57


12 Seiten

Die Ballade von Pretty Ramon - (6) Cyberpunk

Romane/Serien · Schauriges
Auch wenn die Augen genauso aus Gold bestanden wie der Körper, der Kopf, die Wände und die sich in den Schädel bohrenden Rohrleitungen, schien hinter ihnen ein Licht zu leuchten, das dem den Raum durchdringenden Summen entsprechend flackerte.

(Das sechste Kapitel der Web-Story um den Monsterjäger aus dem Jahr 2060. Mini-Kapitel erscheinen auf http://cyberzombiesattack.blogspot.de/ bis sie dann zusammengefasst auch hier veröffentlicht werden.)

Der Dämon räkelte sich an seinem Kreuz. Dass dadurch der um die ihn an das Holz heftenden Nägel gewachsene Schorf aufbrach und einige Tropfen Blut auf den Steinboden fielen, störte ihn nicht im Geringsten. Es war der zweite Besuch von Ramon in dem Gefängnis des Gehörnten. O’Reilly war dieses Mal an der Oberfläche geblieben, um sich einer Besucherin der Kirche zu widmen, deren Gesicht mit den zahllosen Falten und den trüben, halbblinden Augen von mehr erfahrenem Kummer zeugten als es die schwarze Bluse und das gleichfarbene Kleid der Greisin auszudrücken vermochten.
Am folgenden Tag würde Ramon einen Anruf von Pater Flaherty erhalten und sich wenig später auf nach Portland machen. An diesem Tag jedoch erfuhr er, dass der Untergang der Welt unmittelbar bevorstand.
„Ein paar Tage habt ihr noch.“ Der Dämon grinste. „Und es gibt sogar eine Chance, das ganze abzuwenden. Aber das, was dafür getan werden muss, wird dir nicht gefallen.“
Der Monsterjäger schüttelte den Kopf: „Ich weiß um den Weg, der gegangen werden muss, um die Welt zu retten. Er kommt nicht in Frage. Erzähl mir lieber, wie ich das Unheil für die Menschen einigermaßen eindämmen kann.“
Der Gehörnte wirkte überrascht. Dann lachte er: „Du dummer Wurm wirst mir langsam sympathisch. Ich werde dir die Antwort geben, wenn du mich das nächste Mal besuchst. Heute will ich dir von Menschen erzählen, die glauben, Dämonen für ihre Zwecke benutzen zu können. Es gibt da einen so genannten Wissenschaftler.“

-

Professor Oldyne klatschte in die Hände. Er wendete sich ab von dem Monitor, den er in den letzten Minuten wie gebannt angestarrt hatte, und nickte dem Zwerg an seiner Seite zu. Begeistert schlug er ihm auf die Schulter. „Gute Arbeit, mein Freund, sehr gute Arbeit. Junge Subjekte und auch noch in großer Zahl. Viel ist besser als wenig, oder? Ich freue mich schon auf mein Labor.“
Der Zwerg verzog das Gesicht unter der unerwarteten Berührung durch den Professor. Es dauerte aber nur einen Augenblick bis wieder ein Lächeln den Weg in sein Gesicht fand. „Ich habe versprochen, dass kein Mangel an Versuchskörpern herrschen wird. Und ich würde den Herrn Professor niemals enttäuschen.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Oldyne strahle. „Es ist gut, es ist überragend, es ist wirklich einigermaßen fein. Fang sie ein, nachdem sie sich vermehrt haben, und bring sie in die Zellen, oder? Ich muss in mein Labor. Vorbereitungen können nicht warten. Sonst werden es Nachbereitungen, oder? Oh ja. Viel Arbeit. Das ist gut. Das ist sehr, sehr gut.“ Der Professor nickt noch einige Male vor sich hin und marschierte dann auf die Treppe zu, die in den Keller des bis vor kurzem verlassenen Gebäudes irgendwo im Industriegebiet Portlands führte.
Der Zwerg blickte dem Wissenschaftler nach. „Wenn du nicht so unfassbar alt und sichtlich unschmackhaft wärst, würde ich dich fressen, du Idiot. Aber so werde ich dich einfach nur mit deinen eigenen Eingeweiden strangulieren. Bald. Sehr bald.“
Dann verließ er das Gebäude, um seine Rolle als entsetzter und leicht panischer Hausmeister der Portland High School zu spielen.

