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11 Seiten

Revoluzzer und andere Liebchen - 3. Kapitel der "Französischen Liebschaften".

Romane/Serien · Spannendes
Drittes Kapitel der Französischen Liebschaften:
"Revoluzzer und andere Liebchen".
*
Gegen Abend hatte ich mich über den Park von Luxembourg bis zur Sorbonne geschlichen, umging die Polizeikolonne und fand mich plötzlich mitten im Pulk der demonstrierenden Studenten. Es war wohl der dritte oder vierte Tag der Unruhen; die Streik-Forderungen hatten sich verschärft. Ursprünglich ging es nur um die Aufhebung des Übernachtungsverbotes. Wegen der überfüllten Sorbonne waren viele Studenten hinaus nach Nanterre verlegt worden. Dort die ersten Forderungen: “Studenten wollen auch nach Eintritt der Dunkelheit im Haus der Studentinnen bleiben, dort übernachten oder die Freundin aufs Zimmer mitnehmen dürfen! Die verknöcherte Sexualmoral muss fallen!”
Aber die französische Bourgeoisie hatte mit freier Liebe nichts am Hut. Das Motto im konservativen Frankreich: “Wenn erst einmal jede mit jedem Liebe macht wie es ihnen gefällt, dann fallen bald auch alle anderen Schranken. Staat und Gesellschaft sind in ihren Grundzügen in Gefahr!” Das Verbot blieb bestehen. „Wer von Frankreich als Land der Liebe spricht, der sollte einmal in einem französischen Provinz-Schlafzimmer Mäuschen spielen; da bleibt das Nachthemd an und das Licht aus!“ erläuterte Pascale, von der ich mehr als nur diesen Satz lernen sollte.
Die Uni von Nanterre wurde von Studenten besetzt. Die Polizei griff ein. Studenten wurden verhaftet. Also hörte es sich an, als würden ein paar Chaoten wegen einem bisschen Sex nur ein paar Stunden verrückt spielen und morgen wäre die Republik wieder in Ordnung. Das hatte De Gaulle den braven Franzosen versprochen. Und jetzt dieser Rabatz schon seit Tagen! Warum lernen die Mächtigen nicht, rechtzeitig eine Situation richtig einzuschätzen und dem Volk aufs Maul zu schauen? Ist es Eitelkeit? Größenwahn? Dummheit? Dünkel? Aber können sie dümmer und dünkelhafter als ihre Wähler sein? Noch Jahre später suche ich nach dieser Kausalität.
Nichts ist in Ordnung, mon Général! Komm' Genossin! Kamerad! Reiche mir mal ein paar Steine rüber! Hast du ein Taschentuch? Dort drüben liegt eine Genossin verletzt! Jetzt geht’s nicht mehr alleine um das Beischlafverbot in den Uniwohnheimen. Jetzt geht’s euch an den Kragen! Unter den Talaren der Mief von tausend Jahren! Macht kaputt was euch kaputt macht! Unsere Eltern, die Banken und Börsen schlafen auf Geld, auf Macht und auf Privilegien! Arbeiter und Studenten gemeinsam! Schluss mit dem Polizeistaat! Schluss mit dem Konsumterror! Schluss mit der Bevormundung! Eure Vergangenheit habt ihr uns verschwiegen und schamlos unter den Teppich gekehrt, unsere Kindheit habt ihr für den Tanz ums goldene Kalb verkauft. Komm' Genosse, reih' dich ein, reih’ dich ein in die Arbeitereinheitsfront! Ja hier war ja echt was los! Gegen Eltern und Staatsgewalt! Für die freie Liebe! Im Sozialismus wird alles möglich sein! Für die Freiheit und gegen den Stress am Arbeitsplatz und an der Uni. Zwar hatte ich außer dem Speisesaal noch keinen Uni-Hörsaal von innen gesehen, aber was soll’s? Das wird alles demnächst im Aufwasch der Revolution erledigt! Es waren herrliche Parolen! Griffig und einleuchtend.
