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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 3/ Die Russen und die Neue Zeit/Episode 13/Die Schieber im Loh und Pawel reist nach Berlin

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 13

Die Schieber im Loh und Pawel reist nach Berlin

Schnell lief Rosi mit Pawel Richtung Loh. Hatte sie es doch geahnt. Der Schwarzmarkt musste im Loh sein. Die Leute redeten ständig hinter vorgehaltener Hand davon. Und von den Schiebern. Die dort ihr Unwesen treiben sollten. In der Stadt hatte sie, entgegen Elses Verbot, jeden Winkel nach dem mysteriösen Markt durchstöbert. Und natürlich nirgendwo ein Anzeichen gefunden. Bis zum Loh hatte sie sich allerdings so ganz allein nicht getraut. Es sollten dort noch Granaten und andere Überreste des Krieges herumliegen. Wenn man aus Versehen auf so eine Granate träte, könnte sie vielleicht explodieren. Und aus wäre es. So ging jedenfalls die Rede.
Rosi, Jutta und Karlchen hatten jedoch beim Holzsammeln keine Munition entdeckt. Allerdings waren sie auch nicht tiefer in das Hölzchen vorgedrungen. Sie hatten nur die vom Wind heruntergewehten Äste und Zweige vor dem Wäldchen aufgesammelt und in ihren Handwagen geschmissen. Für einmal den Kanonenofen heizen, hatte es immer gereicht. Aber was Rosi jetzt vorhatte, stand schon auf einem anderen Blatt. Viel Zeit hatten sie und Pawel nicht. Achtzehn Uhr war Sperrstunde. Danach durfte sich bis Morgens früh sechs Uhr niemand auf der Straße blicken lassen.
Die ganze Aktion war schon etwas abenteuerlich. Und überaus gefährlich. Denn wer beim Tauschen erwischt wurde, bekam eine hohe Strafe.
„In manchen Ländern gibt es dafür sogar die Todesstrafe“, hatte der Schmids gesagt. „Die Schieber sind ruchlose, verantwortungslose Menschen, die die Not anderer Menschen ausnutzen und sich der natürlichen Pflicht entziehen, unser Land nach der furchtbaren Zerstörung durch den Krieg, wieder neu aufzubauen. Die Schieber und Schwarzhändler sind ruchlose Menschen, die die Versorgung der Bevölkerung gefährden.“
Diese Sätze kamen Rosi plötzlich in den Sinn. Gehörte Pawel etwa auch zu den ruchlosen Schieber-Menschen?
„Wie spät ist es eigentlich Pawel?“, fragte Rosi vorsichtig Pawel.
Pawel schaute auf seine teure Schwarzmarktuhr an seinem linken Handgelenk und sagte zuvorkommend: „Gleich sechzehn Uhr Naseweis.“
„Wo ist denn nun der Schwarzmarkt?“, wurde Rosi ungeduldig. Sie wollte trotz aller Ängste und Vorbehalte endlich wissen, was es mit dem Schwarzmarkt und den Schiebern auf sich hatte. Sie, Jutta und Karlchen hatten bei ihren Streifzügen jedenfalls noch nichts davon entdeckt.
„Wir sind gleich da“, beruhigte sie Pawel. „Aber so ohne Weiteres ist er nicht zu finden. Man muss schon wissen, wo er ist.“
„Es wird doch gleich dunkel“, murrte Rosi. „Und Sperrstunde ist auch gleich.“
„Geduld, Geduld“, sagte Pawel gelassen. „Wir sind gleich da.“
Kurz vor dem Loh kamen Rosi und Pawel zwei Männer entgegen. Schwarzgrün gekleidet. Mit Sonnenbrille und Schiebermütze. Von ihren Gesichtern war kaum etwas zu erkennen. „Hallo Pawel, alter Junge“, sprach der größere Mann Pawel an. „Nix los heute. Wenig Ware. Wenig Leute. In den Nestern hier haben die Leute nix mehr zu tauschen.“
„Ist klar“, sagte Pawel. „Die sind alle arm, wie ne Kirchenmaus. Ich will dem Naseweis hier“, Pawel zeigte gönnerhaft auf Rosi, „nur zeigen, wo hier der Schwarzmarkt ist. Und ihre zügellose Neugier befriedigen.“
„Dann mal zu“, sagte der Kleinere. „Seid aber vorsichtig. Die Händler bauen schon ab. Ist ja auch gleich Sperrstunde. Da kommen die Kontrollen. Und wehe dem, der erwischt wird.“
„All right“, lachte Pawel. „Komm Naseweis.“
„Naseweis“, war Rosi beleidigt. „Ich bin doch kein kleines Kind mehr.“
„Nein, bist du nicht“, sagte Pawel versöhnlich. „Sonst hätte ich dich ja auch nicht mitgenommen.“