Als er seinen Ford auf dem Parkplatz der Schule parkte, wusste er bereits, dass die Dinge nicht nach Plan verliefen. Sein Wagen hatte gerade einen Leichnam überrollt. Andere tote Untote pflasterten den Hof der Portland High. In dem Moment, als er wutentbrannt aussteigen wollte, klingelte sein Handy.
„Ja?“
„Du verlierst. Die Polizei hat sich an jemanden gewendet, dem du nicht gewachsen bist.“
„Hundescheiße. Ich bin jedem gewachsen.“
„Du bist Geschichte.“
„Wer bist du überhaupt, dass du es wagst, mich zu beleidigen?“
„Braucht dich nicht zu kümmern. Du bist eh schon tot.“
„FICK DICH!“
„Sayonara, bitch.“

-

Die erste gute Nachricht des Tages bestand aus einer noch eingeschweißten Plastikzahnbürste und einer fast halbvollen Tube Zahnpasta. Timothy vermied es, in den Spiegel zu schauen, während er sich auf den Besuch beim Präsi vorbereitete.
Er befand sich in dem Badezimmer eines längst verlassenen Hauses unweit dessen, in dem er aufgewacht war. Warum das Wasser in diesem Gebäude noch lief, wusste er nicht. Dem stolzen Grinsen des im Türrahmen lehnenden Typen in seiner Lederjacke und unter seiner gelb gefärbten Mohawksichel zu entnehmen, handelte es sich vermutlich um ein kleineres Wunder. Ein Wunder, das der Typ vermutlich selbst erwirkt hatte, korrigierte sich Timothy als das Grinsen des jungen Mannes auch nach zwei Minuten nicht an Umfang verloren hatte.
Er spülte seinen Mund mit leicht brackig schmeckendem Wasser aus und wagte dann doch einen Blick in den über dem Waschbecken hängenden Spiegel. Er sah aus wie ein Toter. Seine Haut war weiß, seine Augen waren trübe. „Scheiße“, murmelte er und tauchte seinen Kopf in den fast nicht braunen Wasserstrahl. Dann blickte er sich nach dem Jugendlichen um, der immer noch begeistert grinste: „Hübsch genug für den Präsi?“
Der Junge nickte. Sein Kopf war chirurgisch modelliert worden. Er erinnerte an ein Ei, das sich oberhalb der Ohren dazu entschieden hatte, doch lieber eine schmale Pyramide zu sein. Die sichelartige Frisur des Jugendlichen wirkte noch einigermaßen normal, aber die langen und messerscharfen Zähne, die aus dem künstlich vorgewölbten Kiefer herausblitzen, ließen auch den letzten Zweifel verschwinden, dass es sich bei dem jungen Mann um einen absoluten Vollidioten handelte. „Der Präsi schaut nur nach den inneren Werten“, meinte er.
Timothy lächelte schwach. „Was für ein Glück.“ Er faltete die Hände zusammen, um ein wenig Wasser aus dem rostigen Hahn zu sammeln und zu trinken. Zu seinem Pech tötete es ihn nicht.
„Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“
„Sahne“, tönte der Jugendliche begeistert.

-

Töten an sich ist eine widerwärtige Angelegenheit. Aber wenn man genügend Ziele hat und diese sich auch noch in einem gleichmäßigen Tempo bewegen, kann man es zu einer Kunstform erheben. Natürlich benötigt man großes Geschick dazu. Und Waffen, gefertigt von einem Meister.
Ramon verfügte über beides. Er hielt Checkbuch in seiner linken Hand, Rimshot in seiner rechten. Und er tanzte.
Den Schulhof hatte er bereits gesäubert. Nun arbeitete er sich durch das Foyer des Hauptgebäudes. Schreie aus den oberen Etagen machten ihm klar, dass sich die Portland High noch nicht vollständig in der Hand der Untoten befand. Er mochte das. Die Existenz von lebendigen Menschen, die gerettet werden mussten, stellte so etwas wie ein Zeitlimit dar. Wenn er zu langsam arbeitete, würde er für den Tod vieler Menschen und vielleicht sogar für den einiger Unschuldigen verantwortlich sein. Herausforderungen wie diese waren das Salz in der Suppe seines Berufs.
Er drehte sich um seine Achse und ließ die Pistolen singen. Drei Mädchen und ein Junge, alle bleich, angefressen und vor Hunger nach frischem Fleisch stöhnend, stürzten zu Boden. Kleine aber exakt platzierte Löcher zierten ihre Schädel.
Ramon griff in seine Sporttasche und fischte nach neuen Clips mit Munition. Während er die Pistolen fütterte, machte er bereits weitere Zombies aus, die mit gierig ausgestreckten Armen auf ihn zustolperten. Er jauchzte begeistert.

