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Bastille - 20. Kapitel der "Französischen Liebschaften".

Romane/Serien · Spannendes
20. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Bastille".
*
Ich hatte mich nahezu bürgerlich etabliert, lebte schon eine Weile in einer bescheidenen Mietwohnung in einer Seitenstraße nahe der Bastille von meinen verschiedenen Jobs als Reiseleiter und “Filmschauspieler”. Doch hauptsächlich verdiente ich mein Geld mit soliden Hausreparaturen als vielseitiger Service-Handwerker. Auf meinem Minibus hatte ich ein Schild angebracht: „Service Maison & Jardin“, was etwa „Dienstleistungen rund um Haus und Garten“ bedeutete. Neben einem Klappbett, Kühlschrank, chemischer Toilette, Wasserbehälter und Gasherd beherbergte der Bus noch Werkzeug und technisches Gerät, um kleinere Reparaturen im Haus oder Gartenpflege durchzuführen.
Die gelegentlichen Jobs als Reiseleiter waren meistens interessant und brachten einen angenehmen Zusatzverdienst. Im Kleinbus eines Reisebüros kutschierte ich Touristen durch Paris. Das Bordmikrofon wie einen Schwanenhals vor dem Mund, bemühte ich mich, das Pariser Ausflugsprogramm lebhaft und abwechslungsreich zu gestalten. Das Büro rief mich meistens am Wochenende an, wenn es zu viele Touristen und zu wenige Fahrer gab. Sie hatten so viele Aufträge, ich hätte als Vollzeitjob einsteigen können.
Auch meine „Schauspielerei“ als gelegentlicher Statist und Kleindarsteller in den Filmstudios von Billancourt machte Spaß und wurde leidlich gut bezahlt. In der Schminke, wenn wir zu wilden Demonstranten oder würdigen Hintergrundspaziergängern zurechtgeputzt wurden, erfuhr man von Bars und Partys, von Treffpunkten und vor allem von Castings und weiteren Arbeitsmöglichkeiten. Das bunte Volk der Statisten wusste wie man in Paris über die Runden kommt. Natürlich waren die Kantinen, wo sich Schauspieler, Techniker und Statisten zwangsläufig trafen, auch Stätten der Eitelkeiten und Hoffnungen. Nur drei Tische von Belmondo, Michel Piccoli oder Romy Schneider seinen Kaffee zu schlürfen, das verführte viele Statisten schon zu Träumereien, die niemals Realität wurden. Auch ich war anfangs vor solchen Höhenflügen nicht geschützt. Als ich in einer Kaffeehausszene nicht nur locker am Tisch sitzen, sondern zum vorbeihuschenden Kellner den Satz „Monsieur, die Rechnung bitte!“ rufen durfte und die Kamera meine verlorene Handbewegung für eine halbe Sekunde festhielt, glaubte ich den entscheidenden Schritt in die internationale Filmkarriere getan zu haben. Dabei blieb es! Alle anderen Szenen in rund dreißig Filmen waren gemeines Fußvolk in der Masse, meistens wortlose Kulisse, abgesehen von einigen Kriegs- oder Fußballszenen, in denen wir wüst grölten oder heroisch schrien.
Hauptsächlich hatte ich den Minibus mit Werkzeug und Handwerkergeräten draußen in St. Remy de Chevreuse stehen. Eigentlich gab es immer mehr oder weniger lukrative Aufträge, die mich nicht nur über Wasser hielten, sondern mir darüber hinaus in den meisten Fällen ein sorgenloses Leben bescherten. Rasen mähen, Kachel verlegen, eine Mauer reparieren oder einen Gartenzaun streichen, einen Keller oder Dachboden entrümpeln. Fast alles Arbeiten, für die sich kurzfristig keine Arbeitskraft finden ließ. Aber ich war zur Stelle! Viele meiner früheren Kunden auf der Ile de Ré und von der Côte d’Azur hatten ihre Hauptwohnung in oder um Paris; die Adressen und Telefonnummern waren noch in meinem Büchlein vermerkt. Wer nach meiner Art "freiberuflich" arbeitete, hatte zwar kein regelmäßiges und gleichbleibendes Einkommen, dies aber steuerfrei bar auf die Hand. Die Taschenbuchführung ging das Finanzamt nichts an. So etwas ist in Frankreich ein Kavaliersdelikt.
Zwischendurch war genug Zeit und Unabhängigkeit für den Lebensgenuss. Aber Freiheit ist keine Anarchie! Freiheit heißt nicht „sich treiben lassen“, sondern es ist eine Frage von Disziplin und Organisation, also von regelmäßiger Arbeit und einem einigermaßen geordneten Leben. Sonst wird Freiheit unterm Strich zum Gegenteil, nämlich zur Abhängigkeit!
*
Eines Abends klopfte jemand an meine Tür im ersten Stock. Im Spion sah ich eine mir unbekannte junge Frau mit einem Baby auf dem Arm. Das Baby war kaum zugedeckt, als sei die Frau gerade auf dem Sprung von der Wohnung gegenüber. Neugierig legte ich die Türkette zurück und schob die beiden schweren Sperrriegel zur Seite. Die Frau sah müde aus. Sie hatte eine Strickjacke übergeworfen; ihre Füße steckten in Hauspantoffel.