Oder gegen Hungerlöhne in den Fabriken, da konnte ich schon eher mitreden. Eine Welt ohne Krieg und ohne Militär, das klingt verdammt gut! Hatte ja auch schon ein paar Mal daran gedacht, nur so in Gedanken, einen Wutausbruch gegen meinen Unteroffizier, eine entscheidende Faust gegen den Stiefvater, eine Enteignung jener Fabrik, in der ich einfältig mit einem Hubkarren Ersatzteile von einer Fertigungshalle in die andere transportiere.
Aber legt man sich deshalb gleich so krass mit der Polizei an, wie das hier und jetzt passiert? Das ist ja eine völlig neue Erfahrung! So viele Menschen auf einem Haufen, soviel aufgestaute Wut. Auf der anderen Seite die Polizei, Staat, Ordnung! Geregeltes und eingefahrenes Leben! Wo stehe ich eigentlich? Der Gedanke kommt mir zwischendurch, aber die Zeit ist zu hektisch, zu aufregend, um jetzt darüber nachzudenken. Die Revolution ruft!
Ich mitten im Pulk der Studenten! Aber da sind ja auch Erwachsene dabei, Arbeiter im Blaumann und intelligente Brillen- und Krawattenträger um die Vierzig! Wie magisch angezogen nahm ich die ersten Steine in die Hand, schleuderte sie wie eine Befreiung hinüber zum Brunnen, eine Fensterscheibe des Bistros war noch heil, jetzt zerbarst sie. Und mit ihr zerbarst ein Stück dieser verhassten kapitalistischen Gesellschaft.
Gejohle! Freudenrufe! Ich wurde umarmt. Wie ein Engel aus einer anderen Welt fiel mir ein Mädchen um den Hals und küsste mich. Polizeipferde preschten heran. Auf der Flucht stolperte ich; wir lagen unter wuchtigen Pferdekörpern mitten auf dem Boulevard. Mein Blick fiel auf kräftige Pferdepimmel und schwarze Reitstiefel. Ich griff dem Hengst in den Schritt, er rastete aus, seine Hufe keilten an meinem Kopf vorbei, der Hengst warf seinen Reiter herunter, die Meute grölte! Geil, geil, obergeil!
Es brodelte. Keine Übersicht mehr! Ein anderer Flic zog mir den Schlagstock über Schultern und Hinterkopf! Schmerz durchzuckte mich. Ich blutete. Das Mädchen riss mich aus dem Gewühl zur Seite in einen Hauseingang, zog hastig ihre Strickjacke aus und verband damit meinen Kopf.
Danke! Ein Streicheln, Zärtlichkeit, erotische Berührung mitten im Getümmel, Kameradschaft, Solidarität! Hatte ich früher nie gekannt! Glückshormone durchströmten mich. War hier also das Ziel meiner Suche? Hatte ich nicht auch unter meinem Stiefvater, also unter dem Faschismus, in der Schule, beim Militär unter Intrigen und Ungerechtigkeiten gelitten? Haben wir in Deutschland nicht die gleichen Probleme wie die Franzosen und der Rest der Welt? Waren nicht meine Flucht und mein Suchen symbolisch für diese Leiden? Aber jetzt wird zurückgezahlt! Es lebe die Revolution!
Mehr Steine! Leute, reicht mir Steine! Ich will Revolution machen!
Ich heiße Nadine, sagte das Mädchen. Woher kommst du? fragte sie zwischen zwei Rauchgeschossen. Aus Deutschland! brüllte ich. Toll! Ein deutscher Klassenkämpfer! Nieder mit dem Faschismus! Wo wohnst du? Hast du eine feste Bleibe? Du kannst heute Nacht bei mir schlafen! Vorher haben wir noch Hauptversammlung in der Mensa, aber erst müssen wir die Flics hier vertreiben, die Sorbonne ist noch geschlossen, wir werden sie besetzen, vive la revolution mondiale!