-

Keiko überlegte, ob sie ihren Großvater danach fragen sollte, später am Tag mit ihr in ein Toys’R’Us zu gehen. Natürlich war sie beinahe erwachsen, aber Puppen übten dennoch eine große Faszination auf sie aus.
Wenn man sie einigermaßen weit entfernt platzierte, ergaben sie perfekte Ziele für Übungen. Außerdem, so dachte sie, während sie die letzte Spur Marmelade aus ihrem Gesicht wischte, musste sie unbedingt mit ihrem Opa in ein Waffengeschäft gehen. Sie hatte viel zu wenig Wurfmesser.

-

Sie war mal schön gewesen. Sie trug einen kurzen Rock und eine Bluse. Ihr Haar war schwarz und nur ganz wenig von Körperflüssigkeiten, die am besten im Inneren besagter Körper flossen, verkrustet. Die rechte Brust fehlte und das große Loch in der Magengegend sah sehr ungesund aus. Die Brille auf ihrer Nase war verbogen, wirkte aber immer noch sehr teuer.
Ramon war ein Gentleman und deutete eine Verbeugung an, bevor er ihr in den Kopf schoss.
Er arbeitete sich weiter durch die Schule vor. Bei der Masse an Untoten, die an jeder Ecke umherzuwanken schienen, machte er sich doch langsam Sorgen, dass die Munition nicht ausreichen würde.
Ein weiterer panischer Schrei aus den Obergeschossen erinnerte ihn daran, dass er nicht nur zum Spaß in der Portland High unterwegs war.

Einige Meter entfernt hatte Inspector Snyder gerade die Informationen bezüglich des Standorts der Voodookarre und vor allem bezüglich des Kodes zum Kofferraum dieses Wagens durch Funk weitergegeben. Er sah auf das Schlachtfeld, das vor wenigen Stunden noch als Schulhof durchgegangen war, fischte die zerdrückte Zigarette aus dem Aschenbecher seines Autos und drückte sie glatt. Er drehte den Zündschlüssel, um den Zigarettenanzünder des Chryslers zum Glühen zu bringen. Eine Minute später inhalierte er Nikotin ohne Husten zu müssen.
Er sah einen kleinwüchsigen Menschen in Richtung des Hauptgebäudes der Schule hasten und wusste sofort, dass es sich bei dieser Figur um jemanden handelte, der nicht hier sein sollte. Er zog an seiner Zigarette und genoss das betäubende Gefühl des Nikotins, welches seinen Körper in das Leder seines Sitzes presste. Dann murmelte er: „Zur Hölle“, schlug sich gegen die Stirn und stieg aus dem Wagen.

Der nächste Zombie war ein Knabe in einem Pearl Jam T-Shirt. Das Shirt war so weit, dass keine größeren Verletzungen zu erkennen waren. Aber es war von Blut durchtränkt. Außerdem waren die Augen des Jungen blass und sein Stöhnen offensichtlich nichtmenschlich. Ein Schuss trieb seine Nase in die zum Großteil lahm gelegte Masse, die noch vor kurzem sein Hirn dargestellt hatte. Ramon nickte dem nach hinten fallenden Leichnam zu. „Sehr retro, aber ich steh auf einige Songs der Band. ‚Alive’ ist ein Klassiker.“ Dann rannte der Mexikaner auf die Treppe zu, die ihn zum nächsten Stockwerk führen würde.

