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6 Seiten

Was für ein Tag!

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Was für ein Tag! Was für ein Freitag! Ein Freitag, wie man sich ihn wünscht. Die perfekte Eröffnung eines Wochenendes, an dem man nichts geplant hat; an dem man sich durch gezieltes Nichtstun vom stressigen Alltag der Woche erholen kann. Insbesondere vom Stress heute Morgen, nein, eigentlich hatte es schon gestern Abend angefangen: Tim wollte sich nur kurz hinlegen, nur ganz kurz seine Augen schließen, um innerlich zur Ruhe zu kommen; um sich so innerlich auf einen möglichst erholsamen Schlaf vorbereiten zu können. Er wusste, dass er noch den Wecker zu stellen hatte. Er wusste, wie schwer es ihm morgens fiel, aus dem Bett zu kommen. Er wusste, dass er hierfür extra einen Sender eingestellt hatte - er konnte einen Radiowecker sein Eigen nennen - der von morgens bis abends nur Musik spielte, die er aus seinem tiefsten Inneren heraus nicht einfach nur hasste, nein, das Wort war, um seine diesbezüglichen Gefühle beschreiben zu können, noch viel zu soft: die er geradezu verachtete. Dabei handelte es sich um einen Volksmusiksender.
Er empfand diese Musik zum davonlaufen, ideal also, um ihn aus seinem Bett möglichst schnell in seine Dusche zu jagen. Dies funktionierte normalerweise ganz gut, insbesondere Dienstag- und Freitagmorgens. Denn jeweils an diesen beiden Tagen, zumindest wenn sie nicht gerade Urlaub hatten, war ein Radiomoderatorteam am Start, das einen so schlechten Moderationsstil, und anscheinend dazu passend auch einen so schlechten Musikgeschmack verinnerlicht hatten, dass, wenn die ersten Töne dieser Musik oder die Stimme eines dieser Moderatoren zu Tims Tiefschlafunterbewusstsein durchdrang, dies augenblicklich einen so heftigen Fluchtreflex in ihm auslöste, dass ihn wohl keine zehn Pferde davon abhalten konnten, so schnell es nur ging zu verduften, möglichst unter die Dusche, um sich so von einer möglichen Kontamination mit einem derart schlechten Stil möglichst schnell und möglichst gründlich zu reinigen.
Mit Sicherheit hätte diese Taktik auch an diesem Freitagmorgen prächtig funktioniert. Hätte, hatte also nicht. Denn einen Abend zuvor war er so müde und erschöpft gewesen, dass er es nicht mehr geschafft hatte, sich in seinem Bett zu seinem Wecker hinüber zu beugen, und diesen so einzustellen, dass er am nächsten Morgen mit Hilfe dieser schrecklichen Musik pünktlich geweckt worden wäre, um so auch pünktlich am nächsten Morgen zu einer sehr wichtigen Sitzung in seiner Firma zu gelangen.
Er hatte weder das Eine, noch hatte er das Andere geschafft, weshalb er letztendlich über eine ganze Stunde zu spät zu der Sitzung, an der die ganze Führungsetage teilgenommen hatte, erschienen war.
Konnte durchaus sein, dass sein Job damit nun auf jeden Fall gefährdet, wenn nicht gar schon längstens verloren war, bzw. gewesen wäre. Hätte auch durchaus sein können, dass spätestens am Freitag der nächsten Woche ein Gespräch mit dem „Big Boss“ stattgefunden hätte, bei dem er erklärt bekommen hätte, dass solch ein Verhalten in der Führungsetage nicht geduldet werden könne; dass er sich schon einmal nach etwas Neuem umsehen solle. Hätte durchaus sein können. War aber nicht so geschehen. Denn am Samstag zuvor war etwas außergewöhnliches geschehen, etwas, das nicht nur Tim; das nicht nur die Chefetage seiner Firma, nicht nur die mittelgroße Stadt, in der diese ansässig war, nicht nur das Land, in dem Tim lebte, anging, nein, sondern etwas, von dem geradezu die ganze Menschheit betroffen war.
Doch gehen wir, um alle Zusammenhänge möglichst verstehen zu können, zunächst noch einmal einen Schritt zurück. Betrachten wir doch zunächst erst einmal Geschehnisse, die sich weit entfernt von Tims wahrnehmbarer Welt zutrugen, die aber einen großen Einfluss auf sein weiteres Leben haben sollten. Stellen wir uns hierzu doch einfach mal eine kleine Taschenlampe eines Jungen mit dem Namen Jan vor. Auf der Seite der Erde, auf der Jan lebt, ist gerade Nacht. Jan ist sechs Jahre alt, und hat Angst im Dunkeln. Seine Eltern wissen davon, weshalb sie ihm eine kleine Taschenlampe geschenkt haben. Nicht nur um ihn zu beruhigen; um so ihrem kleinen Sohnemann ein bisschen seiner Ängste nehmen zu können. Nein, in erster Linie deshalb, damit dieser sie nicht andauernd abends mit seinen Ängsten nervt, insbesondere dann, wenn sie gerade zusammen ein kleines Schäferstündchen abhalten wollen.
