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Hilfe, sie will mich küssen

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
„Ja Mutter, was gibt’s?“
„Junge, ich wollte mich nur vergewissern, ob du den Krustenbraten für Mor-gen eingekauft hast.“
„Liegt schon auf der Rückbank.“
Als könnte ich mit meiner Geste meine Mutter am anderen Ende der Strippe überzeugen, drehte ich meinen Kopf nach hinten. Dort lagen noch immer in ihrem Dreck die vier Sommerreifen, die ich vor sechs Wochen hatte wechseln lassen. Ich war 29 Jahre alt, auf den Namen Ralf Mensink getauft, meine Freunde nannten mich jedoch knapp Rallo. Rallo, der Starke, weil ich so eisern dem anderen Ge-schlecht aus dem Weg ging.
„Dass du mir morgen ja pünktlich bist“, stahl sich Mutter wieder in mein Gewissen. Ein schlechtes.
„Bin ich doch immer, Mutter.“
„Es sei denn es kommt dir ganz plötzlich etwas dazwischen. Letztes Jahr war es eine Magenvergiftung. Davor das Jahr hattest du dir den Kiefer ausgerenkt. Vor drei Jahren hattest du dir die Hand gebrochen, vor vier Jahren einen Hexenschuss.“
„Alles reine Zufälle.“

„Hör mir damit auf. Das alles ist von Gott vorherbestimmt. Er bestraft dich.“
„Was soll der Quatsch, wieso sollte er mich bestrafen?“
„Weil du deine Mutter nie besuchen kommst.“
„Nach dieser Logik dürfte er mir nichts tun, wenn ich Weihnachten zu dir kommen will.“
„Eben.“
„Wie eben?“
„Er bestraft dich, weil du gar nicht kommen willst.“
„Mutter, fange nicht schon wieder damit an.“
„Wer weiß. Morgen rufst du vielleicht an und sagst mir, du wärst auf einer Eispfütze ausgerutscht und hättest dir das Bein gebrochen.“
„Mal den Teufel nicht an die Wand“, lachte ich hell auf. „Es ist zwölf Grad plus.“
„Bei dir weiß man nie, Junge. Bringst du dieses Mal deine Freundin mit? Wie war gleich ihr Name? Ich vergesse ihn immer, weil ich kein Gesicht vor mir habe. Langsam wird es wirklich Zeit, dass du sie mir einmal vorstellst.“
„Annemarie.“
„Das ist doch dieselbe, die du letztes Jahr hattest, oder?“
„Mutter, was denkst du von mir? Wir beide sind schon vier Jahre zusammen.“
„Auf meinem Zettel habe ich aber Denise stehen.“
„Oh je, das ist eine ganz alte Geschichte.“

„Und 2012 hieß deine Freundin Carmencita. 2011 warst du mit einer Antonia zusammen. Angeblich. 2010 nanntest du deine Freundin Julia.“
„Da bringst du etwas durcheinander, Mama. Das ist nicht schlimm. Es passiert vielen Frauen über Siebzig.“
„Nun werd’ nicht frech, Bub. Wie sieht deine Annemarie denn aus?“
„Sie trägt eine grüne Jacke.“
Schwärmend dachte ich zurück an gestern Morgen. Liebevoll strahlend stand sie im Getränkeshop hinter mir an der Kasse an. Eine reife Frau, 35 Jahre, vorsichtig geschätzt, und unsagbar hübsch. Ihr langes, schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Schwarz lackierte Fingernägel suchten im Portemonnaie nach dem Kleingeld.
Derweil bog ich von der Hamelner Straße kommend in die Ellernstraße ein.

„Eine grüne Jacke. Das ist alles, was dir einfällt bei einer Frau, mit der du seit vier Jahren zusammen zu sein vorgibst, Ralf?“
„Und sie ist vergesslich.“
„Na, dann passt ihr beide ja prima zusammen. Du vergisst deine Mutter schließlich auch immer. . . . Sag mal, Junge, fährst du etwa Auto während du mit mir telefonierst?“
„Jetzt nicht mehr, Ma.“ Ein ohrenbetäubender Krach. Glas splitterte, Blech türmte sich auf. Der Airbag presste sich gegen meine Rippen. Mein linkes Bein war sofort taub.