„Bonsoir Monsieur!“ Das Mädchen wirkte schüchtern aber freundlich und ihre Nervosität fiel mir zunächst nicht auf. „Madame?“ schaute ich sie fragend an und trat zur Seite, bereit sie einzulassen. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich heiße...“. Sie nannte einen Namen. „Ich, das heißt wir beide...“. Sie zeigte auf das Baby. „Wir wohnen oben im vierten Stock! Wir sind Nachbarn!“
„Ahh!“ sagte ich. „Aber kommen Sie doch herein!“ Ich öffnete die Tür in ihrer ganzen Breite.
„Nein, danke Monsieur! Ich will gar nicht lange stören. Ich wollte Ihre Frau nur fragen, ob sie vielleicht zufällig etwas Milch oder Milchpulver zu Hause hat? Ich habe vergessen Milch einzukaufen. Aber die Kleine braucht noch etwas...!“ Zur Hälfte wurde das Baby von der Strickjacke verdeckt. Sein Gesichtchen sah blass aber gepflegt aus. Mit geöffneten Augen quakte es ein wenig und wackelte mit den Händchen.
„Aber setzen Sie sich doch erst einmal!“ Ich zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ Schon setzte ich Wasser auf den Gasherd. Dann kramte ich im Küchenschrank herum und fand eine Dose mit Milchpulver.
„Hier!“ sagte ich. „Eiserne Reserve!“ Dankbar und scheu lächelte die Frau. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Milch gleich hier anzurühren?“ fragte sie.
„Aber nein! Im Gegenteil! Wie viel Pulver auf wie viel Wasser nehmen Sie?“ Ich holte den Messbecher und wollte mit der Zuteilung beginnen.
„Ich laufe nur schnell nach oben und hole das Fläschchen und den Schnuller!“ sagte die Frau und stand auf.
„Ja! Gehen Sie schnell!" antwortete ich. "Unterdessen sind der Tee und die Milch fertig! Haben Sie denn schon etwas gegessen? Ich habe im Kühlschrank noch...“. Aber die Frau war schon aus der Tür. Das Baby lag wohlig zwischen zwei Kissen auf meiner Couch. Ich beugte mich über das Bündelchen, rieb meine Nase auf seiner Stirn und neckte: „Dudeidudeidu...!“
Ich wartete. Ich wartete eine ganze Weile und wurde nach zehn Minuten nervös und nach weiteren zehn Minuten misstrauisch. Dann lief ich durchs Treppenhaus. Wo sollte ich klingeln? Ein paar Nachbarn kannte ich bereits, andere klingelte ich vom Abendessen weg. „Nein, eine junge Frau mit einem Baby wohnt nicht hier im Haus!“ Ich suchte die Nachbarhäuser auf. Die Frau war unbekannt und blieb verschwunden. Sollte ich die Polizei anrufen? Ich rief Pascale an. Wenn überhaupt jetzt jemand helfen konnte, dann war es Pascale. Eine halbe Stunde später kam sie mit ihrer Ente angetuckert.
„Du hast dich hereinlegen lassen!“ Pascale schwankte zwischen amüsiert und besorgt. „Das ist ein alter Trick! Ich habe das in Variationen schon ein paar Mal erlebt. Manchmal legen sie noch einen erklärenden Brief hinzu oder ein paar Windel, aber diesmal gar keinen Anhaltspunkt...!“
Es dauerte über drei Stunden, bis die Polizei die Spuren gesichert und Pascale die Formulare erledigt, mit der Fürsorge die Unterbringung geklärt und ich meine Aussage unterschrieben hatte. Den Rest der kurzen Nacht blieb Pascale bei mir.
Fanny, Pascales lesbische Freundin, war beruflich nach Israel und in den Libanon geflogen. Ihre Reise hatte sich verzögert. Sie hatte Pascale aus Nikosia angerufen. Mit Fannys Visum war etwas nicht in Ordnung. Jedenfalls hatte es in Beirut am Flughafen Einreiseschwierigkeiten wegen eines israelischen Stempels im Pass gegeben und Fanny musste nach Cypern zurück, wo sie auf dem französischen Konsulat einen zweiten Pass beantragen wollte. Aber auch das konnte sich noch einmal verzögern; das französische Konsulat lag im türkischen Teil von Nikosia und kein griechischer Taxifahrer war zu bewegen, Fanny über die Demarkationslinie in den anderen Stadtteil zu bringen. Pascale konnte also ohne Stress eine Nacht bei mir bleiben.
„Kennst du in Deutschland eine Alice Schwarzer?“ fragte Pascale. Sie lag neben mir und kuschelte ihren Kopf in meine Halswölbung.
