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6 Seiten

Vernetzt - Die Unerleuchteten (Teil 4)

Romane/Serien · Spannendes
Es sah aus wie das Paradies. Planzen und Tiere im Überfluss, alles war farbenfroh und von einem blauen Licht durchflutet, fast schon ein wenig kitschig. Um ihn herum schwammen kleine Fische in allen Farben des Regenbogens und die Seeanemonen oder was immer es war, bewegten sich wie in einem langsamen Tanz.
Er gab sich vollkommen den Bewegungen des Wassers hin, ließ sich treiben und genoss diese zauberhafte fremde Welt um sich herum. Ein größerer orangefarbener Fisch schwamm jetzt auf ihn zu, beäugte ihn neugierig, streifte seine Hand und war dann auch schon wieder im unendlichen Blau des Ozeans verschwunden. Vor ihm tauchte jetzt ein großes Korallenriff auf, es schien zu blühen, erstrahlte in Violett, Türkis und strahlendem Gelb und wurde von zahlreichen Fischen und anderem Getier umschwirrt. Auf dem Grund einige größere und kleinere Muscheln, von oben brach sich warmes Sonnenlicht im Wasser und sogar eine Wasserschildkröte schwebte über ihn hinweg.
Als er ein Stück weiter schwamm, machten seine Augen plötzlich etwas aus, das sich rechteckig gegen das Blau abzeichnete. Eine Form, die er hier unten nicht erwartet hatte. Neugierig schwamm er näher und erkannte, dass es sich um eine Art Mauer handelte, dich dahinter eine weitere, so gerade aus Steinen errichtet, dass sie unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnten.
Er schwamm noch näher heran, sah sich um und entdeckte weitere Mauern, ganze Gebäude, eine komplette versunkene Stadt. Sie befand sich am Rande eines Abgrundes, zumindest konnte er hinter der Stadt keinen Meeresgrund mehr erkennen. Atlantis, schoss es ihm durch den Kopf, Rungholt, Bremen, Hamburg, New York oder Tokio. Früher gab es viele Städte, die irgendwann im Meer versunken und für immer verschollen sind, erinnerte er sich. Damals in der alten Welt, wie sie es nannten.
Während er noch darüber nachdachte, tauchte plötzlich hinter einer Mauer ein riesiger Hai auf und erschreckte ihn fast zu Tode. Schnell rollte er sich zur Seite, machte einige hektische Schwimmzüge, um dem Tier zu entkommen, doch der Hai war natürlich schneller, packte ihn und riss ihn einige Meter mit sich und dann in die Tiefe.
Er zappelte, wehrte sich aus Leibeskräften, schaffte es tatsächlich dem Maul mit den spitzen Zähnen zu entkommen. Dann jedoch wurde ihm schwindelig und für einen Moment schwanden ihm die Sinne und ihm wurde schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, war der Hai verschwunden. Mit ihm aber auch die versunkene Stadt, die Korallen, der Meeresboden und die Sonnenstrahlen. Alles, was er noch sah, war dunkelgrünes Wasser um sich herum, ein einziger undurchdringlicher Schleier.
Er wusste nicht, wo oben oder unten war, denn hier in der Tiefe gab es kein Oben und kein Unten, sondern scheinbar nur noch Unendlichkeit. Verzweifelt tauchte er erst in die eine, dann in die andere Richtung, hoffte auf irgendeinen Punkt zur Orientierung. Doch es gab hier einfach nichts, nur den endlosen Ozean und diese Grabesstille, die ihm erst jetzt bewusst wurde.
Er drehte sich im Kreis, blickte in alle Richtungen, doch überall nur undurchdringliches Dunkelgrün. Ihm war als schwebe er im Nichts, kein Oben, kein Unten, kein Hell, kein Dunkel, kein Leben, kein Tod. Das Schlimmste war, dass sein Gehirn diesen Zustand allmählich akzeptierte, seine Panik schlug in Gleichgültigkeit um und er wollte sich einfach nur treiben lassen.
Dann aber bäumte sich das Leben in ihm ein letztes Mal auf und er erinnerte sich daran, was zu tun war. Schnell griff er an seinen Hinterkopf und zog den Stecker. Licht flackerte auf, das Meer verschwand und er spürte geradezu, wie sein Bewusstsein die Datenautobahn entlangraste. Brandon sog gierig Luft in seine Lungen, auch wenn es ihm ja nie an Sauerstoff gemangelt hatte. Wie um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, krallte er seine Finger in seine Oberschenkel bis er den Schmerz spürte.