Ich fand das Mädchen schön. Es hatte wogende Brüste und rote Haare wie Lisa und einen sinnlichen Kussmund. So etwas Feines hatte ich in meiner Hilfsarbeiterfabrik zu Hause in Deutschland noch nicht gesehen. Wenn sie nicht gerade mit der Revolution beschäftigt wäre, könnte ich sie in einem Hauseingang oder auf einer Parkbank küssen. Ja, ich hatte tatsächlich an ‚küssen’ gedacht, denn für mehr würde sich eine Studentin aus besseren Kreisen bei einem Hilfsarbeiter wie mir ganz bestimmt nicht hergeben. Meine Minderwertigkeitskomplexe waren noch genauso ausgeprägt wie meine naive Sehnsucht nach Liebe. Aber unmerklich gingen Veränderungen mit mir vor. Ich dachte an Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, sah ein Gemälde, eine Frau mit nacktem Oberkörper, der volle Busen ist aus dem zerfetzten und mit Blut befleckten Kleid gerutscht. Oder war es nicht die heilige Johanna, die war doch keusch und hochgeschlossen auf dem Reiterstandbild zu sehen, sondern es war eine dralle Landarbeiterin bei einer Revolution, die Trikolore stolz in einer und das Gewehr kampfbereit in der anderen Hand der Frau?! Ebenso grimmig wie auf dem Gemälde stürmten wir auf die Armada der Polizisten zu und brüllten "Ho-ho-ho-chi-ming". Wer war das denn wieder? Ist auch egal, vielleicht ein Weltrevolutionär oder ein getöteter Student oder es war Französisch und hieß schlicht und einfach ‚Leck mich am Arsch’. Wer wird sich denn beim Sturm auf die Bastille mit solchen Kleinigkeiten befassen?
Wir schleuderten Steine, verschanzten uns hinter umgekippten Autos, die Polizei schoss, zum Glück noch nicht scharf. Ein Gummigeschoss traf mich am Oberschenkel, wir husteten uns durch beißenden Qualm. Spät in der Nacht leckte Nadine meine Wunden, nachdem wir erst noch in der Kommune waren. „Das ist ein deutscher Genosse, ein Antifaschist, er ist deutscher Militärdeserteur!“ Nadine stellte mich stolz den anderen Genossinnen und Genossen vor.
Ich war kein Penner und kein Herumtreiber mehr!
Jetzt war ich ein Held! Ein Revolutionär! Ein Mitverschwörer!
Einige klatschten, andere legten kameradschaftlich ihren Arm um mich.
Jetzt war ich in den richtigen Kreisen! Ben, Nadine und Sophie, Francoise und Patrick, Rebecca und Donald und alle anderen hatten ihren reichen Eltern den Fehdehandschuh hingeschmissen und die trotzkistische Gruppe gegründet, oder war es Mao, oder Lenin, ich wusste es nicht genau, war auch egal, jedenfalls war es etwas toll Revolutionäres.
Schließlich gehört doch allerhand Mut dazu, einfach das reiche und gut behütete Elternhaus zu verlassen und in miesen Studentenbuden auf Matratzen und mit Sperrmüll zu hausen; den Alten die Stirn zu bieten und ihnen endlich zuschreien: "Ihr könnt uns alle am Arsch lecken, jetzt wird Revolution gemacht! Und wenn man beim Revolutionsspiel auch noch tolle Frauen abbekommt und ohne Skrupel vögeln kann, umso besser! Das ist ja ein völlig neues Lebensgefühl!"
*
“Wir müssen Fakten schaffen, bevor De Gaulle aus Rumänien zurück ist! Wie schätzt ihr die Lage ein?” Genosse Glucksteen unterstrich jedes Wort seiner Rede, in dem er mit dem Knöchel der geballten Faust den Takt auf den Tisch klopfte. Sein dünner Mund unter der schmalen, aristokratischen Nase wirkte Respekt einflößend und überzeugend auf mich. Wir hockten - eine Gruppe von zwölf oder fünfzehn Weltverbesserern - eingepfercht auf fünfzehn Quadratmeter in Rebeccas Dachkammer und teilten die Welt neu auf. Vor einer Stunde hatte Glucksteen noch im Audimax auf dem Podium gestanden, neben Daniel Cohn-Bendit, flammende Reden, gebannte Gesichter, Jubel, aber auch Pfiffe…
„Cohn-Bendit ist ein Polit-Clown!“ rief Glucksteen in die Runde. „Er will weder Macht noch Revolution! Er sieht das alles hier wie eine Theater-Inszenierung, wie ein Aufruf zum Volksfest. Der rote Dany ist ein Konterrevolutionär! Er wird uns die Revolution versauen! In der Diskussion mit Sartre hat er’s doch zugegeben: Hier wird keine Revolution mit einem großen R gemacht, hat Cohn-Bendit gesagt, und Opa Sartre hat diesem Verräter zugestimmt.“
„Ach Sartre!“ Nadine tat die Diskussion mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. „Der Greis bildet sich heute noch ein, er hätte Neunzehnhundertvierundvierzig Paris gegen die Nazis verteidigt“.