„Kennen ist zu viel gesagt!“ antworte ich erstaunt. „Was man eben so aus der Presse von ihr weiß. Ich glaube, sie ist Journalistin. Hat eine Frauenzeitung gegründet. Die Leute betrachten sie als Emanze und ab und zu heißt es sie sei lesbisch! Warum fragst du das jetzt?“
„Fanny kennt Alice aus einem Seminar und einer Frauengruppe an der Pariser Uni. Das ist schon eine Weile her. Und Fanny hat mir eine seltsame Geschichte erzählt. Der ostdeutsche Geheimdienst Stasi hätte versucht, sich an Alice Schwarzer heran zu machen...!“
„Was will der DDR-Geheimdienst mit der deutsch-französischen Frauenbewegung?“ Immer wenn ich etwas in dieser Richtung vernahm, wurde ich hellhörig und reagierte allergisch.
„Die Schwarzer soll linke Leute in der Lesben- und Frauenbewegung ausspionieren und Berichte darüber schreiben!“
„So ein Quatsch! Woher will Fanny das denn wissen?“
„Alice Schwarzer soll es ihr selbst gesagt haben! Fanny ist eine Vertrauensperson in der Frauengruppe!“
„Und? Wie hat die Schwarzer reagiert?“
„Sie hat die Angebote abblitzen lassen!“
„Wieso Angebote? Waren es mehrere?“
„Ja! Auch der französische Inlandgeheimdienst hat sich an die Schwarzer herangemacht! Die Schwarzer hat ja eine Weile in Paris gelebt.“
„Aber Pascale! Jetzt mach’ mal halblang! So wichtig ist die Frauenbewegung ja nun auch wieder nicht, dass sich ein Geheimdienst dafür…“
„Du bist ein Ignorant!“ Pascale wurde wütend. „Es geht doch nicht nur um Schwule und Lesben! Es geht um die ganze Frauenbewegung in der Gesellschaft! Alles wird sich verändern! Alles! Davor hat der Staat Angst!“ Pascale wurde immer wütender. „Und der Staat, das war bisher Männerherrschaft und Männerwillkür! Hast du das immer noch nicht kapiert?! Verdammt, mit welchem ignoranten Arschloch liege ich hier eigentlich im Bett?“
Eine Weile schwieg ich. Dann sagte ich mit wenig Überzeugungskraft: „Natürlich sehe ich die Zusammenhänge und die Wichtigkeit eurer Aktivitäten in den Frauengruppen!“ Ich wollte Pascale schmeicheln, aber eigentlich meine Ruhe haben. Trotzdem ließ ich mich provozieren und sagte: „Aber wäre es jetzt nicht mal langsam an der Zeit, über Männer- statt über Frauenemanzipation zu sprechen?! Schließlich müssen die Männer lernen, mit dieser neuen Rolle fertig zu werden! Ihr Weiber geht stur euren Weg geradeaus, wir Männer verstehen nur Bahnhof und werden völlig verunsichert!“
„Da müsst ihr durch!“ sagte Pascale und rubbelte an meiner Brust. „Von alleine lernt ihr Kerle das nie! Ihr habt das in tausend Jahren nicht gelernt! Das muss Frau euch deutlich sagen! Sonst kapiert ihr tatsächlich nur Bahnhof!“
„Aha!“ brauste ich ein bisschen gekünstelt auf. „Da will Frau jetzt bei Mann Erziehungsarbeit leisten?!“
„Quatschkopf!“ Pascale drehte sich um und mir den Rücken zu. Unsere Hintern berührten sich. Nach einer Schmollpause fuhr Pascale fort: „Die Erziehungsarbeit an euch müsst ihr Männer selbst erledigen! Wir Frauen müssen jetzt erst einmal unseren eigenen Weg finden...!“
„Dafür habt ihr aber auch schon einige tausend Jahre Zeit gehabt! Und was ist heute das Ergebnis: Mann hält euch die Tür auf! Mann hilft euch in den Mantel! Mann greift wie ein Besessener zum Feuerzeug, wenn ihr nur die Zigarette in die Hand nehmt! Mann wechselt euch den Autoreifen, wenn ihr mit Kulleraugen hilflos auf der Landstraße steht! Und ihr Frauen? Ihr lasst euch das gefallen und genießt es sogar noch. Das geht soweit, dass Mann sogar den Idioten spielt und einen Haufen dummes Zeug quasselt, wenn er mit euch ins Bett will...!“
„Du hast echt nix kapiert!“ Pascale blieb in der abgewandten Rückenlage.
„Dann erklär’s mir doch!“ brummte ich.
„Denk’ selbst darüber nach!“ Pascale gähnte absichtlich lange. „Schau mal auf die Uhr! In vier Stunden muss ich zur Arbeit!“ Pascale war Leiterin eines Frauenhauses geworden. Ich drehte mich um, legte meinen Arm um Pascales Schultern und hauchte ihr einen Kuss in den Nacken.
„Bonne nuit!“ flüsterte ich.
„Bonne nuit!“ murmelte Pascale. Wir kuschelten uns aneinander und schliefen ein.
*
Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Im Web: www.edition-kussmanuskripte.de
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Auch hier bei Webstories: Französische Liebschaften (21) "Pascale und der Präsident".
 
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