-

„Es heißt, dass die Sonne sich in der Stunde, in der Fernando geboren wurde, aus Scham oder Furcht hinter dem Mond verbarg und das ganze Land in Dunkelheit gehüllt wurde. Angeblich hatte sich seine Mutter aufgrund der die Wände erkletternden Schatten geweigert, das ungeborene Kind aus ihrem Körper entweichen zu lassen. Die zwei alten Weiber, die schon seit vielen Jahren jede Geburt in dem von allen Göttern verlassenen Dorf irgendwo in der Region, die hundert Jahre später den Namen Mexiko erhalten sollte, hatten auf die Schwangere eingeschrieen und sie beschworen, nicht gegen die Muskelkontraktionen im Beckenbereich anzukämpfen. Die werdende Mutter soll schweißgebadet und vom Fieber gepeinigt gewesen sein. So sehr, dass sie nicht in der Lage war, zu sprechen und zu erklären, dass sie eher mit dem Fötus im Leib sterben als ein Kind, vor dem sich die Sonne versteckte, auf die Welt loslassen wollte.
Die alten Weiber flehten und kreischten vergeblich. Der Legende nach soll ein goldener Glanz das Gesicht der schwangeren Frau umhüllt haben, als sie starb. Die beiden Greisinnen verließen die Hütte unter Tränen, um der vor der Tür versammelten Dorfgemeinschaft von dem Tod der werdenden Mutter und der ausgebliebenen Geburt zu erzählen. Doch gerade, als sie ins Freie getreten waren hörten sie das Weinen eines neugeborenen Kindes. In diesem Moment erlosch der letzte Sonnenstrahl.

Es gibt kranke Menschen, die von einem Wunder sprechen. Diejenigen, die es besser wissen, sagen, dass das Böse nicht aufzuhalten ist. Die eingetretene Sonnenfinsternis verängstigte die Bewohner der kleinen Siedlung so sehr, dass Panik ausbrach. Mehrere Menschen wurden schwer verletzt, einige fanden sogar den Tod. Daher dauerte es auch eine ganze Weile, bis endlich jemand in die Hütte trat, in der die Geburt stattgefunden hatte, gegen die sich die Mutter so sehr gewehrt hatte. Wer diesen ersten Schritt wagte, weiß niemand mehr, aber es herrscht kein Zweifel an dem, was diese Person sah.
Auf einer Pritsche lag eine tote Frau. Dort, wo sich einmal das Becken und der Bauch befanden hatten, war nur noch eine schmierige, größtenteils schwarzrote Masse zu sehen. Inmitten dieses Breis saß ein Säugling. Nun, vermutlich ist dieser Begriff nicht ganz richtig, denn Säuglinge sollten nicht über Zähne verfügen. Und zwischen diesen Zähnen sollten sich auf keinen Fall Reste der Bauchdecke der Mutter befinden.“
„Und sie haben dieses Kind nicht getötet?“
„Es war eine Zeit, in der die Menschen zumindest in jener Region noch vernünftigerweise abergläubisch waren, aber das heißt nicht, dass sie dumm waren. Sie erkannten, dass Teufel über das Leben des Kindes wachten.“
„Diese Geschichte kann auf keinen Fall wahr sein.“
Der gekreuzigte Dämon lachte: „Nein, das ist sie auch nicht. Fernando hatte damals noch keine Zähne. Aber er hatte Kraft und einen gesunden Überlebensinstinkt. Er hat einfach einen Knochen aus dem Skelett seiner Mutter gerissen, ihn zerbrochen und sich einen Weg in die Freiheit und ins Leben erstochen.“
„Auch das glaube ich nicht“, entschied Ramon.
Wieder erntete er ein Lachen. „Dein Mangel an Fantasie ist beklagenswert. Frag ihn am besten einfach selbst, wenn du ihn triffst. Vergiss aber nur nicht den Wissenschaftler. Du hast mir als Gegenleistung für meine Geschichte versprochen, ihn zu töten.“
Der Mexikaner steckte sich eine Zigarette an. „Und das werde ich tun. Erzähl mir, wie sich die Wege der beiden gekreuzt haben.“