„Hat er doch auch?!“ Pascale traute sich kaum, die Frage als eigene Meinung zu deklarieren. „Oder?“ Unsicher schaute sie in die Runde. Ihr Blick blieb an mir haften. Dabei war ich der Letzte, der hier auch nur annähernd hätte mitdiskutieren können. Ich wusste nur, De Gaulle hatte Sartre nicht verhaften lassen. Obwohl Sartre darauf spekuliert hatte. Es wäre das Sahnehäubchen für unsere Bewegung gewesen.
“Die Arbeiter sind eindeutig auf unserer Seite”. Rebecca wechselte das Thema, als wollte sie Pascale aus der Schusslinie holen.
“Einige Arbeiter! Nicht alle!” Glucksteen hob erhaben und abwehrend die Hände. “Und wir wissen nicht, wie sich die Führung der PC und die CGT verhält?! Wenn sie von Moskau zurückgepfiffen werden, fallen sie uns in den Rücken! Die Sowjets können keine französische Revolution gebrauchen, mit Westdeutschland als Keil zwischen Rhein und Elbe! Der Status Quo ist von den Kriegsalliierten abgesteckt!” Glucksteen deklarierte mit einer Souveränität, dass ich dachte, Gott höchstpersönlich steht vor mir.
Donald lachte spöttisch. „Die französischen Kommunisten wissen sich zu benehmen! Sie sind staatserhaltend! Sie dürfen sich betätigen und sogar profilieren, aber keine Revolution machen. Das hat Stalin schon vor Jahren mit de Gaulle vereinbart, als er ihm Maurice Thorez aus Moskau zurück nach Paris schickte...!“
“Scheiß Revisionistenpack, die PC!” schrie Nadine. “Arbeiten mit der CIA zusammen!” Nadines Stirn lag in Falten. Wenn sie wütend war, strahlten ihre Augen noch mehr Feuer als sonst. Ich wusste zwar nicht, von was sie redet, - was hat ein amerikanischer Geheimdienst mit französischen Kommunisten zu tun? Ist das nicht wie Feuer und Wasser? - Aber ich war stolz auf mein Mädchen, wie sie da feurig die Revolution verkündete und gegen den Rest der Welt wetterte. “Ihr werdet es erleben: Für ein Butterbrot werden sie sich De Gaulle anbiedern, wie sie sich Neununddreißig den deutschen Nazis angebiedert hatten!” rief Nadine und schaute sich Beifall heischend um.
“Das war unter dem Eindruck von Hitlers Pakt mit Stalin. Da waren die französischen Kommunisten noch so naiv zu glauben, Hitler sei ein Menschenfreund und die Nazis hätten etwas für den Sozialismus und die Arbeiter übrig...!” warf Pascale etwas holprig ein und schaute wieder ängstlich zu Glucksteen und das abgeschabte Sofa hinüber. Pascale galt, soweit ich das mitbekommen hatte, als unsichere Kantonistin und wurde nicht ganz ernstgenommen. Sie kam eigentlich aus der christlichen Ecke und ließ Sympathien für Mitterands Sozialisten durchblicken. Aber sie vögelte mit David, dem Trotzkisten, und beim Wände besprühen, den nächtlichen Plakataktionen und beim Belegen von Sandwichs konnte man sich auf sie verlassen.
“Wieso hat De Gaulle seine Reise nach Rumänien nicht abgesagt?” Nun hatte Eduarde die Dozentenpose eingenommen. “Es wäre ihm als Schwäche ausgelegt worden. Und als Eingeständnis, dass Frankreich am Schwimmen ist. Außerdem hatte er seinen Lakai Pompidou als Stadthalter hier“. Eduarde hatte sein Studium der französischen Kunstgeschichte abgebrochen und studierte jetzt Theaterwissenschaften. Erst Jahre später sollte er noch einmal als Wendehals meinen Weg kreuzen.
