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4 Seiten

Versuch am Surrealismus - oder nicht?

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles
Tag X:
Man könnte den Startpunkt einer jeden beliebigen Geschichte „X“ nennen. Da ich mich weder an die Zeit vor diesem Rattenloch noch an den Umstand, der mich hierher brachte, erinnern kann, nenne ich den Beginn meiner Geschichte Tag X.
Ich kann den harten Stahl des Laufs in meinem Gesicht fühlen. Schatten. Dunkelheit. Feuchtigkeit. Vor mir taucht jene schreckliche Visage auf, jene Fratze, die ich schon vor drei, vier oder waren es fünf oder zweiunddreißig Stunden, wahrgenommen hatte. Ich jedenfalls habe jegliches Zeitgefühl vollkommen verloren. Allein habe ich Stunden, Tage, Wochen in dieser dunklen Kammer zugebracht. Ich habe weder etwas gegessen, noch etwas getrunken, ich habe sogar das Gefühl, nicht einmal geatmet zu haben. Ich habe das Gefühl, als würde mir ein schwerer Sack die Kehle zuschnüren, ein nasser Beutel die Lippen zusammenpressen, eine schwere Klammer auf meiner Nase haften, aber irgend etwas, ja, vielleicht ein Gefühl, vielleicht meine Seele, würde mich am Sterben hindern.
Oder bin ich schon tot?
Geistig gesehen ja. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde. Nur die dunkle Kammer. Und ich. Und die Visage. Er sagt nichts, er steht nur da und beobachtet mich.
Das ist es. Ich muss tot sein, und mich in der Hölle befinden. Denn nur die Hölle kann jenes Gefühl auslösen, welches jener Typ in mir zu erwecken versteht.
Hölle. Was ist da? Ist es ein Ort? Ist es eine Lebensweise? Ist es ein Umstand? Nein, es ist ein Gefühl, jenes Gefühl, das ich gerade empfinde. Oder besser gesagt, das ich nicht empfinde. Denn, gerade weil ich keine Gefühl empfinde, glaube ich mich in der Hölle zu befinden.
Jedenfalls steht dieser Mann jetzt da und beobachtet mich, geht auf mich zu. Allerdings weiche ich in dem Raum zurück, ohne mich zu bewegen, es ist als ob der Raum mit mir zurückweichen würde. Der Mann kommt auf mich zu, in seiner Hand ein Messer, auf dem Messer Blut, Blut auf seiner Hand, die Hand auf seinem Messer. Normalerweise würde ich jetzt sagen „Was wollen Sie?“
Er würde antworten: „Ich will Sie hier herausholen, folgen Sie mir!“
Ich würde sagen: „Wer sind Sie?“
„Ich bin Ihre Hilfe. Folgen Sie mir!“
„Woher weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann?“
„Vertrauen Sie mir. Nur wenn Sie mir vertrauen, kommen wir hier heraus!“
„Wohin werden Sie mich bringen?“
„An einen besseren Ort. An einen sehr viel besseren Ort.“
Aber ich kann nicht reden. Also kann ich mir die eben erwähnten Dialogzeilen schenken. Der Raum, in dem ich mich befinde, verändert sich, er wird zu einem Flur. Der Mann wird zu Johnny – Sie kennen Johnny nicht?

Tag X + 1:
Johnny ist der verwöhnte Sohn reicher Eltern, Johann Christoph von Kant III., seinerseits berufsausübend in der Sparte Sohn. Johnny begann schon früh damit, in allen möglichen Clubs abzuhängen, alle möglichen Sachen zu probieren und seine Eltern sehr, sehr unglücklich zu machen. Denn Johnny ist nur fleißig, wenn es darum geht das weibliche Geschlecht zu umwerben. Von Berufsausübung hält er nicht viel. Dafür um so mehr von Diskotheken. Dieser Johnny steht jetzt, in diesem Augenblick, vor mir.
„Was ‘n los, Kleiner?“
Discolicht, Stroboskop, Bass.

Tag X + 2:
Ich wusste zwar nicht, wie ich in dem kalten Loch in dem ich gefangen bin, zum Schlafen kam, aber ich hatte es geschafft und ich hatte von Johnny geträumt. Der Mann ist verschwunden, er hatte nur einen Hebel betätigt. Dafür rücken jetzt die Wände immer näher, sie versuchen mich zu zerquetschen, das Loch wird enger, Zacken treten aus den Wänden, die Wände sind voll mit roter Flüssigkeit, vielleicht Blut, vielleicht Tomatensaft, der Boden beginnt sich zu verformen, beginnt sich zu öffnen. Ich stürze, in eine Leere, in eine unendliche Tiefe und trotzdem stürze ich nicht. Meine Gefühle in diesem Moment: Ich versuche zu atmen, kann aber nach keiner Luft schnappen. Ich versuche halt zu finden, finde aber nur weiche Kanten, an denen meine Finger abrutschen. Ich versuche zu schreien, doch ein nasser, schwerer Sack verschnürt meine Kehle, zerdrückt meinen Kehlkopf. Ich bin wahrlich verloren. Der Aufprall. Blackout.