- - -

Sieben Tage lag ich nun schon im Bett. Draußen schien die Sonne. Es war Silvester. Viele Schwestern und Ärzte würden heute nicht hier sein. Und ich hatte einen verdammt großen Durst auf richtigen Kaffee und einer Nusstorte mit Marzipan.
Kurz war der Entschluss, aufzustehen. Lang dessen Umsetzung. Irgendwann hatte ich es aber ge-schafft, meinen Gipsfuß aus dem Bett zu wuchten und die Krücken zu greifen. Pferdefuß würde meine Mutter mein linkes Bein nennen und mir mit erhobenem Zeigefinger erzählen, sie hätte schon immer gewusst, wie es einmal mit mir enden würde.

So lange wie das Aufstehen, so lange brauchte ich auch, um in den Morgenmantel zu schlüpfen. Hell-blau war seine Farbe. Ich erinnerte mich noch an die Enttäuschung, als ich ihn eines Heiligabends bei Mutter auspackte. Nun half mir mein Fluchen nicht weiter. Ich hatte genügend Zeit, mir einen neuen zu kaufen und dieses hässliche Ding abzufackeln. Mit mitleidsvoller Miene hätte ich ihn Mutter unter die Nase gehalten und mein Bedauern ausgedrückt, dass ich mir einen neuen kaufen müsste. Hätte, hätte, Fahrradkette. Jammern brachte mich jetzt nicht weiter.
Mutig wie Prinz Eisenherz warf ich mich in die Schlacht. Dass mich meine Versäumnisse immer wieder einholten, sollte mich an diesem Ort nicht tangieren. Wen sollte ich hier im KRH Klinikum Springe schon treffen? Und wenn mir hier jemand Bekanntes über den Weg laufen würde, wäre es mit höchster Wahrscheinlichkeit unbedeutend. Also kein Grund, sich Gedanken über einen peinlichen Auftritt zu machen. Deswegen blieb auch mein schwarzes, langes Haar ungewaschen. In relativ fettigen Strähnen hing es mir bis auf meine Brust. Wenn es gewaschen und geföhnt war, war es mein ganzer Stolz.

Nach einer gefühlten Ewigkeit betrat ich den Flur zur Cafeteria. Oh, was für ein schöner Duft schlug mir entgegen. Von weiten sah ich die Torten in der Auslage. Zur Feier des Tages durften es heute ruhig zwei werden.
Nur noch eine Person war vor mir, da fiel mein Blick in den Speisesaal. Es leuchtete grün. Schnell wie ein verhinderter Blitz drehte ich mich um und war schon drei Schritte zurück gehumpelt.

„Kennen wir uns nicht?“ Hell und klar lachte ihre Stimme in meinem Rücken. Ein Königreich dafür, dass ich jetzt im Erdboden versinken könnte. Ich hatte in meinem Leben schon so viel gelogen, warum holte mich der Teufel nicht, wie er es bei den sieben Trappen mit dem Bauer getan hatte. Unbeirrt und mit eisernem Willen hinkte ich weiter.
„An meinem Tisch ist noch ein Platz frei.“ Und erst recht in meinem Bett, so einen jungen Bub verschmäht mein Herz nicht.
Vater im Himmel, warum beschützt du deine verlorenen Söhne nicht, flehte ich ergebnislos und drehte mich zu dem grünen Monstrum um. „Meinen Sie mich, junge Frau?“

„Erinnern Sie sich nicht an mich?“ Sag jetzt bloß nichts Falsches, sonst schneide ich dir die Nasenspitze ab.
„Sollte ich?
Das war halb falsch! „Am Tag vor Heiligabend im Getränkeladen.“
„Ach ja, die Frau, die auf einmal rausrannte, als ich gerade mein Leergut abgegeben hatte. Ha, im ersten Moment habe ich gedacht, die hätte was gestohlen.“
Nun sind wir schon bei dreiviertel falsch. Und unverschämt obendrein. Vielleicht sollte ich gleich die ganze Nase nehmen. Seit Jahren habe ich die bauchige Phiole in meinem Regal stehen. Bisher war mir auf Teufel komm raus keine Verwendung dafür eingefallen.

