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16 Seiten

Nachtgestalten

Romane/Serien · Nachdenkliches
„Noch n Bier bitte!“
„Kommt sofort!“
Gunda zapfte das Bier und stellte es dem zufriedenen Kunden, dem letzten für heute, so hoffte sie, vor die Nase. Eigentlich hätte sie längst zumachen sollen, aber sie hatte es sich zum Grundsatz gemacht, niemanden rauszuschmeißen, und bisher hatte sie das auch bis auf einige Ausnahmen eingehalten. Und auch jetzt hörte sie sich schon seit beinahe einer Stunde die Klagen des Mannes an, der sich den Streit, den er zuhause hatte, von der Seele reden musste. Sie war bei ihren Stammkunden inzwischen dafür bekannt, eine gute Zuhörerin zu sein, was sie mit einer gewissen Portion Stolz erfüllte, und fast täglich saßen Menschen bei ihr, die sonst niemanden zum Reden und ein offenes Ohr doch bitter nötig hatten. Sie konnte diesen Menschen nicht wirklich helfen, doch das verlangten sie auch gar nicht, es half ihnen genug, wenn ihnen überhaupt jemand zuhörte, und dazu war Gunda gerne bereit, machte es sogar gerne. Die Kneipe war ihr Leben, und sie war es, die dieser Kneipe Leben einhauchte.
Plötzlich klingelte das Telefon, Gunda entschuldigte sich kurz und nahm dann ab. Stumm hörte sie zu, was die Stimme am anderen Ende ihr zu sagen hatte.
„Tut mir leid, Bernd, aber ich muss zusperren...“, erklärte sie mit schwerer Stimme, nachdem sie aufgelegt hatte.
Bernd verstand, zahlte seine Zeche und verließ den Laden zusammen mit der Wirtin, die sich sofort auf den Weg zu ihrem Wagen machte und davonfuhr. Bernd sah ihr noch einen Moment nach, dann ging er nach Hause und wappnete sich für den nächsten Streit mit seiner Frau.

Als Rudolf Haan hinter sich das Blaulicht sah, fluchte er einmal laut, dann fuhr er den Wagen rechts an den Straßenrand und beobachtete im Rückspiegel die Beamten, die ohne jede Eile ausstiegen und sich ihm näherten. Rudolf kurbelte das Fenster herunter und bemühte sich, einen freundlich-schuldbewussten Gesichtsausdruck hinzubekommen.
„Da hatten wir es wohl ziemlich eilig“, begrüßte ihn der ältere der beiden Freunde und Helfer. Warum eigentlich „wir“, fragte Rudolf sich in Gedanken, dass er es eilig gehabt hatte, wusste er selbst, und was die beiden Polizisten anging, so interessierte ihn das herzlich wenig.
„Ja, ich weiß, ich war zu schnell... Was wird es mich kosten?“
„Nun zeigen sie mir doch erstmal ihre Papiere“, bat ihn der Beamte, noch immer ohne jede Spur von Hektik, „Haben sie etwas getrunken?“
Nein, hatte er nicht, nicht einmal für einen Kaffee hatte es gereicht, er war aus Hannover, wo er seine Mutter im Krankenhaus besucht hatte, aufgebrochen, hatte dann im Stau gestanden, und musste sich jetzt verdammt beeilen, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Aber das wiederum würde die beiden Polizisten nun herzlich wenig interessieren, also beantwortete er ihre Fragen, zeigte brav seine Papiere vor und hoffte, dass er möglichst bald weiterfahren konnte.
„Da waren wir wohl noch ganz im Formel-Eins-Fieber...“, er warf einen Blick auf den Führerschein, „...Herr Haan.“
Rudolf nickte, lächelte höflich über diesen kläglichen Versuch eines Witzes und wünschte sich, er hätte jetzt wirklich einen Ferrari oder ähnliches unter dem Hintern.
„Kann ich jetzt denn endlich weiterfahren?“
„Aber, aber, sie wissen doch wie es heißt: Eile mit Weile...“
Erneut ein höfliches Lächeln, diesmal jedoch nicht mehr ganz so überzeugend.
„Hören sie, ich muss zu einem Elternabend und bin spät dran...“
Es wäre bestimmt klüger gewesen, in aller Ruhe zu warten, bis die beiden Beamten mit dem Abkassieren fertig waren, aber Ruhe war noch nie seine Stärke gewesen.
„Zu einem Elternabend also...“, der Mann in Grün setzte ein mitleidiges Lächeln auf, so als ob er sagen wolle: mir könnte sowas nie passieren, weil das eindeutig in den Aufgabenbereich meiner Frau gehört und keine Sache für einen echten Mann ist.
Doch er behielt es für sich und dozierte stattdessen belehrend: „Aber glauben sie mir, kein Elternabend ist es wert, dass sie im Straßenverkehr andere Verkehrsteilnehmer gefährden.“
Rudolf nickte und brauchte all seine Kraft, um jetzt bloß nicht die Augen gen Wagenhimmel wandern zu lassen.
„So, hier haben sie ihre Papiere zurück, aber fahren sie jetzt bitte den Geschwindigkeitsbegrenzungen entsprechend, und glauben sie mir, die werden auch ohne sie anfangen können...“
Er unterstrich seinen Rat mit einem süffisanten Lächeln, aber Rudolf nickte nur noch, kurbelte sein Fenster hoch und fuhr weiter, diesmal selbstverständlich den Geschwindigkeitsbegrenzungen entsprechend. Blödes Arschloch, dachte er sich im Stillen, ich möchte dich mal sehen, wenn deine Mutter einen Schlaganfall hatte. Und auch, dass die anderen ohne ihn anfangen würden, hielt er für sehr unwahrscheinlich, denn immerhin war er als der Klassenlehrer derjenige, der den Eltern die Schule aufschließen musste.