-

Keiko würde an diesem Tag weder in ein Waffengeschäft noch in einen Spielzeugladen gehen. Sie folgte ihrem Großvater durch das den Tempel umgebende Gelände in Richtung des Heiligtums. Ihr Opa sprach die ganze Zeit, aber sie konnte sich keines der mit seiner durchaus angenehmen Stimme gesprochenen Worte merken. Viel zu sehr beschäftigten sie die Blicke all der jungen Erwachsenen, die sie auf dem Weg ausmachte. Die Jungen und Mädchen, die allesamt mit der Pflege des Gartens oder der Wege beschäftigt waren, schauten sie nicht etwa neugierig sondern schlichtweg gierig an. Bei einigen, so meinte sie, glühten die Augen sogar gelb. Ihr Opa schritt über eine kleine Holzbrücke, die sich über einen künstlich angelegten Bach erstreckte, und meinte: „Du wirst vermutlich nie wieder weggehen wollen.“
Keiko hatte nicht richtig mitbekommen, wie die vorangegangenen Sätze gelautet hatten, aber ihr war klar, dass sie nicht einverstanden war.
Dann waren sie am Zentrum des Tempels angekommen. Ihr Großvater drehte sich zu Keiko um, bevor er in den von goldenen Wänden umschlossenen Raum trat. Sein Lächeln war erschreckend.
„Das ist nicht gut“, dachte Keiko. Dann folgte sie dem alten Mann.

-

Der vorletzte Mann, der Henrick Andrews geheißen hatte, war den Namen Paul Martin bereits wieder leid und deswegen auch schon wieder los geworden. Seine Situation hatte sich seit der letzten Nacht eh grundlegend geändert. Es war nicht länger notwendig, einen Menschen zu spielen und lästige Dinge wie Pässe und ähnliche Papiere zu verwenden. Eigentlich war er ja niemand, der sich von irgendjemand etwas sagen ließ. Und wenn man ihm auftrug, alles Geplante zu vergessen und sich buchstäblich um 180 Grad zu drehen, um statt im Norden für Chaos zu sorgen den Süden in Brand zu setzen, reagierte er eigentlich sehr empfindlich. Aber wenn ein Baron einem einen Befehl gab, dann gehorchte man. Dann gehorchte jeder. Außerdem handelte es sich um einen Auftrag, der Spaß versprach. Es war ausdrücklich erwünscht, laut und offensichtlich vorzugehen.
Seine Freunde durften ihn jetzt Mister Reaper nennen. Seine Feinde durften Asche fressen.

Er hatte die Lust am Busfahren verloren. Also hatte er den Fahrer, der sich ausgesprochen lange gegen das Verbluten gewehrt hatte, gebeten das Gefährt in eine Bar, vor der zahlreiche Motorräder standen, zu steuern. Die Reaktion der darin versammelten Männer in ihrer Lederkluft und den mit ihnen beschäftigten Frauen war köstlich gewesen. Zufrieden hatte er registriert, dass sie zwar überrascht auf das die Mauer durchbrechende Fahrzeug reagierten, aber nicht allzu penetrant nach Angst stanken. Einige Frauen hatten geschrieen und der Barkeeper hatte mit einer Schrotflinte auf ihn gefeuert, aber die Aufregung hatte sich relativ schnell gelegt. Der Anführer der Biker war schnell ausfindig gemacht worden. Reaper hatte ihn mit dem Körper des Busfahrers, der tatsächlich (zumindest zu Beginn) immer noch am Leben gewesen war, zu Tode geprügelt und die anwesenden Herren anschließend gefragt, welches Motorrad er gerade herrenlos gemacht hatte. Wie erwartet hatte er nicht mehr sagen müssen. Als er sich auf die ihm gezeigte Honda Viking schwang hatten die übrigen Anwesenden ebenfalls ihre Maschinen bemannt. Die einzige Ausnahme hatte in dem Barkeeper bestanden, der dampfend hinter der Theke lag. Egal welchen Namen er auch immer gerade benutzte, Reaper mochte es nicht, wenn Leute auf ihn schossen.