„Was schmunzeln Sie so. Ach so, der Morgenmantel. Ist von einem Freund. Ich selber habe gar keinen“, schwindelte ich.
„Was ist nun, wollen Sie sich endlich zu mir setzen, einen schönen Kaffee trinken und ein großes Stück Torte essen?“ Sowie mich weiterhin mit Unkomplimenten überschütten?
„Wissen Sie, ich bin eigentlich Teetrinker. Und Torten sind so gar nicht meine Welt.“
„Sehe ich richtig? Wächst ihre Nase gerade?“ Erschrocken griff ich an meinen Zinken. Erst danach wusste ich, dass ich mich verraten hatte. Es gibt Tage, da wünschte man sich, nicht aufgestanden zu sein. Heute war so ein Tag.

„Ich habe Sie die ganze Zeit beobachtet. Sie konnten sich schwerlich entscheiden, welche Torte sie wählen sollten. Und dem Spiel ihrer Finger nach haben Sie sich für drei entschieden.“ Freudig schaute mich die hübsche Frau an. Anscheinend war ihr hier im Krankenhaus äußerst langweilig, dass sie sich mit mir abgab. Und eine kleine schwarze Schlange mit großen, grünen Augen war sie obendrein. Unweigerlich wusste ich, ich musste mich vor ihr in Acht nehmen. Weitere Lügen würde sie bestimmt bestrafen, also lenkte ich ein: „Nun, wenn Sie mich durchschaut haben, will ich Ihnen ein wenig ihre Langeweile vertreiben.“
Sieben Achtel Falsch. Es wird verdammt eng für dich. Vielleicht sollte ich die Nase mit meinen Zähnen abbeißen. Vorher könnte ich dir noch ein wenig auf den Mund küssen. Wenigstens etwas statt gar nichts.

„Sie haben wunderschöne Zähne.“ Warum zeigte sie mir diese mit einem Gesichtsausdruck, der irgendetwas Böses ausheckte?
„Arrrhhhg. Die Zähne einer Löwin.“ Kurz vor meiner Nase klappte ihr Gebiss zu. Wie war sie nur so schnell aus ihrem Stuhl nach vorne gekommen? Vor Schreck wich ich zurück und fiel mit dem ganzen Stuhl um. „Die Krücke“, flunkerte ich. Nicht, dass die Dame am Ende dächte, ich hätte Angst vor Frauen.
„Oh, Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Eigentlich bin ich ein ganz artiges Mädchen. Sie können ihre geweiteten Augen ruhig wieder auf nor-male Größe schrumpfen lassen. Vielleicht sehen Sie die Ladendiebin dann besser.“
Hatte ich etwas falsch gemacht? Nervös zerknüllten meine Finger den Bademantelstoff. „Naja, es war ja nur im ersten Moment. Im zweiten dachte ich, Sie seien eine Angestellte, die kurz draußen etwas nachsehen müsste“, kam ich zurück auf die Situation im Getränkemarkt, wissend, etwas Besänftigendes austeilen zu müssen.
Nur noch sechs Achtel falsch.
„Dann fiel mir ein, dass die Angestellten alle rot trugen.“
Neunundneuzig Einhundertstel falsch.

„An der zweiten Kasse wunderte ich mich über den verwaisten Einkaufswagen. Da kamen Sie zurück. Anscheinend hatten Sie nur ihr Portemonnaie im Auto liegen lassen. Das machte Sie mir gleich sympathisch. Und wie Sie mich so liebevoll anlächelten, war ich für einen Augenblick glücklich.“
„Gelächelt habe ich?“ Die Frau in der grünen Jacke schaute mich mit einem ironischen Gesichtsausdruck an. „Ja, sicherlich haben Sie gedacht, dass Sie den Einkauf gleich geschafft haben und endlich nach Hause können“, versuchte ich zu beschwichtigen
So einen wie dich würde ich nicht von meiner Bettkante stoßen, hatte ich gedacht. Weiß aber nicht, ob ich das noch immer so sehe.
Anstelle einer Antwort wurde ich mit einem intensiven Blick bedacht. Es trieb mir den Schweiß in meinen Nacken. Deshalb erachtete ich es als ratsam, vom Thema Getränkeshop auf ein belangloseres auszuweichen. „Hatten Sie auf dem Nachhauseweg einen Unfall?“, fragte ich mit Anteil nehmender Stimme.
„Nein, erst am nächsten Morgen in der Ellernstraße. Irgend so ein Vollidiot ist mir frontal rein geknallt“, ereiferte sich die schöne Frau in der grünen Jacke und fragte mich im Gegenzug, ob ich eben-falls einen Unfall gehabt hätte und wenn ja, wo.