Dennis blickte Michael mit unnachgiebigem Blick in die Augen, wollte damit zeigen, dass er sich nicht einschüchtern ließ, auch wenn Michael fast einen Kopf größer war als er und auch um einiges kräftiger. Doch Michael erwiderte den Blick und ging dann mit einigen schnellen Bewegungen zum Angriff über. Wenn Dennis jetzt auch nur einen Fehler machte, würde er gegen Michael keine Chance haben, aber er versuchte es dennoch, bemühte sich, an Michael vorbeizukommen und gab sein bestes. Für einen kurzen Moment sah es auch so aus als würde er es schaffen, doch dann verlor er die Kontrolle über den Ball, was Michael sofort ausnutze. Blitzschnell spielte der zu Flo ab, der gerade frei stand, der hechtete zum gegenüberliegenden Korb, setzte zum Sprung an und versenkte den Basketball darin.
„Okay, das wars für heute“, unterbrach daraufhin die Stimme ihres Trainers den Jubel der anderen, „ihr habt gut gespielt, und wenn ihr das am Samstag im Spiel genauso hinkriegt, bin ich verdammt stolz auf euch.“
Dennis schnappte nach Luft, klopfte Michael freundschaftlich auf die Schulter, dann folgte er den anderen unter die Dusche. Insgeheim ärgerte er sich jedoch ein wenig darüber, dass er wieder mal einen Spielzug nach dem anderen verpatzt hatte, was höchstwahrscheinlich zur Folge hatte, dass er am Samstag auf der Ersatzbank sitzen würde.

Eberhard Franke schaute zum letzten Mal aus dem Fenster seines Büros. Die Sonne war längst untergegangen, und die Fenster in den umstehenden Gebäuden hell erleuchtet. Noch einmal strich er wehmütig über die massive Eichenholzplatte seines Schreibtisches, noch einmal nahm er in seinem bequemen Ledersessel Platz. Es war sein letzter Arbeitstag, er ging, wie alle anderen es auszudrücken pflegten, in den wohlverdienten Ruhestand, doch für ihn war es ein Ende, ein schmerzvoller Abschied. Was sollte er denn jetzt machen? Den ganzen Tag zuhause vor der Glotze sitzen und Talkshows sehen? Sich der Gartenarbeit widmen? Das war für ihn kein Leben. Er hatte seinen Job geliebt, liebte ihn noch immer, und die Vorstellung, von jetzt an nie wieder arbeiten zu können, brach ihm das Herz. Er hatte doch sonst nichts, die Kinder waren längst aus dem Haus, Maria führte ihr eigenes Leben in ihren Literaturzirkeln und Kochklubs, und wenn sie mal einen gemeinsamen Nachmittag verbrachten, dann stritten sie sich, nur um sich nicht schrecklich zu langweilen. Eberhard wusste wirklich nicht, was jetzt werden sollte, hatte Angst vor der Zukunft wie schon ewig nicht mehr und fühlte sich plötzlich schrecklich alt und nutzlos. Wer brauchte ihn denn noch? Und wenn er hier so entbehrlich war, wer hatte ihn dann jemals gebraucht?
„Spring doch einfach!“, schoss es ihm durch den Kopf, „Öffne das Fenster und spring hinunter!“
Aber dazu war er zu feige. Er hatte Angst vor dem, was ihn im Leben erwartete, aber fürchtete sich nochmehr davor, diesen einen Schritt nach vorn zu tun. Und diese Erkenntnis deprimierte ihn noch mehr. Sein ganzes Leben war er zu feige gewesen, eigene Schritte zu tun, er hatte zu Vorgesetzten immer nur „ja“ gesagt und getan, was sie verlangten, hatte es sich nie getraut, eigene Schritte zu wagen und hatte sich an seinen Job geklammert als könne der ihm Halt geben. Jetzt war ihm dieser Halt genommen und die eigentliche Leere seines Lebens prallte mit voller Wucht auf ihn ein.
Niedergeschlagen packte er seine persönlichen Sachen zusammen, sah sich ein letztes Mal um, dann machte er sich auf den Weg zum Fahrstuhl.

Als Gunda ihren Wagen vor der Polizeiwache zum Stehen brachte, merkte sie, dass ihre Hände zitterten, doch sie atmete einmal tief durch und stieg dann aus. Schwäche zu zeigen war noch nie ihre Stärke gewesen, und sie wollte es sich jetzt nicht angewöhnen.
Im Revier wurde sie von Herrn Bodmann empfangen, der ab und zu ihr Kunde war und sie daher sofort erkannte.
„Nabend, Frau Herberger, bitte setzen sie sich doch.“
„Ich will mich net setzen, ich will wissen, was eigentlich los ist.“
Als sie vor wenigen Minuten angerufen worden war, hatte man ihr nur gesagt, dass sie ihren Sohn Lukas auf der Wache abholen und sich keine Sorgen machen solle, was aber geschehen war, hatte man ihr noch nicht erklärt. Bodmann drängte sie jetzt nochmals, sich zu setzen, und als sie auch noch einen Kaffee bekommen hatte, begann er zu berichten.
Kollegen hatten Lukas Wagen bei einer Routine-Verkehrskontrolle kurz vor dem Ortseingangsschild angehalten, weil er in ziemlichen Schlangenlinien fuhr, und dann festgestellt, dass der Junge zwar nicht getrunken hatte, aber trotzdem nicht mehr Herr seiner Sinne war. Sie hatten ihn mit aufs Revier genommen, wo sich dann der Verdacht bestätigte, dass er vollkommen stoned, und so hatten die Kollegen ihn vorsichtshalber in die Ausnüchterungszelle verfrachtet und seine Mutter angerufen.
„Es ist ja nichts schlimmes passiert“, schloss Bodmann, „sie können ihren Sohn auch gleich wieder mitnehmen, nur seinen Führerschein wird der junge Mann wohl einige Zeit los sein.“
Gunda konnte nichts darauf sagen, hatte einen schrecklich trockenen Mund, und sie war froh, dass ihre Hände die Kaffeetasse fest umschlossen und somit nicht wieder zittern konnten.
Immer noch unfähig, etwas zu sagen, folgte sie dem Polizisten zur besagten Ausnüchterungszelle, und als Bodmann die Tür aufschloss, sah Lukas hoch und sie aus glasigen Augen an.
Gunda hatte inzwischen ihre Fassung wiedererlangt, bedankte sich knapp für den Kaffee, dann bedeutete sie Lukas mit einer Kopfbewegung, dass er ihr folgen solle, was er auch schweigend und brav wie ein Lamm tat.