Jetzt ging die Nacht gerade zu Ende. Ein neuer Tag brach an. Seine neuen Freunde und er hatten an einer Tankstelle die Motorräder neu befüllt und waren jetzt unterwegs in Richtung Süden. Als die Tankstelle hinter ihnen explodierte erlaubte er sich den Spaß, Teile seiner wahren Gestalt preiszugeben. Die Männer jubelten, als sie die groteske von Flammen umhüllte Figur sahen, die vor ihnen fuhr. Die Frauen schmiegten sich an die Biker und reagierten ansonsten möglichst gar nicht. Sie waren zu klug, um nicht zu erkennen, dass sie bereits verdammt waren. Allerdings wird man keine Bikerbraut, wenn einem nicht bereits alles egal ist.
Reaper lachte. „Mexiko City. Pater Flaherty. Warte nur ein Weilchen. Wir sind so gut wie da.“

-

Der Morgen hatte die Farbe einer mittleren Erkältung. Bleich schien die Sonne durch den für Puyallup üblichen Nebelschleier. Timothy fühlte sich ungefähr so, wie der Himmel aussah. Er war dem Jungen mit der zu weit gehenden Vorliebe für Kopfformmodellierung nach draußen und einige Straßen weit gefolgt. Dann hatte dieser ihn nach vorne gestoßen und auf einen sich aus dem Nebel schälenden Müllhaufen, der am Ende der gerade betretenen Straße lag, gedeutet. „Der Präsi."
„Der Präsi ist ein Müllberg?“ hatte Timothy gefragt. Die Antwort hatte „Präsihaufen. Er sitzt oben“ gelautet.
Jetzt wankte er auf schwachen Beinen auf den Präsihaufen zu. Er fühlte Übelkeit, die in seiner Magengegend wütete, und er spürte wie die langsam wieder zurückkehrende Erinnerung an das Chaos in der Wohnung seiner Eltern versuchte sein Herz aufzufressen. Dennoch schritt er voran und hatte bald auch den Fuß des aus aufgeschichtetem Gerümpel bestehenden Haufens erreicht.
Es handelte sich tatsächlich einfach um Müll, wie er in jedem Haushalt zu finden war. Nahrungsreste fehlten, was seine Nase durchaus begrüßte, aber von ausrangierten Waschmaschinen über zerfledderten Sofas, zerbrochenen Tellern, kaputten Bügeleisen bis hin zu antik anmutenden Sattelitenschüsseln gab es alles, was man in einer gut sortierten Müllsammlung zu sehen erwartete. Auf der Spitze des Berges klebte ein gold angestrichener Fernsehsessel, in dem es sich ein Mann in den Mittdreißigern gemütlich gemacht hatte. Er hielt einen ebenfalls gold angestrichenen Stab, der sehr an das Rohr eines Staubsaugers erinnerte, in der einen Hand und einen natürlich genauso golden gefärbten Klein-Computer in der anderen.
Da der Berg ziemlich groß war und der Mann somit sehr hoch über Timothy thronte, musste er schreien, als er sich an ihn wandte. „Du bist Timothy. Deine Eltern sind ermordet worden und du hast überhaupt keine Ahnung, was Sache ist.“
Timothy brüllte zurück. „Du bist der Präsi und du kannst mir nicht weiterhelfen. Ich danke dir, dass ich bei euch schlafen konnte aber ich geh jetzt besser weiter.“ Jedes Wort war wie ein Hammer, der auf seinen Schädel einschlug. Er war es seinem Kater verpflichtet, das Gespräch kurz zu halten. Aber dann änderte sich alles.
„Du irrst dich, Timothy“, rief der Präsi, „ich weiß, wer deine Eltern auf dem Gewissen hat. Ich… scheiße, hast du ein Handy? Diese Brüllerei nervt. Normalerweise habe ich ein Megaphon, aber ich habe es dummerweise vorgestern fallen lassen.“
„Ja“, schrie Timothy, „ich habe eine Handy.“
Er musste die Nummer zweimal wiederholen, bevor der Präsi ihn vollständig verstand. Dann aber klingelte sein Telefon und die leicht heisere Stimme des Mannes drang an sein Ohr: „Hört du mich jetzt? Ja? Exzellent. Äh, du siehst aus wie jemand, der dringend ein gutes Frühstück braucht, also komme ich am besten gleich zum Punkt. Ist das okay? Ja? Exzellent. Du weißt vermutlich bereits, dass wir uns im Krieg mit den Cybergangs befinden, richtig? Nein? Okay, dann werde ich doch etwas weiter ausholen müssen. Alles begann vor… nein, ich starte lieber mit einer Frage: Was weißt du über künstliche Intelligenz?“