Nach einigen Metern hatten Pawel und Rosi das Schützenhaus erreicht. Rosi musste daran denken, wie damals, nach dem Krieg, hier die zwanzig Amipanzer standen. Mit den Rohren auf Buttstädt gerichtet. Noch jetzt bekam sie eine Gänsehaut.
Hinter dem Schützenhaus gab es einige schnell zusammengeschusterte Buden mit einfachen Holztischen. Unter hoch aufgeschichteten Zweigen. Ästen. Baumstämmen. Dazwischen einige Vogelnester und Gucklöcher. Wie in einer Burg. Oder ihrer Hütte. Noch tiefer drin im Wäldchen. Es war lange her, dass sie, Jutta und Karlchen sie besucht und vor dem kalten Ofen geträumt und sich Räubergeschichten erzählt hatten.
„Gute Tarnung“, lobte Rosi. „Aber wenn die Kontrollen kommen, wissen die doch, dass der Markt hier ist."
„Klar“, lachte Pawel. „Sie drücken ein Auge zu. Wenn die Händler weg sind. Wenn sie kommen. Da gibt es solche ungeschriebenen Gesetze. Und wenn sich jeder daran hält, kann nicht viel passieren.“
Auf den Tischen war alles ausgebreitet, was es in den Geschäften ohne Lebensmittelkarten und Bezugsscheine nicht zu kaufen gab. Butter. Käse. Milch. Fleisch und Wurst in allen Sorten und Varianten. Zucker. Mehl. Grieß. Graupen. Kartoffeln. Anderes Gemüse. Schokoladenzeugs. Vor allem Zigaretten. Die waren am begehrtesten. Und am teuersten.
„Manche tauschen einen Nerz für eine Schachtel Camel. Oder eine Schachtel Chesterfield“, sagte Pawel.
„Aber doch nicht hier“. zweifelte Rosi. „Hier hat niemand einen Pelzmantel.“
„Natürlich nicht hier“, stimmte Pawel zu. „Aber in Berlin. Da gibt es noch superreiche Leute. Mit denen kann man lohnende Geschäfte machen.“
Auch Kleidung und Gebrauchsgegenstände gab es zur Genüge. Sogar Holz und Kohlen. Alles schön gebündelt und gestapelt. Die Händler liefen geschäftig hin und her. Lautstark priesen sie ihre Waren an. „Silber gegen Butter. Tschapka gegen Fleisch!“
Tatsächlich blieb ein Mann vor dem Händler stehen. „Ich hab eine Tschapka“, krächzte er. „Echt. Aus Russland.“
„Dann her damit“, freute sich der Händler.
Der Mann, der offensichtlich krank war und verhalten hustete, zog eine wunderschöne braune Tschapka aus seiner Militärmanteltasche. „Hier“, sagte er. „Was bekomme ich dafür?“
„Zwei Pfund Butter. Und fünf Pfund Kartoffeln“, sagte der Schieber.
„Einverstanden“, war der Mann zufrieden. „Da muss halt im Winter mein Kopf frieren.“
Neugierig lief Rosi von Stand zu Stand. Etwas enttäuscht war sie schon. Einen Stand mit Baumwollstrümpfen hatte sie auch noch nicht entdeckt. Oder mit Bettwäsche. Kleidung und Schokoladenzeugs bekamen sie ja ab und zu aus Amerika. Bei diesem Gedanken lief Rosi das Wasser im Mund zusammen. Sie bekam plötzlich einen regelrechten Heißhunger auf Schokolade. Und sofort lief das berühmt, berüchtigte Wasser in ihrem Mund zusammen.
„Hast du was zum Tauschen“, fragte Rosi Pawel.
„Was soll‘s denn sein Naseweis?“ Pawel zog eine kleine Taschenuhr aus seiner Hosentasche. Vor Rosis Augen ließ er sie hin und her pendeln und sagte fröhlich: „Die könnte ich für dich opfern.“
„Schokolade“, seufzte Rosi begehrlich. „Schokolade.“
„Sollst du haben Naseweis.“
Pawel ging zu einem Stand, hinter dem ein freundlicher junger Mann stand. „Ich hab was für dich“, sprach ihn Pawel an und legte die Taschenuhr auf den Tisch. „Meine kleine Freundin lechzt regelrecht nach einer Tafel Schokolade.“
Der Mann bückte sich zu einem Koffer neben dem Stand und kam mit einer Tafel Vollmilchschokolade zurück. „Ist es Recht so kleine Dame“?, wandte er sich an Rosi.
Völlig überwältigt, konnte Rosi nur nicken.
„Jetzt müssen wir aber los“, sagte Pawel. „Wir wollen ja nicht erwischt werden. Und im Gefängnis landen. Ich muss nachher auch gleich weiter. Es war schön, dich nochmal gesehen zu haben.“ Pawel zog übermütig an Rosis langen Locken. „Naseweis“, sagte er irgendwie zärtlich.
„Wo musst du denn hin?“, wollte Rosi wissen.
„Nach Berlin“, erwiderte Pawel. „Mein Zug kommt in einer halben Stunde. Kommst du noch mit zum Bahnhof?“
Rosi verstaute die Tafel Schokolade in ihrem Ranzen. Sie wollte sie mit den Kindern teilen. „Gut“, sagte sie. „Dann muss ich mich aber sputen.“