Conrad Hesses Laune war an ihrem Tiefpunkt angekommen. Vorhin auf der Heimfahrt war ihm so ein wildgewordener Jugendlicher in Schlangenlinien entgegengekommen, so dass er in letzter Sekunde auf den Seitenstreifen ausweichen musste, als er nach Hause kam, fand er in der Küche nur einen Zettel seiner Frau Silvia vor, dass sie zu ihrer Schwester gefahren war und er sich das Essen, das in der Mikrowelle stand, warm machen sollte, und als er sich dann in aller Ruhe vor dem Kamin eine CD anhören wollte, hatte die neue Stereoanlage ihren Geist aufgegeben, so dass der Feuervogel eher nach einem Technostück als nach Strawinsky klang. Und jetzt suchte er im Schlafzimmer nach dem Buch, das er gestern zu lesen begonnen und offenbar unauffindbar verlegt hatte. Genau so stellte er sich einen gemütlichen Feierabend vor! Er hätte ja fernsehen können, aber alle interessanten Spielfilme hatten längst begonnen, und auf Quizsendungen oder Krimiserien hatte er auch keine Lust. Überhaupt fehlte ihm in letzter Zeit zu vielem die richtige Laune, und er fühlte sich oft leer und unausgefüllt. Selbstverständlich gab es dazu keinen ersichtlichen Grund, er hatte ja alles, was man sich wünschen konnte, einen gutbezahlten Job, ein Leben im Luxus, eine nahezu perfekte Ehe und einen Sohn, auf den er stolz sein konnte, und doch fehlte ihm, wie man heute sagen würde, ein neuer Kick, eine neue Herausforderung, auf jeden Fall etwas, dass ihn sich trotz seiner einundfünfzig Jahre nicht alt vorkommen ließ.
Aber was immer es war, heute Abend würde ihn die Erleuchtung bestimmt nicht mehr heimsuchen, und so entschloss er sich zu einem Spaziergang an der frischen Luft, in der Hoffnung, dass ihn das ausgeglichener oder zumindest müde machen würde.

„Was macht ihr heute noch so?“, fragte Dennis in die Runde, nachdem alle ihre Sachen gepackt hatten und die Sporthalle verließen.
„Ich wollte eigentlich noch ins Internet und ein bisschen chatten“, erklärte Flo, worauf er sich von Benjamin die mit sarkastischem Unterton gestellte Frage einhandelte, ob er sich mal wieder mit seiner virtuellen Freundin aus Amerika verabredet hatte.
„Yo, hab ich“, gab Flo vorsichtig zurück, „oder hast du etwa was dagegen?“
„Was sollte ich dagegen haben, Alter? Ich finde es nur ziemlich blöde, wenn einer, dem die Mädels scharenweise hinterherlaufen, sich ausgerechnet ne Schnitte in Amerika aussucht, die er dann auch noch nur aus dem Internet kennt.“
Tobias grinste Benjamin an und konnte sich dann die Bemerkung nicht verkneifen, er sei ja nur eifersüchtig, weil seine Flamme ihm vor vier Tagen den Laufpass gegeben hatte und nun nichts mehr von ihm wissen wollte.
„Es wundert mich sowieso, dass sie es so lange mit ihm ausgehalten hat!“, fügte Michael hinzu und hatte damit die Lacher auf seiner Seite.
„Hat sonst jemand Lust, noch n Bierchen zu trinken oder so?“, fragte Dennis weiter.
Vitali schüttelte den Kopf und meinte, dass im Gegensatz zu Benjamin seine Freundin auf ihn wartete, Benjamin musste noch etwas für die Schule tun und Michael behauptete, er müsse noch dringend einige Mails und SMS beantworten.
„Tobias, was ist mit dir?“
„Nee, sorry, aber mein Vater war heute bei meiner Oma im Krankenhaus und hat jetzt noch nen Elternabend, und ich hab ihm versprochen, was zu kochen.“
Dennis lächelte niedergeschlagen, verabschiedete die anderen, die jetzt schnell aufbrachen, und machte sich dann allein auf den Weg, irgendwohin, nur nicht nach Hause, denn auf seine Mutter hatte er jetzt einfach noch keinen Bock.

