchor des städtischen Gymnasiums oder doch Chicagos „Inspiration“, das vom Mädchenchor der St.-Klara-Schule interpretiert wurde?“
Melody knurrte. Er zog das ganze unnötig in die Länge.
„Meine Damen und Herren, ich freue mich Ihnen den Sieger verkünden zu dürfen!“ Der Moderator drückte Malin die Trophäe in die Hand!
Ein Jubelsturm brach um Melody herum los! Sie wurde umarmt, Hände wurden geschüttelt, die Trophäe wanderte von Hand zu Hand! Sie wusste nicht, wie ihr geschah.
Und doch… so glücklich wie in diesem Moment war sie lange nicht gewesen! Tränen rollten ihr wieder einmal über die Wangen, aber diesmal waren es Tränen des Glücks.
Sie war zurück. Sie konnte wieder lachen. Sie konnte wieder singen. War wieder das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Die Musik hatte sie aus ihrem tiefen Loch geholt.
Malin umarmte sie und redete auf sie ein, doch ihre Stimme drang zu ihr wie aus weiter Ferne.
Sie strahlte übers ganze Gesicht. In diesem Moment war sie sich sicher, dass alles wieder gut werden würde. Dass ihr Bruder wieder der werden würde, der er sein sollte! Dass ihre Mutter es schaffte, von ihrem Vater loszukommen. Und wenn sie eigenhändig dafür sorgte!
In diesem Moment schien ihr Leben in tausend Farben zu schillern, eine schöner als die andere. In diesem Moment, war sie wieder unter dem Regenbogen, da, wo sie sein sollte. Die Sonne hatte den Regen besiegt und malte in den herrlichsten Farben an ihren Himmel.
Sie hielt diesen Moment ganz fest. Und dabei kamen ihr wieder Nietzsches Worte in den Sinn…wie Recht er doch hatte!

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum…“
 
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Mir gefällt es, mit welch einem Temperament du hier diese Geschichte erzählst. Obwohl ich ahnen konnte, wie die Story ausgeht, war sie doch so mitreißend geschrieben, dass ich am Ende gerührt war. Schön auch, dass du die Story nicht kitschig ausgehen lässt, dass die Probleme eigentlich bleiben. Dass Hobbies helfen können, Probleme zu überwinden, ist auch nicht unrealistisch. Außerdem soll Musik eine heilende Wirkung haben. Sehr schöne kleine Story.

Gerald W. (02.01.2013)

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