Ja, er war zurück in seiner Kugel, um ihn herum der 360-Grad-Monitor, keine Spur mehr von der Unterwassersimulation. Sein Herzschlag und seine Atmung beruhigten sich allmählich wieder und er konnte auch wieder klar denken. Tatsächlich hatte er schon gehört, dass solche Dinge auch anderen passiert waren. Mancher hatte sich in einer Simulation verloren und selbst, wenn ihm dann der Stecker gezogen wurde, war sein Bewusstsein für immer in den Tiefen des Internets verschollen.
Bisher hatte Brandon all das für Gruselgeschichten gehalten, Fake News, die von jenen Alten verbreitet wurden, die immer noch behaupteten, die sogenannte analoge Welt sei die einzig wahre und echte. Aber er hielt all das für nostalgisches Gebrabbel derer, die den zweiten Urknall, wie sie es nannten, noch miterlebt hatten.
Vor diesem, so hatte er gelernt, gab es im Grunde nur diese analoge Welt und für alle anderen wurden ein Computer und andere Hilfsmittel benötigt. Auch habe man damals in Simulationen weder fühlen, noch schmecken, noch riechen können. Brandon erschien ein Leben, in dem es nur eine mögliche Welt gab unvorstellbar langweilig und er fragte sich manchmal, wie die Menschen damals überhaupt gelebt hatten.
Jetzt aber schüttelte er sein Erlebnis von eben von sich ab, er steckte den Stecker wieder in den Port an seinem Hinterkopf und sofort entstand auf dem Monitor seiner Kugel wieder seine Wohnung mit dem Desktop. Erst einmal klickte er, um sich etwas zu trinken und zu essen zuzuführen, dann kontaktierte er seinen Freund Alvaro, dessen Bild auch sogleich vor ihm auftauchte. Immer noch ein wenig aufgeregt berichtete er ihm von seinem Unterwassererlebnis, was diesen aber kaum zu beeindrucken schien.
„Warum hast du denn nicht sofort escaped und die Sim neu gestartet?“, fragte er nur. „Mann, weil ich mich wirklich lost fühlte und tatsächlich Angst hatte“, versuchte Brandon zu erklären, „ein so archaisches Gefühl, wie du es sonst nie hast.“ Alvaro schien all das nicht nachvollziehen zu können.
Bevor sein Freund sich aber noch über ihn lustig machte, schlug er vor: „Lust auf 'ne Runde 'Space Invaders'?“ Er sei heute aber wirklich archaisch drauf, antwortete dieser, willigte dann jedoch ein.
Sekunden später saßen sie in einer Raketenabschussbasis, um sich herum lauter Waffensysteme und vor sich ein großes Teleskop, mit dem sie bis weit in den Weltraum hinaus gucken konnten. Die gesamte Galaxie im Blick konnten sie an einzelne Sterne und Planeten heranzoomen, immer auf der suche nach Außerirdischen, die natürlich nichts anderes im Sinn hatten als die Erde anzugreifen.
Es dauerte nicht lange bis Alvaro das erste feindlich Raumschiff erblickte, er gab einen Schuss ab und kaum war das eine Schiff zerstört, flog eine komplette Formation direkt auf sie zu. Brandon und Alvaro feuerten, schließlich hatten sie das Spiel früher häufig gespielt und es sogar in die Rankings geschafft. Diesmal jedoch war Brandon nicht konzentriert genug und verfehlte deutlich mehr als sonst, so dass die Aliens schon bald die meisten Blöcke zerstört hatten, die ihrer Basis als Schutz dienten.
Nach einem langen aber letztlich doch aussichtslosen Gefecht hörte Brandon schließlich das verräterische Geräusch, das ihm sagte, die Aliens waren nun auf der Erde gelandet. Zwar feuerte er weiter, doch jetzt war es ihnen kaum noch möglich, das Spiel zu gewinnen. Wenig später spürte er heißen Atem in seinem Nacken, dann schleimige Tentakel, die nach ihm griffen und er musste sich nun gegen die Außerirdischen zur Wehr setzen, die in seine Basis eindrangen. Währenddessen wurde er auch von immer mehr Geschossen getroffen und bald hörte er auch von Alvaro, dass auch dessen Basis überrannt wurde.
Ein krakenartiges, säuerlich riechendes Alien baute sich schließlich genau vor ihm auf, fuchtelte mit seinen Greifzangen vor seinem Gesicht herum, dann wurde es dunkel, das Spiel war beendet und die Runde verloren. Brandon wartete bis auch für Alvaro Game over war. „Sorry, ist heute irgendwie nicht mein Tag“, entschuldigte er sich und merkte eigentlich erst jetzt, wie schwer es ihm fiel, sich richtig in die Simulation hineinzusteigern.