Der dunkelblaue Kombi bog mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Umgehungsstraße, die um diese Zeit nur noch wenig befahren war, am Steuer ein Mann, der immer ernsthafte überlegte, sich umzubringen. Eberhard Franke wusste noch nicht, wie er es tun sollte und ob er den Mut dazu hatte, aber er wusste, dass er vom Leben nichts mehr zu erwarten hatte und der Tod das einzig sinnvolle war, was noch auf ihn zukommen würde. Egal, ob nun früher oder später.
Kurz zuvor hatte er noch an seiner Stammkneipe „Bei Gunda“ gehalten, die leider schon geschlossen war, woraufhin er sich anderswo den nötigen Mut angetrunken hatte, jetzt beschleunigte er seinen Wagen immer mehr, fragte sich, wofür er eigentlich gelebt hatte, wenn nichts von dem blieb, das er sich aufgebaut hatte und hätte zu gerne gewusst, ob Maria sehr um ihn trauern würde. Vielleicht schon, aber was machte das, bisher hatte sie sich ja auch nicht um ihn gesorgt. Seine Frau war froh, wenn er sein gutes Gehalt nach Hause brachte, aber mindestens genauso froh, dass er den ganzen Tag weg war, um es sich zu erarbeiten. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, schon lange nicht mehr, pragmatisch gesehen machte es für sie keinen Unterschied, ob er nun da war oder nicht.
Vielleicht sollte er einfach gegen einen Baum prallen. Oder vor einen entgegenkommenden LKW. Wahrscheinlich wäre er sofort tot und würde gar nichts spüren. Und sinnloser als der Ruhestand, der ihn erwartete, konnte der Tod nicht sein.

Abgehetzt und doch nur fünf Minuten zu spät erreichte Rudolf Haan die Schule, vor der einige, wenige Autos parkten. Er stieg aus, lief schnellen Schrittes zum Eingang hinüber und blickte in die wartenden Gesichter, dreier Frauen, Mütter von drei seiner Schülerinnen.
„Entschuldigung, ich habe mich verspätet“, gab er überflüssigerweise von sich, „ich hoffe, die anderen sind nicht schon wieder gegangen.“
„Welche anderen?“
Rudolf überging die Frage, schloss die Tür auf und führte die drei Frauen in den beheizten Klassenraum. Er schlug vor, noch fünf Minuten zu warten, ob noch jemand käme, dann werde man mit der Wahl des Elternvertreters und seiner zwei Vertreter beginnen.
Drei Mütter! Drei Mütter, dachte er im Stillen, ärgerte sich, dass er sich dafür so abgehetzt hatte und fragte sich, warum er sich noch darüber wunderte, wenn seine Schüler kein Interesse am Unterricht zeigten, wenn doch ihre Eltern scheinbar kein Interesse an ihnen hatten.
Die fünf Minuten vergingen, und natürlich tauchte niemand auf, so dass Rudolf mechanisch mit der Wahl des Elternvertreters begann, die ihm genauso wie den drei Mütter als eine Parodie auf etwas erschien, von dem er noch nicht wusste, was es war. Er kam sich regelrecht lächerlich vor, doch diese Wahl war nun mal Vorschrift, und dass man sich dafür abhetzte und auch noch Geld an die Polizei abdrückte wahrscheinlich auch.
In Gedanken fluchte er noch immer über den arroganten Beamten und seine spöttischen Bemerkungen. Von wegen Formel-Eins-Fieber! Wenn er früher so gekonnt hätte wie er wollte, wäre er jetzt bestimmt nicht Lehrer an einem Kleinstadtgymnasium, sondern vielleicht wirklich dort, wo Michael Schumacher heute war! Auf jeden Fall aber würde er heute sein Geld als Rennfahrer verdienen, wenn er damals nicht auf seinen Vater gehört hätte, der ihm nach seinen ersten Erfolgen bei Amateurrennen eindringlich geraten hatte, seinen Traum und seine Luftschlösser aufzugeben. Doch alles Jammern nützte ja doch nichts, jetzt saß er hier und musste diese Farce einer Wahl und eines Elternabends über die Bühne bringen.

Während der Heimfahrt sprachen weder Gunda, noch Lukas auch nur ein Wort, sie bemühte sich, die Fassung zu bewahren und legte sich in Gedanken ein pädagogisch belehrendes Gespräch zurecht, und er glotzte mit starrem Blick aus dem Seitenfenster und schien sich noch immer in einer anderen Welt zu bewegen.
Zuhause dann wollte sich Lukas sofort auf sein Zimmer verdrücken, doch Gunda hielt ihn zurück.
„Moment mal, Freundchen, ich glaube, wir haben da vorher noch was zu besprechen.“
Lukas sah sie aus immer noch glasigen Augen an.
„Was sollen wir denn besprechen?“, fragte er, „Ich hab gekifft, bin dummerweise danach ins Auto gestiegen, das war scheiße und ich kanns eh so schnell wohl nicht wieder machen. Da gibts nichts zu bereden.“
Für einen Augenblick suchte Gunda nach Worten, aber sie wusste, das jegliches fürsorgliches elterliches Gerede jetzt doch nur auf taube Ohren stoßen würde.
„Ich will ja nur wissen“, setzte sie dann verzweifelt an, „warum du es gemacht hast, wie lange du schon kiffst und warum du es mir nie gesagt hast.“
Lukas Blick wurde allmählich klarer, zumindest konnte er seiner Mutter jetzt wieder direkt in die Augen sehen.
„Mama“, setzte er ernsthafter als sie es in seinem Zustand für möglich gehalten hatte an, „ich mache es, weil es einfach hilft, Stress zu bewältigen, genau wie bei anderen ne Zigarette, und weil man einfach mal alles andere vergessen kann...“
„Ja aber...“
„...Und warum hätte ich es dir erzählen sollen? Anderen hörst du immer stundenlang zu, aber wenn ich dir mal erzähle, dass meine Freundin Schluss gemacht hat, dann kommt immer nur ein oberflächliches ‘Das wird schon wieder’ oder sowas...“
Er wandte seinen Blick ab und schlich sich ohne eine weitere Erklärung die Treppe hoch. Seine Mutter ließ er erschrocken und grübelnd zurück.