Vollidiot! Ich und Vollidiot? Ihre Anschuldigung hämmerte in meinem Kopf. Ich wurde das mulmige Gefühl nicht los, dass es besser wäre, wenn ich jetzt das erste Mal an diesem Tag nicht die Wahrheit sagen würde. „Mich hat’s an der Kreuzung Osttangente/Industriestraße erwischt. Sie wissen ja, diese abknickenden Vorfahrtstraßen sind für manche ein Problem.“
„Und die Diagnose?“
„Doppelter Schienbeinbruch. Zwei Rippen. Und Frakturen am Nacken. Und bei Ihnen?“
„Schlüsselbeinbruch, Handbruch, Schädel-Hirn-Trauma. Und ebenfalls der Nacken. Haben wir beide wohl im richtigen Moment einen Schutzengel gehabt. Soll ich Ihnen mal etwas verraten?“
„Ich bin ganz Ohr. Niemand kann ein Geheimnis besser bei sich behalten, als meine Wenigkeit.“
„Wenn ich den Kerl erwische, der plötzlich auf meine Fahrbahn gewechselt ist, dann werde ich ihn an mein Bett fesseln und ihm im ersten Schritt bei vollem Bewusstsein alle Zehennägel herausreißen.“

Ich musste drei Mal schlucken und konnte gar nicht verstehen, warum mir so heiß wurde, als würde ich in der Hölle schmoren. „Sie müssen jetzt nicht ins Schwitzen kommen. Da Sie es nicht gewesen sind, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung.“
„Was ... käme denn ... nach den Fußnägeln ... dran“, stotterte ich, hoffend, mich nicht zu verraten.
„Oh, ich sehe, hier ist ein Seelenverwandter. Wir sollten uns über unsere Vorlieben und Fantasien austauschen. Das könnte sehr befruchtend für uns beide sein.“
Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Deutlich sah ich diese Frau vor mir. Sie stand am Fußende des Bettes. Vollkommen nackt. In knallroter Haut. Hinten ging ihr ein langer, nackter Schwanz bis auf den Boden. Nur am Ende einen kleinen, schwarzen Haarbüschel. An ihren Schläfen wuchsen zwei große, rote Hörner gen Himmel. Drohend hing in ihrer Hand ein großer Dreizack. Ihre Brüste waren spitz wie zwei Trichter, die Nippel zwei lange Eisendornen. Langsam näherten die sich meinen Augen. Gleich würden sie durch meine Pupillen stoßen.

„Wollten Sie nicht Ihren Kuchen essen anstatt mir ins Dekolleté zu stieren?“
„Oh sorry, ich war gerade in Gedanken.“
Wenn sich die Gedanken mit meinen Busen beschäftigen, habe ich nichts dagegen. „Vielleicht sollten Sie erst einmal aufessen, bevor ich Ihnen erzähle, dass ich ihm nach den Zehennägeln die Ohrläppchen abschneiden würde ... und die Nasenspitze natürlich. Aber ich will Ihnen nicht den Appetit verderben, darum sage ich es Ihnen erst nach dem Essen.“
„Sehr gnädig von Ihnen.“ Der Kuchen wollte nicht mehr rutschen. Der Kaffee schmeckte bitter wie Hustensaft. „Ich glaube, die Sahne war nicht mehr gut. Wenn Sie mich entschuldigen mögen. Meine Magenkrämpfe sagen mir, dass es besser wäre, schnell wieder auf mein Zimmer zu gehen.“