„Ach, stell dich nicht so an“, kam es von Alvaro, „spielen wir eben noch 'ne Runde.“ Leider hatte Brandon da gerade so überhaupt keine Lust drauf, auch nicht als sein Freund seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte und ihn einen Langweiler nannte. Doch nach seiner Erfahrung von vorhin schossen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, die er zwar nicht fassen konnte, die es ihm aber schwer machten, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
„Wie wäre es dann mit ein bisschen Mittelalter?“, versuchte Alvaro es noch einmal, „Wir könnten an unserer Burg weiterbauen oder ein paar Drachen jagen.“ Auch das verneinte Brandon, genau wie zig weitere Vorschläge, die ihm sein Freund machte. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht benennen konnte, kam ihm jede Simulation, die er kannte, heute langweilig vor. Irgendetwas in ihm sehnte sich nach etwas vollkommen Neuem.
Sicher, es gab mehr virtuelle Realitäten als sich überhaupt ein Mensch und vielleicht auch als sich die gesamte Menschheit vorstellen konnte. Was immer sich jemand wünschte, diese Welt konnte sofort erzeugt und auf jeden Einzelnen zugeschnitten werden. Auch Schwierigkeitsgrade konnten nach Belieben angepasst und die verschiedenen Emotionen individuell intensiviert werden. Viele meinten, die Menschheit habe das Optimum dessen erreicht, was dem Gehirn noch zuträglich sei.
Jede körperliche Funktion konnte gesteuert werden und jeder Geisteszustand erzeugt. Niemand musste sich mehr Sorgen machen, all das sei seit dem zweiten Urknall überwunden. Brandon hatte nie verstanden, was all das bedeuten sollte. Natürlich machte er sich Sorgen, wenn er von Aliens angegriffen wurde oder wenn er nicht genug Baumaterial für seine Burg fand. Zumindest hatte er das bisher immer geglaubt.
Aber vorhin, als er im unendlichen Ozean nicht mehr wusste, wo er war und wer er war, da hatte er eine ganz neue Dimension der Sorge gespürt. Eine existenzielle. Hätte er sich nicht im letzten Augenblick daran erinnert, den Stecker zu ziehen, wer weiß, was ihm hätte passieren können. Und durch genau diese Empfindungen, die ihm immer noch in den Knochen steckten, kam ihm die Welt auf einmal so leer, so unwirklich vor. Irgendetwas in ihm sagte, dass all dies nicht alles sein konnte, dass es im Leben mehr geben musste.
Solche Gefühle seien in der Jugend typisch, hätten ihm seine Lehrer jetzt bestimmt gesagt. Selbst Alvaro verstand nicht genau, was Brandon meinte und nannte ihn schließlich einen Spinner. Ja, vielleicht war er das. Ein Spinner, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hatte. Doch wenn man im Leben jeden Tag unzählige neue Plätze einnehmen konnte, woher sollte er dann wissen, wer er wirklich war?
„Ich glaube, ich möchte mal wieder in die analoge Welt“, stellte er schließlich fest. Alvaro sah ihn kopfschüttelnd an, dann kommentierte er: „Du bist wirklich ein Spinner. Was willst du denn da? Es ist total langweilig und nur was für alte Leute, die behaupten 'früher war alles besser'.“ Alvaro wusste, wovon er sprach, denn genau wie Brandon hatte er vor etwa zwei Jahren schon einmal einen Trip in die analoge Welt unternommen.
Zwar konnte man auch dort sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, doch war alles längst nicht so intensiv wie in den meisten Simulationen. Zum einen gab es eben kaum Optionen, sondern nur diese eine verfallene Welt, die wohl das darstellte, was von der Zeit vor dem zweiten Urknall noch übrig geblieben war. Nein, sie stellte es nicht dar, angeblich war sie ja keine Simulation, sondern real. Zum anderen waren alle Sinneseindrücke viel unpräziser als in den Simulationen und es gab auch keine wirklichen Spiel- oder Handlungsverläufe, denen man folgen konnte.
Genau das reizte Brandon aber jetzt gerade. Es war wie in seiner Unterwasserwelt, in der es kein Unten und kein Oben gab. Er würde sich selbst zurecht finden müssen, würde aus allen Eindrücken eigene Schlüsse ziehen müssen, ohne sofort zu wissen, ob sie richtig oder falsch waren. Am meisten jedoch reizte ihn, dass es dort draußen angeblich wirklich gefährlich werden konnte, manche Menschen kehrten verletzt zurück und andere auch gar nicht, hatte er gehört.
Vielleicht war ja alles nur das nostalgische Gerede der Alten, die aus sentimentalen Gründen an ihrer alten Welt festhielten. Vielleicht stimmte es aber tatsächlich, was sie sagten, und die Welt dort draußen war keine Simulation, sondern der Ursprung von allem und somit das wahre Leben. Auf jeden Fall wusste Brandon, dass er es noch einmal ausprobieren musste, wenn er der Leere, die er in sich spürte, auf die Spur kommen wollte.
 
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