Zwanzig Minuten später stand Rosi mit Pawel auf dem Bahnsteig. Hier hatte sie damals, kurz nach dem Krieg, mit Karl gestanden. Als er sie in dem Zug voller Soldaten abgestellt hatte. Während er auf dem Dach seinen Platz gefunden und sein umgedrehter Kopf vor einem Fenster ohne Scheibe vor dem Abteil hin und her gebaumelt war. Und die Soldaten hatten das Lilly Marlene Lied gesungen. Und das Lied von der Rosemarie.
Ungläubig schaute Rosi Pawel an. „Was willst du denn in Berlin?“, fragte sie. „Die Stadt soll doch ein einziges Trümmerfeld sein. Und die Menschen hausen zusammen mit den Ratten. Es gibt keinen Strom. Kein Wasser. Kein Essen. Nur Hamsterer und Soldaten. Und viele Krankheiten.“
„Mach's gut Naseweis.“ Pawel küsste Rosi leicht auf die Wange. „Der Zug kommt. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.“

"Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder."

Genau diese Worte hatte damals auf dem Bahnhof der Flüchtlingsjunge Walter zu ihr gesagt. Und ihr dabei das Kohlestückchen in die Hand gedrückt. Und Pawel schenkte ihr nun zum Abschied eine Tafel Schokolade vom Schwarzmarkt. Und hat dafür seine wertvolle Taschenuhr geopfert.
Etwas wehmütig schaute Rosi dem abfahrenden Zug nach. "Mach's gut Pawel", flüsterte sie.

So plötzlich, wie Pawel damals nach Kriegsende oben am Kleffer aufgetaucht war, verschwand er jetzt wieder.

***

Fortsetzung folgt
 
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