Draußen nieselte es als Conrad Hesse sich auf den Weg machte, aber die frische Luft machte ihn ruhiger und ausgeglichener. Als er sich sein Haus von außen besah, die auffälligste Villa im ganzen Viertel und auch in ganz Hasseln, wurde ihm bewusst, wie gut er es hatte und dass es unangebracht war, sich zu bemitleiden. Wahrscheinlich wurde er von vielen beneidet, denen es nicht so gut ging, nicht nur um seinen materiellen Reichtum, sondern auch um seine perfekte Familie und um seiner selbst Willen. Nach außen hin war er immer der nette, aufgeschlossene Erfolgsmensch, der durch seinen Wohlstand nicht arrogant geworden war, sondern immer noch ein offenes Ohr für die Probleme und Sorgen, seiner Bekannten und Nachbarn hatte. Und trotzdem nagte an ihm dieses Gefühl einer inneren Leere, die sich auch durch logische Argumente nicht vollständig verdrängen ließ.
Während er jetzt gedankenverloren dem nassen Bürgersteig folgte und dem Regen und seinen eigenen Schritten lauschte, wäre er fast mit Maria Franke, einer Nachbarin, zusammengestoßen, die vor ihrem Haus offensichtlich auf etwas wartete.
„Nabend, Herr Hesse, so spät noch unterwegs?“
„Oh guten Abend, ja, ich wollte mir noch ein wenig die Beine vertreten. Und warum stehen sie hier im Regen?“
Er lächelte sie freundlich an, erfreut, sich ablenken zu können, doch dann bemerkte er den sorgenvollen Blick der Nachbarin.
„Ach, mein Eberhard hatte heute seinen letzten Arbeitstag, ich habe den ganzen Tag in der Küche gestanden, weil ich weiß, wie schwer er sich mit seiner Pensionierung trägt, aber er ist bisher noch nicht zurück.“
Conrad tröstete sie, indem er vermutete, ihr Gatte würde sicher nur etwas länger brauchen, um sich von den Kollegen zu verabschieden und würde sicherlich bald auftauchen, tauschte noch einige belanglose Floskeln über den Ruhestand mit der Frau aus, dann setzte er seinen Weg fort und fragte sich, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er das Rentenalter erreicht hatte. Er hoffte nur, er würde nicht wie sein eigener Vater damals nur noch dasitzen und nichts mehr mit seiner Zeit anzufangen wissen.

Ziellos kurvte Dennis durch die Stadt, hatte keine Ahnung, wohin er fahren sollte, denn alle seine Freunde mussten entweder morgen arbeiten oder zur Schule, nur er hatte nichts zu tun, jobbte nur von montags bis mittwochs bei Skywalker, aber als richtige Arbeit sah er den Job nicht an. Er hatte ja versucht, eine Lehre anzufangen, aber jemanden, der nur einen Sonderschulabschluss hatte, wollte in dieser Stadt scheinbar niemand einstellen. Schon oft hatte er sich gefragt, wie lange das noch so weitergehen konnte, eine Perspektive hatte er nicht, und auch wenn seine Kumpels oft beneideten, dass er am nächsten Morgen nicht früh raus musste, so hätte er nur zu gerne mit ihnen getauscht. Es war ja nicht nur so, dass er sich immer öfter langweilte, nein, inzwischen glaubte er kaum noch daran, irgendwann noch einen Ausbildungsplatz zu bekommen, fühlte sich zu dumm und kam sich auch irgendwie nutzlos vor.
Der einzige, mit dem er offen darüber sprechen konnte war Flo, der ihn zum Glück immer wieder ermunterte, ihm einredete, er sei keinesfalls weniger intelligent als andere, ihm ja auch den Job bei Skywalker verschafft hatte und auch der festen Überzeugung war, er würde bald eine Beschäftigung finden, doch wenn Dennis allein war, zweifelte er wieder an sich selbst. Besonders, wenn er mal wieder eine CD hatte mitgehen lassen, die er sonst nie hätte bezahlen können, fragte er sich, wie lange das noch so weitergehen konnte.
Jetzt lenkte er sein Auto durch das sogenannte Villenviertel, vorbei an den teuren Bungalows mit ihren gepflegten Gärten und den gemütlich erleuchteten Fenstern, die schon von der Straße aus nach Wohlstand und Zufriedenheit aussahen. Vor dem unbeleuchteten Haus der Hesses, dem wahrscheinlich teuersten, wenn auch nicht unbedingt geschmackvollsten hier im Viertel, wurde er langsamer. Patrick, der Sohn der Hesses, hing oft mit Flos Bruder Björn rum und verkörperte für Dennis immer all das, was er selbst nicht war. Patrick hatte Kohle ohne Ende, war Student und somit wohl auch intelligent, bei allen beliebt, und Dennis hätte nur zu gerne einmal mit ihm die Rollen getauscht. Leider ging das nicht, und er musste sich für sich allein durchschlagen.