„Pompidou ist schlimmer als De Gaulle!“ warf Pascale fast schüchtern ein. „De Gaulle sucht wenigstens noch den Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen. Aber Pompidou ist nur der Mann der Großbanken!“
Glucksteen starrte Pascale entgeistert, beinahe wütend an. „Wo ist bei den beiden der Unterschied?“ schrie er. „Wenn es um die Revolution geht?!“ Die meisten nickten. Einige riefen Parolen, die ich nicht verstand. Ich verstand sowieso nichts. Ich war ein Mitläufer, der durch Zufall in historische Ereignisse geraten war, deren Bedeutung und Auswirkungen ich erst später Stück für Stück erkannte.
Zwei Wochen später war die Mai-Revolte der Achtundsechziger in Paris und im restlichen Frankreich zu Ende. Einen Tag nach De Gaulles Rückkehr aus Rumänien lenkte er ein, versprach “Reformen Ja! Aber Unordnung Nein!” Die Gewerkschaften antworteten mit einem Streik von zehn Millionen Menschen. Die Republik stand auf der Kippe. Ende des Monats war De Gaulle plötzlich für einen Tag aus der Öffentlichkeit verschwunden und tauchte bei den französischen Truppen in Deutschland, bei General Massu in Baden-Baden auf. Er war deprimiert und voller Selbstzweifel. Keine Recherche, keine Historiker haben bis heute mit letzter Gewissheit herausgefunden, welche Gedankengänge De Gaulles die nächsten Stunden bestimmt hatten, welche Entscheidung dann für die Wende ausschlaggebend war.
“Er schwankt!” rief Glucksteen. “Er sucht Hilfe! Jetzt muss er sich sogar beim Militär rückversichern! Aber er wird zurücktreten!” Am nächsten Tag sprach der General im Radio: “Ich werde nicht zurücktreten!” Er setzte alles auf eine Karte. Sein Appell an die schweigende Mehrheit war gutes Timing, vielleicht waren auch Zufall und Glück im Spiel. Frankreich hatte - von den linken Genossen der PCF bis zu den Rechtskonservativen - Angst vor Anarchie und Experimenten. Auf den Champs-Élysées kam es an diesem Maitag zu einer historischen Manifestation von De Gaulles Unterstützern. “Die Patrioten Frankreichs sind an der Seite De Gaulles und retten unser Vaterland vor der anarchistischen Diktatur!” schallte es aus Lautsprechern. Nadine, Pascale und ich standen ungläubig staunend und erschrocken an der Place de la Concorde und sahen Hunderttausende, eine wogende Menschenmenge die breite Prachtstraße hinaufziehen zum Triumphbogen. Ehemalige Soldaten mit ihren Ehrenzeichen und auf Hochglanz polierten Tapferkeitsmedaillen am zerknitterten Sonntagsanzug und die Hände am Krückstock. Alte Mütterchen mit Augen, in denen sich Angst, Stolz und Hoffnung mischten, oder geschminkte Hausfrauen in sauberen Mänteln mit Fischgrätenmuster, freudig eine Papiertrikolore in der Hand schwenkend.
“Wir haben verloren!” resignierte Nadine. “Es war alles umsonst!” Ihre Augen blickten entsetzt, wütend, fassungslos. Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie kuschelte sich an mich. Unbeholfen legte ich meinen Arm um ihre Schulter. “Es war nicht alles umsonst!” sagte Pascale. “De Gaulle wird sich nicht mehr lange halten. Er ist alt und müde. Und auch Pompidou muss Reformen zulassen! Wir haben nicht alles erreicht, aber wir werden freier atmen können! Frankreich und die Welt haben sich verändert!” Nadine sah Pascale mit Unverständnis an. Pascale hakte sich links bei mir ein. Meine Arme umfassten nun zwei Frauenkörper, meine Hände spürten die Brüste der Mädchen. Im Schutz der Alleebäume schoben wir uns zwischen den Menschenmassen zum Grand Palais. Dort kamen wir nicht weiter, waren eingekreist. An den Steinsäulen hingen die Menschen wie Trauben. Jemand aus der Masse begann die Nationalhymne zu singen. Mit einer trotzigen Unruhe schwoll der Gesang an und wurde zum begeisterten Manifest. “Allons enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé...!”