In einer dieser Nächte packen Jan mal wieder Vorahnungen, vielleicht könnte man auch Visionen dazu sagen. Denn manchmal, wenn er seine Augen schließt, oder wenn es dunkel um ihn herum wird, sieht er plötzlich Bilder. Bilder, mit denen er nichts anfangen kann; die seinen sich noch in der Entwicklung befindlichen, sechsjährigen Verstand hoffnungslos überfordern. Er liegt gerade in seinem Bett, hat gerade mal wieder versucht, einzuschlafen, und ist gerade mal wieder von diesen unsäglichen Bildern davon abgehalten worden. Er öffnet entsetzt seine Augen, doch es ist so dunkel, dass die Bilder durch diese Maßnahme nicht verschwinden. Er zittert am ganzen Leibe wie Espenlaub. Er keucht; jappst geradezu nach Luft. Sonst ist er jetzt immer schreiend zu seinen davon auf geschreckten Eltern gerannt. Er spürt auch jetzt einen ihn alles durchdringenden, ihn geradezu überwältigenden Impuls in sich, genau dies zu tun. Dann kommt ihm aber sofort wieder die von seinen Eltern geschenkte kleine Taschenlampe in den Sinn. Sie hatten ihm gesagt, dass es sich dabei um eine Wundertaschenlampe handele, die ihn einfach vor allem, das ihn ängstigen könnte, beschützen würde.
Er beugt sich zitternd und jappsend zu seinem Nachtisch herüber, öffnet dort die Schublade, findet darin das Gesuchte, reißt es an sich und schaltet es ein. Ein sanftes Licht breitet sich wellenförmig um ihn herum aus, und die entsetzlichen Bilder vor seinen inneren Augen verschwinden tatsächlich auf der Stelle.
Eine Seite dieser Lichtwelle breitet sich auch in Richtung des Fensters von Jans Zimmer aus. Folgen wir ihr doch einfach mal. Stellen wir uns dabei vor, wir würden auf ihr dahin reiten, aus dem Fenster hinaus in die Nacht hinein, in den nächtlichen, wolkenlosen Himmel; durch die verschiedenen Atmosphärenschichten, dann ganz knapp an einem Satelliten vorbei, und immer weiter, und weiter. Lassen wir dabei zeitliche Aspekte doch einfach mal außer Acht, denn eine Lichtwelle braucht, auch wenn sie sich naturgemäß in Lichtgeschwindigkeit ausbreitet, dennoch relativ viel Zeit, um nur unser Sonnensystem zu verlassen. Es saust unaufhörlich weiter, immer weiter, durchquert sogar einmal einen Asteroidengürtel. Irgendwann lässt es dann auch unsere spiralförmige Galaxie weit hinter sich, und saust an vielen anderen Galaxien vorbei. Plötzlich, wie viel Zeit bis dahin schon vergangen ist, ist nur sehr schwer zu ermessen, trifft es auf so etwas Ähnliches wie ein Auge eines Wesens, für das Zeit ebenso keine Rolle spielt. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – für es alles das Selbe, alles eins. Es wiederholt sich eh alles immer und immer wieder. Die Zeit, der Raum, die Materie, die Galaxien – alles entsteht, alles dehnt sich aus, alles zieht sich zusammen, nur damit das Spiel dann wieder von vorne beginnen kann.
Der Lichtstrahl löst sehr kurz so etwas Ähnliches wie Erkenntnis innerhalb dieses Wesens aus, eine Erkenntnis, die so durchdringend, so allumfassend, so ganzheitlich ist, wie es für einen normalen Menschen noch nicht einmal gedacht, noch nicht einmal in Erwägung gezogen werden kann. Durch diese Erkenntnis hat das Wesen gemerkt, dass ganz offensichtlich etwas nicht stimmt, etwas nicht stimmen kann. Und zwar weit entfernt von ihm, irgendwo ganz am Rande des Universums innerhalb einer weit entfernten Galaxie.
Das Wesen gibt diese Erkenntnis an die Anderen weiter, an seine Artgenossen, an das Kollektiv. Vielleicht könnte man sich dieses Kollektiv wie eine Art überdimensionales Gehirn vorstellen, nur auf eine ganze Zivilisation übertragen, wobei jedes einzelne dieser Wesen dabei eine Komponente darstellt; ein Teilaspekt des großen Ganzen. Dieser Teilaspekt reagiert auf die Anderen, so wie die Anderen auf es reagieren.
Blitzartig breitet sich die Erkenntnis im Kollektiv aus, wobei jedes Wesen noch einen eigenen Beitrag hinzu gibt, meist in Form einer bei ihm abgespeicherten Information, die irgendwie, und sei es auch noch so entfernt, damit in Zusammenhang steht; stehen könnte. Dies geht so lange, bis das so immer weiter kumulierte Wissen schließlich auch bei den „Alten“ angekommen ist.
Doch wer sind eigentlich diese „Alten“?
