Ich hock am Fenster in der Ecke
im gut besuchten Stadt-Café.
Ich schau mich um, und ich entdecke:
Hier trifft sich wohl die Hautevolee.
Serviert wird flott von jungen Damen,
die sind sehr schick und sehr charmant.
Sie grüßen Gäste meist mit Namen.
Man kennt sich – und man wird gekannt.
Am Nachbartisch drei junge Dinger,
der Kuchen schmeckt – man tratscht dabei,
nippt letzte Krümel mit dem Finger.
Vom Hintern grinst ein Arschgeweih.
Den Herrn am Tresen hör ich sagen,
er wolle zahlen, und zwar prompt!
Er rückt und schiebt dabei am Kragen,
damit sein Schlips zur Geltung kommt.
Man lässt die Phantasien blühen,
man bläst sich auf und raucht sich fit.
Man ist gestresst. Die Handys glühen
und teil'n sich Sensationen mit.
Und nebenan spricht so ein lieber
und graumelierter nobler Herr
mit einer blonden Dame über
die Tücken beim Geschlechtsverkehr.
Auch Nadelstreifen sind vertreten,
dort, wo man deutlich leiser spricht.
Geht’s um Geschäfte, um Diäten?
Verstehen kann ich's leider nicht.
Der deutsche Globus scheint versammelt
um mich herum, und ich gesteh:
Ich fühl mich heute so vergammelt -
Wer wichtig ist, trinkt hier Kaffee.
Hier also kann man Pläne schmieden!
Hier trifft Geschäft auf Politik!
Hier also werden Deals entschieden!
Hier, Deutschland, lenkt man dein Geschick!
Beschämt bin ich, und ich versinke
in Trübsal, weil's mich sehr geniert:
Dieweil ich Schokolade trinke,
wird hier der Aufschwung produziert.
www.wolfgang-reuter.com, 18. 01. 2006