„Wie lange sind Sie noch hier?“
„Bestimmt eine Woche.“
„Prima. Dann können wir uns jeden Tag treffen. Ich würde sie gerne näher kennen lernen. Ich heiße übrigens Lucille.“
„Von Herzen gerne, Lucille“, log ich und hinkte davon, so schnell ich konnte. „Rallo“, rief ich ihr im letzten Moment zurück. Anstand gehört sich halt. Dummerweise hörte ich nicht mehr, wie die hübsche Frau mit ihrem Gewissen sprach. Sonst wäre alles bestimmt ganz anders gekommen:

Null Hundertstel falsch. Lucille, da bahnt sich was an. Aber warum kannst du deine obszönen Gedanken nicht im Zaum halten und deinem Maulwerk verbieten, wie eine Wassermühle zu klappern? Gib zu, du bist auf dem besten Wege, dich in diesen jungen Mann zu vergucken. Aber hat er es verdient, dass du nur an das eine denkst? – „Tue ich ja gar nicht.“ – Doch. – „Nein. Das ist nicht wahr. Jetzt gerade wünsche ich mir, dass wir zusammen draußen auf einer Bank sitzen und er seinen Arm um meine Schulter gelegt hat. Und er würde mir erzählen, wie er als Kind auf dem Kirchhof A-Zertreten gespielt hat.“ – Verarsch´ mich nicht! – „Darauf würde ich ihm erzählen, wie ich als kleines Mädchen mit meinen beiden Puppen Jan und Janina gespielt habe. Sogar einen Kinderwagen hatte ich für die beiden. Ich war immer ganz stolz, wenn ich ihn ausfahren konnte. Was ist? Was guckst du so? Ach so, ja, das stimmt. Das mit dem Kinderwagen sollte ich nicht sagen. Es könnte Panik in ihm auslösen.“

- - -

„Jaaaaaa.“ Schläfrig und verstört klang die Stimme meines besten Freundes aus dem Lautsprecher.
„Hallo Gabriel, ich bin´s.“
„Bist du verrückt, Rallo? Es ist zwei Uhr nachts.“
„Entschuldige, aber ich kann nicht schlafen.“
„Da geht es uns jetzt ja gleich.“ Oh je, klang Gabriels Stimme sarkastisch. Egal, wenn er gleich meine Not erkennt, wird er wieder freundlicher werden. „Du musst mir helfen“, forderte ich laut.
„Dir ist nicht mehr zu helfen“, gab er resigniert zurück.
„Es geht um Leben und Tod“, hoffte ich sein Interesse zu wecken.
„Beruhige dich. Du hast nur einen Beinbruch. Da ist noch keiner dran gestorben“, legte er einen Deckel auf mein Fass namens Hoffnung.
Im ersten Moment wusste ich nichts zu antworten. Wie konnte Gabriel meine Not so ins Lächerliche ziehen? Meine Sprachlosigkeit hatte eine fatale Wirkung.
„Aha, ich verstehe“, wurde Gabriels Stimme ganz warm. Dann schlug seine Peitsche mir voll ins Gesicht: „Hat sie dich geküsst?“
„Wer ... was ... Gabriel“, stammelte ich.
„Wieso willst du sonst türmen, Rallo? Ich kenne dich, da steckt eine Frau dahinter.“
„Aber anders als du denkst“, platzte es aus mir heraus.
„Wieso, wie denke ich es denn?“
„Du bist wie meine Mutter.“

„Ach, Rallo, wo du das ansprichst. deine Mutter hat mir einen Auftrag erteilt.“
„Einen Auftrag?“ Unwillkürlich fasste ich mich mit meiner Hand an den Hals. Die Schadenfreude in der Stimme meines Freundes tat sein Übriges.
„Beim Ortausgang Hameln ebenso wie in Hannover soll ich die ersten, riesigen Leinwände aufstellen.“
„Was für Leinwände? Wann?“
„In drei Monaten.“
„Dann habe ich Geburtstag.“
„Eben. Dreißig wirst du. Das wird auf den Plakaten stehen. Ebenso deine Unfähigkeit, dir eine Frau zu suchen.“
„Gabriel, so einfach ist das nicht.“
„Drei Monate, Rallo. Da kann noch viel passieren. Vor allem, wenn man motiviert ist. In jedem Dorf werden die Autofahrer auf eine Schandtat von dir hingewiesen. Das weckt Neugierde. Außerdem führen große Hinweisschilder mit Pfeilen die LKWs zur Rathaustreppe. Eine Woche wirst du brauchen, den ganzen Dreck wegzufegen. Und dann die fantasievollen Inserate in den Tageszeitungen. Wahrlich, Rallo, du hast eine sehr einfallsreiche Mutter. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? Der Marktplatz wird proppevoll sein.“