Plötzlich hob Nadine die linke Faust und begann die Internationale zu singen. „C’est la lutte finale...!” Wütend und trotzig schrie sie gegen die Massen an. “Debout! Les damnés de la terre...!” Steht auf, Verdammte dieser Erde! Auf, auf, zum letzten Gefecht...
Ich hatte Angst. Sie würden uns hier totprügeln!
Aber wir wurden nicht einmal beachtet.
Alle Augen blickten, getragen vom Schall der Marseillaise, wie hypnotisiert hinauf zum Triumphbogen und zu den Lautsprechern. De Gaulles Geist schwebte von dort herab und erfüllte die Massen mit Hoffnung.
“Zum zweiten Mal hat Général De Gaulle Frankreich gerettet!” schrie ein Mann im Gewühl zu einer Frau. Stolz strahlten seine Augen, man konnte das freudige Funkeln erkennen. Die Frau hielt sich mit einer Hand am Arm des Mannes fest, reckte die andere in die Luft. “Vive la France!” schrie sie. Tausendfach wogte der Ruf aus der Menge zurück. "Vive la France!"
“...Formez vos bataillons, marchons, marchons...!” brüllte Nadine, ließ dann aber die geballte Faust sinken. Ich hatte sie überhaupt nicht hochgereckt.
*
Die Nationalversammlung wurde aufgelöst, Neuwahlen angesagt. Zwei Tage zuvor hatte der Sozialist François Mitterand seine Kandidatur für die Präsi-dentschaft angemeldet. Die Kommunisten riefen ihre Anhänger zur Beendigung des Streikes auf, befürworteten Neuwahlen und präsentierten sich als Retter des Vaterlandes und als Wahrer von Recht und Ordnung. Am 25. Mai waren Sie einer Einladung Pompidous ins Arbeitsministerium in die Rue Grenelle gefolgt und mit Reformen, wie der Anhebung des Mindestlohnes, abgespeist und eingebunden worden. Die Revolution war gescheitert, die Republik gerettet, aber mit einigen Reformen wurden verkrustete Strukturen aufgerissen. Frankreich war anders geworden. Pascale hatte Recht behalten. Selbst De Gaulle und später Pompidou konnten sich Reformen nicht mehr verschließen. Ein paar linksliberale Reformminister wurden ins Kabinett berufen und die Wogen wenigstens an der Oberfläche geglättet.
„Es gibt keine Revolution!“ sagte Pascale, als wir alleine in einem Café hockten. „Gesellschaftliche Veränderungen bestehen aus lauter kleinen Schritten! Immerhin können wir dafür sorgen, dass es nach zwei Schritten vorwärts nur einen einzigen Schritt zurück geht! Viel mehr Spielraum werden wir wahrscheinlich niemals haben!“ Das klang nicht unsympathisch und für mich einleuchtender als die wirren Alles-oder-Nichts-Parolen der anderen Genossen. Aber auf welcher Grundlage sollte ich diskutieren? Wer hatte Recht? Wo lag die Wahrheit? Noch hatte ich meine Geschichte mit Nadine laufen und Nadine war auf die Revolution eingeschworen. Je tiefer es mit unserer Revolution bergab ging, umso intensiver trieben es Nadine und ich miteinander. Der politische Frust sorgte sexuell für unsere schönste Zeit.