Auf der Fahrt nach Hause, ärgerte Rudolf Haan sich noch immer über den misslungenen Elternabend, gleichzeitig dachte er aber auch an früher, an seinen Traum, Rennfahrer zu werden, den er sich leider nie verwirklicht hatte. Er fragte sich, was wohl gewesen wäre, wenn er damals nicht auf seinen Vater gehört hätte. Es wäre utopisch zu glauben, er hätte jemals Chancen auf die Formel-Eins gehabt, doch immerhin hätte er dann heute Abend nicht mit drei mäßig motivierten Müttern Wahl gespielt und auch sonst einen Beruf, der ihn mehr ausfüllte als es sein jetziger tat. Er hätte wahrscheinlich nicht so eine geregeltes Einkommen wie jetzt, doch er hätte auch nicht ständig das Gefühl, etwas verpasst zu haben, eine Chance ungenutzt gelassen zu haben. Ob er glücklicher wäre, wusste er nicht, und wenn er realistisch dachte, war die Entscheidung für den Lehrerberuf weitaus vernünftiger gewesen, doch neben der Vernunft gab es für ihn nun mal das Abenteuer, und das einzige Abenteuer, was er jetzt hatte, war, dass ihm von einem herablassenden Polizisten Geld wegen zu schnellen Fahrens abgenommen wurde. Das war nun wirklich nicht das, was er sich unter einem erfüllten Leben vorstellte.

Es dauerte nicht lange, bis Eberhard Franke einen Lichtkegel auf sich zukommen sah. Wenig später erkannte er, dass es sich um einen Bus handelte. Einen Moment überlegte er, ob es dem Busfahrer gefährlich werden könnte, oder ob noch Fahrgäste darin waren, aber das war um diese Zeit unwahrscheinlich, und er hatte mal gehört, dass ein PKW, wenn er von einem Lastwagen oder Bus erfasst wurde, geradezu in seine Einzelteile zerlegt wurde, während das größere Fahrzeug kaum Schaden davontrug. Sein Entschluss war jetzt gefasst, er würde Gas geben, bis er mit dem Bus beinahe auf gleicher Höhe war, und dann würde er einfach auf die andere Fahrbahnseite hinüberziehen. Dann konnte der Bus weder bremsen, noch ausweichen, und er selbst würde wahrscheinlich sofort tot sein und gar nichts spüren.
Eberhard beschleunigte immer weiter, viel zu langsam schien er sich dem anderen Fahrzeug zu nähern. Seine Hände krampften sich um das Lenkrad, ein letztes Mal rief er sich die Gesichter seiner Frau und seiner Tochter ins Gedächtnis, dann war es soweit. Noch ein paar Bruchteile einer Sekunde, und er würde das Lenkrad nach links drehen. Es würde seine letzte Handlung sein, dann wäre es aus.
Jetzt war er nahe genug. Der Zeitpunkt war gekommen, und Eberhard... fuhr weiter geradeaus. Er knallte nicht vor den Bus, er machte seinem Dasein kein Ende, er war nicht von allen Qualen erlöst, er war wieder einmal zu feige gewesen. Jetzt war es zu spät, und er fragte sich, warum er es nicht getan hatte. Vielleicht war er zu feige, vielleicht war es ein natürlicher Überlebensinstinkt, vielleicht auch beides, aber auf jeden Fall kam jetzt sowas wie Ärger in ihm hoch, weil er wieder einmal nicht seinem Willen gefolgt war, sondern sich von etwas anderem hatte treiben lassen wie eigentlich schon sein ganzes Leben lang.

„Ich bin keine schlechte Mutter! Ich bin keine schlechte Mutter!“, das sagte Gunda sich immer wieder, während sie auf den eingeschalteten Fernseher starrte, ohne zu sehen, was dort vor sich ging. Lukas Vorwurf hatte sich in ihr Bewusstsein gebohrt, hatte besser getroffen als er vielleicht treffen sollte, hatte ihre Schuldgefühle geweckt und sie ins Grübeln gebracht. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie zuletzt ein ernsthaftes Gespräch mit einem ihrer Söhne geführt hatte, doch so richtig offen hatten weder Lukas noch Marek in letzter Zeit mit ihr geredet. Für ihre Kunden, die mit den allerkleinsten Problemen zu ihr kamen, hatte sie immer ein offenes Ohr und meist sogar einen guten Rat, aber es konnte doch nicht sein, dass sie dafür ihre eigene Familie vernachlässigte. Sie war doch immer da und zu jeder Zeit für die Sorgen ihrer Söhne offen, sagte sie sich, aber je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Situationen fielen ihr ein, in denen sie ihre Söhne kurzangebunden behandelt hatte, weil die Kneipe eben vorging. Ihr Unterbewusstsein wiederholte Lukas Vorwurf immer wieder, und ihr fielen kaum noch Gegenargumente ein, um ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und zuckte zusammen. Es war Lukas. Seine Augen waren nicht mehr so glasig wie vorhin, und er schien sich körperlich und geistig wieder in der Realität zu befinden.
„Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken“, erklärte er zerknirscht, „ich wollte nur fragen... na ja, ob du sehr sauer auf mich bist wegen der Sache mit dem Kiffen...“
„Bist du denn sauer auf mich?“
„Ich auf dich? Wieso das denn?“
„Na weil ich ne schlechte Mutter bin...“
Völlig verstört guckte Lukas sie fragend an, dann schien er ihre Gedankengänge zu verstehen und grinste.
„Das mit der schlechten Mutter vergiss mal ganz schnell wieder, mir ist schon klar, dass du nicht immer stundenlang Zeit für uns haben kannst, und außerdem, wenn was wirklich wichtig ist, dann bist du sofort da. Meinste jede Mutter wäre heute so schnell auf der Wache gewesen?“
Gunda sah ihrem Sohn tief in die Augen, dann nahm sie ihn fest in die Arme, obwohl sie genau wusste, wie sehr er das hasste, aber es musste jetzt einfach sein.