-

Ojiisan“, wandte Keiko sich leise an ihren Großvater, „was ist das hier für ein Raum?“

Die beiden befanden sich im Zentrum des Tempels, in einem Raum, dessen Wände, Boden und Decke innen mit Gold verkleidet zu sein schienen. Draußen fanden sich kleine aus Holz, Glas und Reispapier bestehende Hütten inmitten einer liebevoll angelegten und gepflegten Gartenanlage. Schmale Pfade und seichte Bäche zogen sich durch die eindrucksvolle und doch sanfte, beruhigend wirkende Farbenpracht. Auch das Gebäude, in welches Keiko ihrem Großvater gefolgt war, hatte sich von der äußeren Erscheinung her perfekt in das an ein südliches Japan längst vergangener Zeiten erinnernde Bild geschmiegt. Der einzige Raum im Inneren aber spiegelte auf ebenfalls prächtige aber doch kältere Art die technologisch geprägte Gegenwart wider.
Rohrleitungen und Kästen mit kleinen Displays auf der Oberfläche pflasterten die goldenen Wände. Aus dem Ende einiger Rohre wuchsen entweder einzelne sehr dicke oder zahlreiche mit Plastikklammern zusammengefasste, schmale Kabel. Wie alles in diesem Raum glänzten auch sie golden. Die Kabel lagen nur wenige Zentimeter weit frei und krochen schnell wieder in eine andere Rohrleitung oder einen der unzähligen Kästen. Keiko hätte normalerweise noch nicht einmal in Gedanken Begriffe wie ‚Wachsen’ oder ‚Kriechen’ für Stromleitungen verwendet. Als sie aber hier neben ihrem Großvater stand, beschlich sie das Gefühl, dass die Kabel, die Wände und alles andere in diesem Raum lebendig waren.

Ein leises aber permanentes Brummen erfüllte die Kammer. Leichte, unregelmäßige Änderungen in der Tonhöhe dieses Geräuschs in Verbindung mit der gedämpften Lautstärke ließen das Mädchen an einen Bienenschwarm denken, der in einen aus dünnen Steinplatten bestehenden Käfig gesperrt war.
Die Kabelstränge zogen sich auch an der Decke des Raums entlang. Von allen Seiten kommend bündelten sie sich in der Mitte, um dort in eine Unzahl von schmalen Goldröhren zu fließen, die wie geordnete Stalaktiten von der Decke herabhingen und in dem eigentlichen Zentrum dieses Raums und, wie Keiko befürchtete, des Tempels mündeten. Umgekehrt betrachtet, so dachte das Mädchen, wirkten diese schmalen Röhrchen ein wenig wie von dem Zentrum ausgehende Strahlen oder die Spitzen einer Krone.