Auf ein Gehirn übertragen wären sie vielleicht so etwas wie der „präfrontale Kortex“ zwischen den Augen, so etwas wie die Entscheidungszentrale des Systems also. Dort kommt die Erkenntnis zusammen mit allen vorherigen Beiträgen an, und die „Alten“ haben schließlich auf der Basis dieser Informationen zu entscheiden, was zu tun ist. Hierzu werden diese Informationen zunächst analysiert, dann strukturiert und anschließend auf ihr Wesentliches reduziert. Nach diesem Prozess bleibt hinsichtlich dieser speziellen Informationen am Ende noch in etwa folgendes übrig:
Es handelt sich bei dieser Spezies um Affen, die sich selbst „Menschen“ nennen. Sie haben mit Hilfe der natürlichen Evolution so etwas wie eine zwar schon erstaunliche, aber dennoch immer noch recht primitive Art eines Bewusstseins entwickelt. Sie leben auf ihrem Planten mit erstaunlich vielen anderen Lebewesen zusammen, mit denen sie alle verwandt sind. Die Lebewesen leben dort weitestgehend in Harmonie miteinander. Sie nennen das Lebenssystem, das so auf diesem Planeten entstanden ist, Gaia. Nur der Affe, der sich „Mensch“ nennt, tritt scheinbar aus diesem System heraus; stellt sich über das System; versucht es zu beherrschen. Maßt sich gar an, über es bestimmen zu können; bestimmen zu dürfen.
Die „Alten“ sind sehr weise, denn sie versuchen ihr ganzes Leben lang ihre Leidenschaften stets in den Griff zu bekommen. Aber diese Anmaßung dieser Affen auf diesem Planeten lassen in manchen von ihnen doch wieder ein von ihnen schon längstens für überwunden gehaltenes Gefühl auslösen, gar mehrere Gefühle hintereinander, die aber alle irgendwie miteinander in Zusammenhang zu stehen scheinen: zuerst Empörung, dann Wut, und danach ganz kurz sogar Hass. Aber nach dem dieses letztgenannte Gefühl in ihnen sehr kurz aufflackert, ist es auch schon wieder ähnlich einem Blitz am nächtlichen Firmament des Planeten dieser Wesen verschwunden; überwunden.
Anschließend werden von den Alten noch weitere Erkenntnisse hinzugezogen: diese Affen behaupten, sie seien Menschen, weil sie dies als Rechfertigung für ihr Fehlverhalten den anderen Lebewesen auf ihrem Planeten gegenüber brauchen. In Wirklichkeit sind es Affen, haben aber schon lange ihre natürliche, ihre harmonische Lebensweise aufgegeben; haben sich ihrer eigenen Natur gar entgegengestellt; haben Kultur erschaffen, mit deren Hilfe sie sich künstlich über das System erhoben haben, aus dem sie selbst ursprünglich einmal entsprungen waren.
Dieser Fehler muss korrigiert werden! Eben dies ist das Fazit der Untersuchungen; ist die Entscheidung, die die „Alten“ nun gefällt haben. Sie geben diese Entscheidung an das Kollektiv weiter, und nun liegt es an den Anderen, sie umzusetzen, während sich die „Alten“ schon wieder eines ganz anderen Problems im Universum annehmen.
Nicht lange danach werden Raumschiffe vom Kollektiv entsandt, mit dem Ziel Erde. Dort angekommen, wird sofort mit der Invasion begonnen; werden die Städte systematisch besetzt; werden alle Anführer hingerichtet; werden Schlachten geschlagen und angesichts der weit überlegenen Technologie der Wesen von weit her auch rasch gewonnen. Alle übrigen Affen, die sich kurz zuvor noch Menschen genannt hatten, werden wieder ihrer natürlichen, ihrer von ihrer Natur zugedachten Lebensweise zugeführt. Hierzu werden sie in den noch verbliebenen Urwäldern ausgesetzt. Alle Städte, alle Infrastrukturen, alle Institutionen werden unterdessen dem Erdboden gleich gemacht. In sehr kurzer Zeit erinnert auf dem Planeten nichts mehr an eine Krankheit namens Zivilisation, und es dauert nicht lange, bis die ca. eine Million verbliebenen Affen, die sich früher einmal Menschen genannt hatten, ebenso vollkommen vergessen haben, dass sie einmal aus der Selbigen entsprungen waren.
Nun sind sie wieder das, was sie in Wahrheit die ganze Zeit gewesen waren: Affen, die sich in die Harmonie ihres Planeten, und damit auch in die Harmonie des gesamten Universums, einfügen; die sich nicht mehr über die anderen Lebewesen auf ihrem Planeten erheben, sondern endlich, nach einer langen Zeit des Irrwegs, wieder in den Schoß ihrer Mutter Erde zurück gefunden haben.
Als die Wesen von einem weit, weit entfernten Ort den Planeten Erde wieder verlassen, sind sie sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Allerdings, da sind sich zumindest die Meisten von ihnen sicher, wird es wohl nicht ihr letzter Besuch gewesen sein. Irgendwann werden sie dort sicherlich noch einmal nach dem Rechten sehen müssen.

ENDE
 
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