Während Conrad Hesse seinen Weg durch die Nachbarschaft fortsetzte, stoppte plötzlich ein Wagen neben ihm, den er erst im zweiten Moment als den seiner Frau erkannte.
Sie fuhr das Seitenfenster herunter und fragte: „Was machst du denn um diese Zeit noch hier draußen?“
„Ich wollte mir nur ein wenig die Beine vertreten und in Ruhe nachdenken.“
„Steig ein, ich nehme dich mit nach Hause, da können wir gemeinsam in Ruhe nachdenken.“
Conrad stieg ein, gab Silvia einen Begrüßungskuss und ließ sich dann von ihr zurückfahren. Als sie zuhause ankamen, erzählte er ihr von seinem Tag, seiner schlechten Laune und seinen Grübeleien, worauf sie nur antwortete: „Typisch Mann! Manchmal benehmt ihr euch wie kleine Kinder.“
„Dann guck doch dich mal an, wenn du nicht gleich findest, was du suchst“, gab er schmunzelnd zurück, „und außerdem ist es mir ernst damit, ich frage mich wirklich, was mir fehlt oder was ich vermisse.“
Silvia schüttelte den Kopf, dann murmelte sie etwas von Midlife-Crisis und dass sie kein Verständnis für ihn aufbringen könne.
„Fühlst du dich etwa immer ausgeglichen?“, fragte er zurück.
„Natürlich nicht, aber ich bemitleide mich dann nicht, sondern suche mir eine sinnvolle Aufgabe.“
„Und was stellst du dir da so vor? Soll ich mich plötzlich für Gartenarbeit begeistern oder in den Tennisclub eintreten?“
Ein spöttisches Lächeln huschte über das Gesicht seiner Frau, das ihn augenblicklich aus seiner Melancholie herausriss und über sich selbst lachen ließ.
„Das wäre immerhin ein Anfang“, erklärte sie gespielt ernsthaft und setzte dann mit einem vielsagenden Blick auf die Schlafzimmertür hinzu: „Aber ich glaube, für heute nacht fällt mir noch eine ganz andere sinnvolle Beschäftigung für dich ein...“

Endlich zuhause, dachte Rudolf Haan als er die Tür aufschloss und ihm jetzt erst bewusst wurde, wie sehr ihn der Tag geschafft hatte. Er wollte nur noch eine Kleinigkeit essen und dann ins Bett, aber als er die Küchentür mit dem Fuß aufstieß, stand er vor einem gedeckten Esstisch, und der Geruch italienischem Essens stieg ihm in die Nase.
„Ich dachte, du hättest vielleicht Hunger“, begrüßte ihn Tobias, der gerade die Lasagne aus dem Backofen holte.
Rudolf nickte: „Ich hab solchen Kohldampf, ich könnte einen Elch verschlingen!“
„Elch gibts dann morgen, heute musst du dich mit Pasta zufriedengeben.“
Sie setzten sich, Rudolf erzählte, dass es Oma immer noch nicht besonders gut ging und Tobias von Basketballtraining, und nach und nach entspannte Rudolf sich, vergaß die Sorgen des Tages und konnte endlich abschalten. Der Polizist und der Elternabend waren ihm bald egal, der Tag war zum Glück um, und ein gutes Essen verdrängt ja bekanntlich auch die schlimmsten Sorgen.
„Wenn du Lust hast, können wir uns nachher noch nen Video ausgeliehen, ich habe ‘Hot Wheels’ ausgeliehen.“
„Hab ich noch nie was von gehört, worum geht es in dem Film?“
„Soweit ich weiß, geht es um einen alternden Rennfahrer, der ein Comeback versucht, es sich noch einmal beweisen will und dann kläglich scheitert...“

Dennis fuhr immer noch ziellos umher als er feststellte, dass er dringend tanken musste. Ein Blick ins Portmonee sagte ihm, dass es dafür gerade noch reichte, nur den Discobesuch am Wochenende konnte er sich jetzt abschminken. Wieder einmal würde er den anderen nach dem Spiel erklären, er hätte keinen Bock, noch wegzugehen, wieder einmal würde Flo ihn hinterher fragen, ob er ihm Geld leihen sollte, und wieder einmal würde Dennis ablehnen, weil ihm das peinlich war.
Niedergeschlagen fuhr er die nächste Tankstelle an, stopfte den Hahn in seinen Tank und sah zu wie die Zahlen auf der Preisanzeige viel zu schnell nach oben ratterten. Wäre er bloß nicht noch durch die Gegend gefahren, schimpfte er sich, aber dafür war es jetzt zu spät, seine letzten Kröten drückte er kurz darauf dem Tankwart in die Hand, der ihm noch einen schönen Abend wünschte.
Auf dem Weg nach draußen, fiel Dennis Blick auf das Regal mit dem Bier, er vergewisserte sich, dass der Tankwart mit anderen Dingen beschäftigt und keine Kameras installiert waren, dann stopfte er sich einen Sechserträger unter die Jacke und beeilte sich, zu seinem Wagen zurückzukommen.
Wenn der Tankwart das mit dem schönen Abend ernst gemeint hätte, würde er sicher nichts dagegen haben, sagte Dennis sich, trat das Gas durch und machte sich auf den Weg nachhause. Und wenn die anderen nichts mit ihm trinken wollten, würde er das eben alleine tun, er musste ja morgen nicht früh aufstehen, und da machte es auch nichts, wenn er sich ein Bierchen mehr als nötig genehmigte. Es war zwar nicht das, was er sich vorgestellt hatte, aber besser als nichts, und man musste eben das beste aus seiner Situation machen. Er kam sich jetzt etwas trotzig vor, aber alleine saufen war immer noch besser als Trübsal blasen.