„Was, Gabriel, was soll ich mir überlegen?“
„Im Krankenhaus zu bleiben und um die Frau zu werben.“
„Mensch, Kerl. Die will mich töten. Und vorher erbärmlich foltern.“
„Welche Folter wäre dir denn lieber? Die einer hübschen Frau oder die deiner Mutter?“
„GABRIEL! Wenn dir mein Leben lieb ist ...“
„Ist es das?“ Oh, ich hörte förmlich, wie er sich am Kopf kratzte, ließ mich davon jedoch nicht beirren: „Wenn dir mein Leben lieb ist, lösche die Akten vom Verkehrsunfall in der Ellernstraße.“ Ich wusste, ich verlangte viel von Gabriel, dem Polizisten. Aber meine Forderung hatte seine Berechtigung. Für mich jedenfalls.

„Ich soll was? Ey Mann, das kann mich den Job kosten. Auf keinem Fall.“ Ich spürte, mein Freund war kurz davor, aufzulegen. Schnell musste mir eine Abschwächung einfallen: „Dann frisiere ihn zumindest um. Verlege den Unfallort an die Kreuzung Osttangente/Industriestraße und lösche den Namen von der Luzisonstwas.“
„Oho, ihren Namen kennst du auch schon. Wie nah seid ihr euch denn mittlerweile gekommen. Geht das überhaupt mit so einem Gipsbein?“
„In einer Stadt zu wohnen ist schon viel zu nah. Das ist ja das Problem. Ständig würden wir uns über den Weg laufen.“
„Humpeln, würde ich an deiner Stelle eher sagen; mit verstümmelten Füßen, gebrochenen Kniescheiben, auf den Rücken gedrehten Kopf.“
„Hör mit deinem Spott auf. Was ist jetzt? Frisierst du den Text um und holst mich hier raus?“ Mittlerweile war mein Geduldsfaden sehr ausgefranst. Lange würde es nicht mehr dauern, dann würde nicht nur Lucille in Springe zu einem Mörder mutieren.
„Die Unfallakte werde ich bearbeiten, Rallo. Unserer Freundschaft wegen. Und deiner Luzisonstwas werde ich Zaumzeug und Peitsche geben, damit sie dich vor der Rache deiner Mutter bewahrt. Auch unserer Freundschaft wegen.“
„Sie ist nicht meine Luzisonstwas!“, blaffte ich ihn scherzhaft an. Froh darüber, einen guten Freund zu haben, der einem aus der Patsche hilft.
„Noch nicht“, brabbelte Gabriel etwas in seinen Bart. Den Rest verstand ich nicht. Bis seine Stimme mir vor dem Knack in der Leitung und dem anschließendem Tuten im Ohr laut und deutlich mitgeteilt hatte, morgen früh um acht Uhr am Empfang zu stehen.

- - -

Erleichtert schritt ich mit meinem Koffer am nächsten Morgen den Gang entlang. Um keinen Verdacht zu erwecken, den hellblauen Morgenmantel übergeworfen. Am Tresen stand Gabriel. Neben ihm leuchtete es grün.
Als Lucille mich sah, schob sie sich verstohlen einen kleinen Zettel in die Tasche ihrer Jogginghose. Triumphierend verabschiedete sie mich mit einem Küsschen auf die Wange.
Misstrauisch beäugte ich Gabriel. Hatte er Lucille meine Telefonnummer gegeben?
 
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Kommentare  

Herzlichen Dank für dein Feedback, Dieter. Darüber freue ich mich sehr.

Frank Bao Carter (26.10.2018)

Oh, oh, was wird Lucille wohl mit deinem Prota anstellen? Eine kleine Geschichte die die Mundwinkel etwas höher zucken lässt.

Dieter Halle (20.10.2018)

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