*
Daniel Cohn-Bendit wurde kurz darauf wegen Beteiligung an den Unruhen aus Frankreich ausgewiesen und ging nach Deutschland, dessen Staatsbürgerschaft er durch einen Elternteil besaß. David flog für ein Jahr zu einem Polit-Praktikum bei der UNO nach New York und wurde nach seiner Rückkehr Börsenmakler in Paris. Rebecca landete nach einem Suizidversuch in der Entzugsklinik, während ihre Mutter in einer der Regierungen liberale Familienministerin war. Glucksteens Entwicklung, seine Rolle als „neuer Philosoph“ und sein Weg zu den französischen Rechtsnationalisten ist kaum in wenigen Zeilen zu beschreiben. Pascale gab ihr Studium der Soziologie auf und begann mit einer Ausbildung als Familiensozialarbeiterin. Es drängte sie zur praktischen Alltagsarbeit mit den Menschen im Kiez. Später wurde sie Sozialarbeiterin und lebte teils mit mir, teils mit einer eifersüchtigen lesbischen Freundin zusammen. Nadine hatte ihr Psychologiestudium abgebrochen und wurde Zahnärztin. Ein paar Jahre später heiratete sie einen Zahnarzt; die beiden betreiben heute eine gutgehende Gemeinschaftspraxis in Neully, einem wohlhabenden Pariser Vorort. Für mich war die Revolution zu Ende. Die Nachwehen und subtilen Auswirkungen sollten lange dauern, auf andere Städte und Staaten Europas übergreifen, viel tiefer auf die Menschen und auch auf mich persönlich einwirken, als ich das damals im meinem blinden Pflasterstein-Aktionismus erkennen konnte.
Das Leben in Paris wurde erneut Alltag. Es gab wieder Benzin, die verbarrikadierten Läden öffneten und die Menschen gingen wie früher tanzen oder promenierten neugierig flirtend am Seine-Ufer. Wir trafen uns in den politischen Zirkeln, diskutierten und stimmten basisdemokratisch darüber ab, ob wir abstimmen oder weiterdiskutieren sollten. Bei den Diskussionen hörte ich zu, sagte ab und zu “Interessant”, oder “Darüber muss ich nachdenken”, oder “So habe ich das bisher noch gar nicht gesehen!” und die Genossen empfahlen mir Bücher, die ich nicht las und Seminare, die ich nicht besuchte. So schiffte ich mich einigermaßen sicher und unerkannt um die Klippen. Ich musste mich überhaupt nicht bemühen, den politischen Intellektuellen zu spielen. Den Leuten in der Gruppe war ich als lernfähiger Proletarier viel lieber. Intellektuelle Prediger hatten sie genug. Es fehlte ihnen am einfachen Volk. Ich aber gehörte zum "Volk", denn unterdessen war ich Gelegenheitsarbeiter in der Großmarkthalle, war also Proletarier und sogar „links“, was damals fast einem Ritterschlag gleichkam und mir zahlreiche Türen öffnete.
Langsam wurde es zur Mode: Jede progressiv-bürgerliche Familie aus der französischen linksliberalen Intelligenz leistete sich in diesen Tagen einen Vorzeigeproleten. Keine Fete, auf der nicht mindestens ein Arbeiter oder ein armer Schlucker eingeladen, gefüttert und herumgereicht wurde. Manchmal holten sie sogar Clochards von der Straße oder unter den Brücken hervor und schleppten sie zu einer Schlemmerfete, um die Beziehung zur Arbeiterklasse zu manifestieren. "Seht her, seht her! Unser stiller linksliberaler Protest...!"
“Während in ganz Paris einige tausend Clochards sich den Arsch abfrieren, gibt es jetzt für knapp fünfzig von Ihnen ein Stück vom Kuchen auf Goldrandtellerchen und Wein aus Kristallgläsern!” spottete Pascale. Wir saßen in einem der Eck-Bistros an der Place Maubert und warteten auf Nadine und David, die noch in der Uni-Bibliothek recherchierten und sich mit uns treffen wollten.
Pascales Spott und Ironie gefielen mir und schienen realistischer als die geschliffenen Parolen der anderen Genossen. “Aber das jeden Abend!” sagte ich spöttisch. “Wenn das rundum geht, kommt jeder der Pariser Clochards einmal jährlich zu einer Einladung! Also, wofür benötigen wir dann noch eine Revolution?” Ich griff nach Pascales Hand. Sie erwiderte den Druck und wollte gerade ihren Kopf an meine Schulter lehnen, als Nadine und David zur Tür hereinkamen.
*
Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Fünfte überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de
*
Auch hier bei Webstories: Das 4. Kapitel: "Zwischen den Stühlen".
 
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Kommentare  

hallo michael, das überarbeiten hat sich wirklich gelohnt. gefällt mir sehr gut.
gruß von


rosmarin (16.10.2013)

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