Nachdem Lukas sich aus ihrer Umarmung gelöst, und sie sich wieder gefangen hatte, setzte Gunda ein letztes Mal zu einem pädagogischen Gespräch an, um die Sache endgültig aus der Welt zu schaffen.
„Aber selbst wenn du Probleme hast, ist kiffen doch keine Lösung, oder?“
„Ach Mama, ich rauche das Zeug doch nicht, weil ich anders mein Leben nicht in den Griff bekomme, das machen halt alle, und es ist nicht gefährlicher als rauchen.“
„Also, dass alle es machen ist ja nun wirklich kein Grund, und ich denke schon, dass sowas eine andere Qualität hat als normale Zigaretten.“
Lukas drehte die Augen zur Zimmerdecke, dann brachte er das Argument, das wahrscheinlich jede Mutter in solch einer Situation zu hören bekam, nämlich, dass sie nicht etwas verurteilen könne, was sie noch nie ausprobiert hatte. Gunda fielen zig Gegenargumente ein, aber da sie sich ohnehin schon vorkam wie jene Mütter, die sie sonst so lächerlich fand, konterte sie: „Na gut, dann probiere ich es eben aus.“
Damit hatte Lukas nicht gerechnet, seine Augen wurden fast genauso groß wie vorhin als er noch unter Drogen stand, und er fragte, ob sie noch ganz dicht sei.
Jetzt gab es eh kein zurück mehr, und darum sagte sie nur: „Na was ist? Nun hol das Zeug schon her...“
Lukas dachte wohl, sie sei wirklich nicht mehr ganz bei Verstand, doch nach einer weiteren Schrecksekunde erhob er sich und kam wenig später mit einem selbstgedrehten Joint zurück.
Er zündete ihn an und erklärte: „Du musst es ganz tief inhalieren, so lange wie möglich in der Lunge behalten und auf keinen Fall husten.“ Dann nahm er den ersten Zug, lehnte sich entspannt zurück und reichte seiner Mutter das Ding weiter.
Gunda tat es ihm nach, auch wenn ihr zuerst fast schlecht wurde und ihr Hals sich nach Schmirgelpapier anfühlte, aber aufgeben kam nicht in Frage.
Sie gab den Joint an Lukas zurück, er wieder an sie, und als er wieder am Zug war, redete sie nochmals auf ihn ein: „So, jetzt habe ich probiert und weiß, dass das Zeug wahnsinnig eklig schmeckt. Glaubst du mir jetzt, wenn ich dir sage, dass... dass... also Drogen sind keine Lösung und... und das haut ganz schön rein... aber trotzdem, man muss ja nicht... also das Zeug ist aber wirklich... boah... ich glaube ich bin high...“
„Ja, Mama, das glaube ich dir aufs Wort“, bestätigte Lukas und brach in schallendes Gelächter aus, in das Gunda augenblicklich mit einfiel.

Es wäre nur ein kleiner Sprung aus dem Fenster oder eine kleine Lenkradbewegung gewesen, sagte sich Eberhard Franke, und er hätte es hinter sich gehabt, aber nein, er war zu feige gewesen. Wieder einmal hatte er sich von seinem Unterbewusstsein leiten lassen und den Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Er hasste diese innere Stimme, die ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung gezogen hatte, wenn er einmal Courage beweisen wollte, und er fragte sich, warum sein Unterbewusstsein so sehr an diesem Leben, von dem er nichts mehr zu erwarten hatte, hing. Vielleicht glaubte es ja, er könne zusammen mit Maria doch noch einen gemütlichen Lebensabend verbringen, auch wenn er selbst daran zweifelte. Vielleicht glaubte es ja auch, er würde nach einer gewissen Gewöhnungsphase seinen Ruhestand genießen können. Nein, das konnte nicht sein, es gab nichts, woran er noch hängen konnte. Er hätte von vornherein einen anderen Lebensweg einschlagen sollen. Es wäre doch schön, wenn er noch einmal von vorne beginnen, vieles anders machen könnte. Aber wahrscheinlich endeten alle Wege irgendwann in einer Sackgasse. Seine Kollegen hatten ihm gesagt, er solle sich freuen, da jetzt sein neues Leben beginne. Vielleicht war es das, was diese innere Stimme dazu brachte, die Hoffnung nicht aufzugeben. Sein Unterbewusstsein glaubte womöglich tatsächlich, dass es möglich sei, in seinem Alter noch einmal vieles neu zu beginnen und anders zu machen. Er jedenfalls glaubte nicht daran, aber er würde es wohl nie erfahren, wenn er aus dem Fenster gesprungen oder vor den Bus geprallt wäre. Das hieß also, er hatte sich nicht getraut, weil er sich selbst noch beweisen musste, dass ihm das Leben in der Tat nichts mehr zu bieten hatte. Oder umgekehrt.
Während er darüber nachdachte und hoffte, dass er es bald wissen würde, sah er nicht mehr auf die Straße und bemerkte daher die Kurve nicht, die plötzlich auf ihn zuraste. Er wusste kaum, was geschah als er von der Straße abkam, und das Auto durch die Leitplanke donnerte, sich seinen Weg durchs Gestrüpp bahnte und den Bäumen, die sich ihm in den Weg stellten, nicht mehr ausweichen konnte.
 
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Kommentare  

Eine gute 22 Shortstories about Small Town Village People, Klasse!!!

Dominik (12.07.2002)

Eine klasse 22 Short Stories about SmallTown Village Peolpe Variante. Besonders die Szene wenn Lukas mit seiner Mutter kifft, klasse!

 (12.07.2002)

Irgendwie spürt man die Nacht in den Gestalten, auch wenn es nicht wirklich finster ist... in Deiner Stadt... Das hast Du gut hinbekommen.

Teleny (16.12.2001)

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