Tag X + 3:
Johnny absolvierte zwar die Handelsakademie mit ausgezeichnetem Erfolg, es wird aber gemunkelt, seine Matura sei von seinen Eltern erkauft. Sein Vater hätte sich gewünscht, er würde nach Schulabschluss Jura studieren, doch Johnny wollte nur DJ werden. Sein Vater versprach ihm einen Ferrari, falls er Jura studieren würde, doch Johnny kümmerte es nicht, da er den Ferrari ohnehin bekam, Jura oder nicht. Sein Vater verfolgte seine Karriere als DJ mit sehr wenig Begeisterung, begann sich dann um seinen zweiten Sohn, Jamesy, zu kümmern, von dessen Interessen her er sich mehr Erfolg verhoffte. Erfolg auch für Johnny. Sein Vater tolerierte sein Verhalten, aber kontrollierte ihn nicht, was bedeutete, dass er weiterhin Geld bekam, welches er für seine speziellen Interessen benötigte. Dieser Johnny steht jetzt, in diesem Augenblick, vor mir.
„Kleiner, Kleiner, Kleiner. Dir geht’s wohl nicht so gut?“
D 12.

Tag X + 4:
Ich musste vom Aufprall bewusstlos geworden sein und bei dieser Gelegenheit von Johnny geträumt haben. Jedenfalls liege ich jetzt auf dem harten Boden –
- „...Melody puts me back on solid ground....“ –
röchelnd, das eine Bein unter dem anderen, vermutlich beide gebrochen. Ein kleiner Lichtstrahl scheint mir ins Gesicht und blendet mich. Es ist der einzige Lichtstrahl im ganzen Raum. Der restliche Raum ist dunkel wie die Nacht. Jedenfalls liege ich jetzt hier auf dem Boden, kann mich nicht bewegen, jedes Glied meines Körpers schmerzt.
Schritte. Näher kommend. Kalt hallen die Klänge von harten Schuhsohlen vom Boden wieder, das Echo verbreitet sich durch den ganzen Raum. Ich versuche aufzustehen, kann jedoch keinen einzigen Muskel bewegen. Jeder dieser Schritte lässt den Boden vibrieren, jede Vibration verursacht einen stechenden Schmerz in meinem Kopf. –
- „...Can you feel. Got to feel...“ –
Meine Zunge schmeckt metallisch.
„Na, wie fühlen wir uns denn heute?“
Die Visage. Ein gefährlicher Kerl. Wahrscheinlich.
„Du glaubst du bist tot?“
Ich würde jetzt nicken, wenn ich es könnte.
„Du glaubst, du wärst tot?“
„Warum glaubst du, du wärst tot?“
„Weil ich mich in der Hölle befinde? Weil ich nicht atme? Weil ich mich nicht erinnere?“
Zumindest würde ich das antworten, wenn ich sprechen könnte. So sage ich gar nichts. Ich kann gar nichts sagen.
„Weißt du, was tot bedeutet?“
Tot bedeutet, dass man nicht mehr lebt –
- „...Ah, ah, ah, ah, stayin‘ alive, ah, ah, ah, ah“
„Lebst du noch?“
Nein.
„Du lebst noch. Dann fürchte ich, kann ich leider nichts für dich tun!“
Nein, warte, bitte geh‘ nicht, bitte bleib‘, bitte hilf mir, bitte!!!
Ich kann mich nicht bewegen, ich liege am Boden, meine Füße sind gebrochen –
- „... I’m a survivor, I’m gonna make it...“
die Visage entfernt sich. Das Licht wird stärker, gleißender, intensiver, heller, ich bewege mich darauf zu, ich komme am Ende des Tunnels an, an dessen Ende befindet sich...

Tag X + 5:
...eine Diskothek. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Johnny. Ich bin der Sohn reicher Eltern und befinde mich hier in dieser Diskothek unter den verschwitzten Körpern von eifrigen Tänzern. Ich bin hier der Deejay, spiele Musik, flirte mit Girls. Mein Vater ist ein Arschloch. Aber er gibt mir Geld. Viel Geld.
Wofür brauche ich Geld?
Das hier sind meine Freunde, zum Beispiel Pat, Joe, Chris.
„Hey, Pat, wie geht’s dir?“
„Toll, Johnny, aber du wirkst überhaupt nicht stoned, wirf besser noch eine ein, ey?“
„Später Pat, später!“
Nun, wir alle benötigen so unsere gewisse Fluchtmöglichkeit, so einen Emergency Exit. Und was ist in der Disko am naheliegensten? Natürlich, wir kennen es, Sie kennen es, Pat kennt es. George C. Jung kennt es, der ist ja auch gerade im Kino. Und River Phoenix kennt es. Natürlich, Kurt Cobain nicht zu vergessen. Der Stoff aus dem die Träume sind. Packung auf, schon geschluckt.
„Hey Pat, das Zeug geht echt ab!“
„Ja Mann, warte nur, bis es anfängt zu wirken!“

Tag X:
Man könnte den Startpunkt einer jeden beliebigen Geschichte „X“ nennen. Da ich mich weder an die Zeit vor diesem Rattenloch, noch an den Umstand, der mich hierher brachte, erinnern kann, nenne ich den Beginn meiner Geschichte Tag X.
 
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Kommentare  

Ja, ich denke der Rauschzustand ist hier ein gutes surrealistisches Mittel. Aufbau und Sprache sind auch gut. Hat Spaß gemacht die Geschichte zu lesen. Weiter so! :)

Mes Calinum (11.09.2002)

mhh... wenn ich das richtig verstanden hab, dann ist das mit johnny die realität und das andere der rausch...(?)
Eindringlich erzählt und (zu recht) unsichtbar erhobener zeigefinger gegen drogen, würde ich sagen...
Wenn es damals schon die Sparte "experimentelles" gegeben hätte, würds da gut rein passen...
Lieben Gruß


*Becci* (06.09.2002)

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