304


2 Seiten

Der Lindenholzblock

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Joachim steht in seiner Werkstatt. Es ist sein liebster Ort, seit er vor den Sommerferien das Schulzimmer geräumt hat, das für die letzten zwanzig Jahre sein Arbeitsplatz war. Die Werksatt steht am Dorfrand, in früherer Zeit war es die Wagnerei gewesen. Joachim hat sie vor einigen Jahren günstig mieten können und hat sich dies im Hinblick auf seine baldige Pensionierung geleistet. Er hat einen Teil seiner Ferien hier verbracht, seine Freizeit.
Seiner Pensionierung hat er mit Freude entgegen gesehen, hat sich auf die zu erwartende Freiheit gefreut. Er hat sich immer wieder vorgestellt, wie er, befreit von der Verantwortung für seine Klasse, befreit von der Erwerbsarbeit, sich voll seiner Leidenschaft, der Holzbildhauerei würde hingeben können. Diese Leidenschaft hatte er schon im Seminar entdeckt, und er hat sie in seinen langen Lehrerjahren im Werkunterricht an manche seiner Schüler weiter gegeben. Bei einem von ihnen ist der Same aufgegangen, er hat die Bildhauerei zu seinem Beruf gemacht. Joachim hat ihn darob ein wenig beneidet.
Nun geht er seit Wochen jeden Tag in seine Werkstatt. Und alles ist ganz anders, als er sich das vorgestellt hat. Wenn ihn seine Frau am Abend fragt, was er heute gemacht habe, weiss er keine rechte Antwort.
Was hat er gemacht? In den ersten Tagen hat er seine Werkstatt aufgeräumt. Er hat Säcke mit Sägemehl und Hobelspänen gefüllt, hat Abfallholz zum Verbrennen aussortiert, hat den Tisch leer geräumt. Danach hat er sorgfältig sein Werkzeug geschliffen, seine Messer, seine Meissel.
Er hat den Block Lindenholz betrachtet, immer wieder, stundenlang. Er hat ihn von allen Seiten her betastet. Aber das Holz hat nicht zu ihm gesprochen, hat sein Geheimnis nicht preisgegeben. Sollte er seiner Frau sagen, ich habe ein Stück Holz betrachtet? Sie würde das nicht verstehen, niemand würde dies verstehen, er versteht es selber nicht.
Er hofft, dass ihn niemand in seiner Werkstatt besuchen kommt. Nicht, bevor er an seinem neuen Werk zu arbeiten begonnen hat. Nicht, bevor er etwas vorweisen kann. In seiner Werkstatt spürt er plötzlich eine Atmosphäre, die ihn unter Druck setzt. Nein, das hat er sich nicht so vorgestellt.
Da klopft es energisch an sein Fenster. Michael, sein ehemaliger Schüler steht davor, guckt neugierig in den Raum, sucht den Blick seines Lehrers, winkt mit der Hand. Ausgerechnet Michael, der Bildhauer.
Ein langer Nachmittag, ein langes Gespräch mit vertauschten Vorzeichen. Aus dem ehemaligen Schüler wird der erfahrene, verständnisvolle Kollege, der ehemalige Lehrer erfährt die einfühlsame Zugewandtheit des Jüngeren.

Am nächsten Morgen öffnet Joachim das Fenster weit, betrachtet seinen Lindenholzblock nochmals von allen Seiten und beginnt mit sicherer Hand, eine erste Schicht freizulegen.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Noch keine Kommentare.

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Fluchtweg  
Die Liebe liebt das Schwierige  
Die Welt in unseren Köpfen.  
Die Frau im Fenster  
Der Gehängte  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De