Das angesprochene Zentrum selbst schaffte es sogar in diesem Raum als besonders seltsam heraus zu stechen. Es handelte sich dabei um eine Art Mischung aus Statue und Möbelstück. Die Vielzahl an goldenen, Dutzende von Kabeln in ihrem Innern beherbergenden Röhrchen endeten in dem Kopf einer gut drei Meter hohen Statue, die eine mit den Beinen verschränkt auf dem Boden sitzende Göttin darstellte. Der Körper dieser Gestalt entsprach abgesehen von der immensen Größe dem eines Menschen. Er war unverhüllt und auch wenn das primäre Geschlechtsteil der Gestalt durch die Beine verborgen war, gab der Oberkörper das Geschlecht der abgebildeten Figur auf deutliche und üppig gehaltene Weise wieder. Der Kopf war alles andere als menschenähnlich. Auf filigranste Art hatte ein genialer Goldschmied es geschafft, dem Betrachter den Eindruck zu vermitteln, einen mit einer Art Fell überzogenen Schädel anzusehen. Ein kurzer, an einen umgestülpten Trichter erinnernder Rüssel fand sich dort, wo bei einem Menschen der Mund oder die Nase gewesen wäre. Ohren gab es nicht, aber zwei große, facettenartige Augen starrten auf die Eingangstür und auf den alten Mann sowie das nervöse Mädchen, das gerade die Hand ihres Großvaters ergriff.
Auch wenn die Augen genauso aus Gold bestanden wie der Körper, der Kopf, die Wände und die sich in den Schädel bohrenden Rohrleitungen, schien hinter ihnen ein Licht zu leuchten, das dem den Raum durchdringenden Summen entsprechend flackerte.
Die Hände der Gestalt ruhten auf den Knien der verschränkten Beine.
Und eben diese Beine waren der Grund, warum Keiko an eine Mischung aus Statue und Möbelstück dachte. Kleine, kaum auffallende Zusätze und Änderungen hatten aus dem Schoß der Göttin ein goldenes, durchaus bequem wirkendes Sofa gemacht. Es schien sogar gepolstert zu sein, was aber nur dann auffiel, wenn man sich bemühte, den Rest der Statue zu ignorieren. Es handelte sich bei dieser Ergänzung offensichtlich um meisterhafte Arbeit, denn obwohl Keiko wusste, dass sie ein Sofa im Schoß einer Insektengöttin als lächerlich ansehen musste, blieb ihr nichts anderes übrig, als die komplette Erscheinung als perfekt zu begreifen. Sie spürte wie die Angst an ihrem Rücken empor kroch.

„Bitte, Ojiisan“, sagte sie, „was ist das hier?“
Ihr Großvater drückte die Hand seiner Enkelin zärtlich. „Dies ist das Heiligtum des Tempels. Vor dir siehst du die Göttin, die mich vor vielen Jahren in dieses Land gerufen hat. Sie ist die Meisterin der Zeit und sie verheißt allen, die ihr folgen – und auch dir, Keikochan – eine wundervolle Zukunft.
„Ich möchte gehen, Ojiisan.“
„Ja.“ Der alte Mann lächelte. „Ich glaube, das ist ziemlich verwirrend für so einen kleinen, süßen Kopf. Irgendwann wirst du alles verstehen. Aber jetzt möchtest du vermutlich erst einmal die Stadt kennen lernen. Du wirst sehen, Seattle ist nicht weniger verwirrend.“
Er drückte einen Kuss auf ihre Stirn und öffnete die Tür.

Der sanfte Wind und der Geruch der zahlreichen Blumen in den Tempelgärten wehten die Furcht aus dem Kopf des Mädchens.
„Ich bin ein wenig zu alt, um durch den Sprawl zu jagen. Vor allem bin ich zu alt, um dabei Schritt mit einer Drachentochter wie du es bist, zu halten. Ich schicke Roku mit dir. Du kennst ihn bereits. Er hat hoffentlich genug Energie, um dir standzuhalten.“ Ihr Großvater strich durch ihr Haar.
Keiko lachte: „Von welchen Drachen bin ich die Tochter, Ojiisan?“
„Von allen, Keikochan, von jedem einzelnen.“

Sie ergriff die Hand ihres Großvaters und folgte den schmalen Pfaden zurück zu dem Haus, in dem sie von nun an leben sollte. Die Blicke der vielen Menschen, die in den Gärten beschäftigt waren, waren freundlich.
„Und doch“, so dachte sie, „ungeduldig. Was immer hier vor sich geht, ich werde es enträtseln. Passt nur auf. So eine wie mich habt ihr noch nicht gesehen.“

-

„Künstliche Intelligenz? So wie in Videospielen?“ fragte Timothy.
Der Präsi lachte erst. Dann seufzte er: „Schön wär’s, mein Junge, schön wär’s.“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Noch keine Kommentare.

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Die Ballade von Pretty Ramon - Inhaltsangabe  
Die Ballade von Pretty Ramon (8) - Das Ende der Welt  
Die Ballade von Pretty Ramon - (7) Eine Geschichte vom Krieg  
Die Ballade von Pretty Ramon - (5) Im Norden  
Die Ballade von Pretty Ramon - (4) Sayonara Bitches  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De