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Jeden Abend

Trauriges · Kurzgeschichten
Jeden Abend stehe ich am Fenster und schaue hinauf in die schwarzen unendlichen Gefilde des Himmels. Jeden Abend suche ich, suche nach einer kleinen weißen Gestalt, die mir im Traum erschien. Diese Gestalt bist Du – Selina!

Es ist schon lange her und doch kann ich manchmal noch die Freude spüren, als ich erfuhr, dass es Dich gibt. Ich malte mir aus, wie es sein wird, Dich in den Armen zu halten, Dich zu leiten und zu führen, bis Du alt genug wärst dies allein zu tun.
Ich sah mich mit Dir über Wiesen tollen und flocht Dir Kränze aus Butterblumen. Kleine „Wehwehchen“ pustete ich hinweg, und wir sangen und lachten. Mit großen staunenden Augen betrachtetest Du die Welt und stelltest tausende Fragen. Du lerntest sehen und begreifen.
Du liebtest es, auf dem Rücken im Gras, in den Wolken nach Bildern zu suchen. Ich lag dann neben Dir, und Du erzähltest mir von Riesen, die mit dem Wind um die Wette pusten.
Ich erzählte Dir Märchen und wiegte Dich abends in den Schlaf. Manchmal bist Du nachts aufgewacht und hast geweint. Dann war ich für Dich da und nahm Dich tröstend in die Arme.
Dies alles sah ich schon so deutlich vor mir, als wäre es bereits reale Wirklichkeit. Da gab ich Dir Deinen Namen. Von nun an warst Du SELINA.

Zärtlich streichelte ich über meinen schon rundlichen Bauch. Es würde nicht mehr lange dauern und ich würde Deine ersten Bewegungen spüren. Ich freute mich darauf.

Wie naiv ich doch war. Die Welt war rosarot und ich voller Glück. Jeder der mir zuhörte, erfuhr von Dir, meinem eigenen kleinen Wunder.
Es gibt sieben Weltwunder auf dieser großen, weiten Welt, aber das größte, das es je gab oder geben wird, ist die Geburt eines Kindes. Es gibt nichts Vergleichbares.

Ich unterhielt mich mit Dir. Abends wenn ich im Bett lag, tagsüber wenn ich wusch oder die Wohnung aufräumte oder in der Wanne saß, und immer wieder streichelte ich liebevoll meinen Bauch.
Ich erzählte Dir von der Zeit, als ich noch klein war, von meinen Ängsten und Sorgen, von den kleinen Dingen die mich glücklich machten.
Ich erzählte Dir, wie ich heranwuchs und wie ich Deinen Vater kennen lernte, erzählte Dir von meiner Liebe zu ihm und meiner Liebe zu Dir und wie es sein würde, wenn Du das Licht der Welt erblickst.
Ich versäumte keinen Termin beim Arzt, rauchte nicht, trank nicht und ernährte mich gesund.
Ich begann Dein Zimmer zu planen. Ich wusste genau, wie es aussehen würde. Anfangs würdest Du natürlich in einer tollen Wiege bei uns im Schlafzimmer schlafen, gleich neben meinem Bett. Ich wäre dann immer da, wenn Du mich brauchst. Du müsstest keine Angst haben.

Doch dann gingst Du – und ich blieb allein.

Wenn ein Baby stirbt, ob schon geboren oder nicht, wird seine Seele zu einem Engel, der irgendwo dort oben in der Weite des unendlichen Himmels auf seine neue Chance wartet.
Und so stehe ich Abend für Abend am Fenster, halte Ausschau nach Dir und hoffe, dass meine Träume und Sehnsüchte nicht unerfüllt bleiben und ich Dich irgendwann in den Armen halten kann, Dich meine geliebte SELINA!

© Miranda Rathmann / Berlin, 01.03.2001
 
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Kommentare  

Das hat man nun davon, wenn man sich an einem Autor festbeißt und sich vornimmt, sämtliche seiner Werke anzuschauen...
Kein Vergleich zu den bisher gelesenen Werken, die eher auf der humoristisch-satirischen Schiene lagen, und, da nicht vorbereitet, wie ein Eimer Eiswasser in mein Gesicht.
Liebe Autorin, ich hoffe, dass diese Story keine autobiographischen Züge enthält. Falls doch, darf ich dich darüber informieren, dass ich das Gefühl auch kenne. Meine kleine Tochter war schwerstbehindert und ist nur viereinhalb Jahre alt geworden. Nur die ITK (Tonbanbstimmen) hat mich damals davor bewahrt, total am Rad zu drehen.
Ich fühle mit der Protagonistin dieser Geschichte, sei sie nun real oder nur fiktiv.
5 Punkte


Gwenhwyfar (14.02.2003)

Hallo, Miranda,
ich habe mal ein kleines Gedicht geschrieben, es war plötzlich in meinem Kopf und ich schrieb es auf.
Und jetzt, wo ich deine Geschichte lese denke ich, ich habe es nur für dich geschrieben.

In Liebe
Selma

Bevor du kams
waren meine Träume farblos.

Du hast sie ausgemalt rosarot und himmelblau.

Jetzt bist du wieder bei den Sternen
und meine Träume sind bei dir.


Selma Palue (11.05.2001)

Ich finde dieses Gedicht wahnsinnig schön und zugleich sehr traurig. Es erinnert mich an mein eigenes Schicksal.
Ich musste meinen lieben Mann bei einem Unfall für immer hergeben aber ich glaube ganz fest daran das er immer über mich und unsere Kinder wacht. Für mich ist auch er mein Schutzengel geworden.
Meine Tochter sagte am Tag des Unfalls ;
nicht weinen Mutti wenn wir ganz traurig sind schauen wir in den Himmel und der hellste Stern der leuchtet ist Papa und er lächelt uns zu und sagt ;nicht weinen alles wird weitergehen ich bin ,wenn auch nicht sichtbar immer bei Euch und passe auf Euch auf.


 (10.03.2001)

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