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4 Seiten

îmmer schneller

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Sieh mal an, ein Vogel. Wie gemütlich er da sitzt. Schaut. Wartet. Sitzt.
Es ist zwei Uhr morgens. Eigentlich sollte ich schlafen, ich bin hundemüde. Heute gab es so viel zu tun und morgen wird es auch nicht besser werden, eher noch schlimmer.
Schaut er mich an? Es scheint fast so. Aber nein, das bilde ich mir nur ein.
„Tu dies, mach das, geh dahin, komm her!“ Immer das Selbe. Dabei könnte ich doch so viel mehr, wenn man mir nur die Chance und ein wenig Zeit gäbe. Zeit ist Geld und davon soll nichts verschwendet werden. Mit ein wenig mehr Zeit, ein wenig Geduld ihrerseits könnte ich mich in meinem Beruf voll entfalten.
Als hätte er mich gehört, beginnt der Vogel sich zu bewegen, breitet seine Flügel aus.
Nein, bitte, bleib noch! Aber schon hat er sich erhoben und fliegt davon. Einen Moment lang sehe ich ihm nach, dann ist er in der Dunkelheit verschwunden.
Ich muss hier raus!
In aller Eile schlüpfe ich in die Turnhose, die gerade auf dem Boden liegt. Eigentlich wollte ich sie vor dem schlafen gehen noch in die Wäsche tun, aber das hab ich dann vergessen. Weshalb hab ich es eigentlich vergessen? Ich überlege, während ich die Treppe runterstürme und fast über das noch nicht ganz hochgezogene Hosenbein stolpere...
Natürlich, mein Chef hat angerufen und gesagt, dass ich morgen eine Stunde früher hier sein soll, um die Unterlagen vorbeizubringen. Das hätte ich beinahe schon wieder vergessen.
Während ich nach dem Hausschlüssel suche, überlege ich mir, dass ich es eigentlich aufschreiben sollte, damit ich den Wecker stelle, aber eigentlich hab ich gar keine Lust dazu.
Hab ihn! Wie immer lag er unter den Tageszeitungen. Es sind fünf Stück. Naja, meistens weniger, den oft werden sie aus dem Briefkasten geklaut, aber eigentlich ist das was Gutes. Derjenige hat wenigstens die Zeit, sie zu lesen, ich komme meistens sowieso nicht dazu. Was heisst meistens? Nie!
Ich schliesse die Türe zu, lege den Schlüssel unter den Blumentopf (immer unter den rechten, nie unter den linken) und gehe die Einfahrt runter. Ein kurzer Blick zurück zeigt mir, dass ich das Licht brennen lassen habe. Ich sehe vor meinen Augen, wie der Zähler unten im Keller rast und überlege kurz nochmals, zurück zu gehen, aber meine Füsse wollen forwärts, und zwar so schnell wie möglich!
Ein schwarzer Schatten, kann es sein, dass... ach quatsch, er hat bestimmt nicht auf mich gewartet. Wieso auch? Der hat besseres zu tun, dem gehts gut. Wahrscheinlich ist er jetzt schon unterwegs in den Süden.
Süden... das ist es. Ich gehe schneller.
Ich gehe morgen früh nicht zur Arbeit. Ich stehe nicht wie jeden Tag auf, dusche, frühstücke kurz und renne, da ich wie immer zu spät bin, völlig gestresst auf den Bus (ein Auto kann ich mir von meinem Lohn nicht leisten, ich kann mir eigentlich schon diese Wohnung nicht leisten, aber irgendwo muss ich ja leben). Kündigung, das ist es!
Ich beginne zu rennen.
Es klingt wie ein Zauberwort. Kündigung. Ich gehe nach Süden, und werde Winzer. (Ich verstehe nicht mal was vom Wein Trinken, geschweige denn davon, ihn anzubauen, aber das ist egal.) Vielleicht kauf ich mir auch ein kleines Restaurant. (Von was?) Wenn ich alles, was ich auf dem Konto habe, nehmen würde...(würde das immer noch zu nichts reichen).
Ich ändere die Richtung, biege in eine Seitenstrasse ein, die direkt zur Hauptstrasse führt. Von Weitem sehe ich schon die Lichter, wie sie vorbeiflitzen. Gelbe Schweinwerfer, weisse Rücklichter, rote Bremslichter, wenn irgendwer merkt, dass er das Tempolimit schon längst überschritten hat oder eigentlich hätte abbiegen müssen oder einfach nur keinen Bock mehr hat auf diese ewige Raserei.
Ich gehe wieder langsamer (die Autos sind schnell genug für uns alle).
Ich könnte meine Sachen verkaufen, was brauch ich die schon im Süden? Ich könnte sie ja eh nie transportieren. Mal sehen, die Mirkowelle und der alte Fernseher. Das Radio müsste auch noch was bringen. Und meine Wildlederschuhe, die ich mal geschenkt bekommen habe. Nein, geht ja gar nicht, die habe ich schon vor einem halben Jahr versetzt.
Irgendwo quietschen Reifen.
Es klingt ein wenig wie der Schrei eines Raben.
Gelb, weiss, manchmal rot. Immer schneller werden die Lichter, ich scheine immer langsamer zu werden. Die Welt dreht sich zu schnell, ich kann mit ihr nicht mithalten.
Das werde ich tun, ich werde morgen früh nicht zur Arbeit gehen. Und falls mein Chef es sich erlauben würde anzurufen und zu fragen, warum ich nicht schon lange da sei und alle Unterlagen mitgebracht habe, dann sag ich ihm, wohin er sich seine blöden Unterlagen stecken kann. Genau das werd ich sagen!
Ich lache. Es gefällt mir, ich fühle mich gut.
Und dann werde ich zum Pfandleiher gehen und meine Sachen versetzen. Alles, bis auf ein paar Kleider. Und meinen Rucksack, den irgendwie muss ich die Kleider ja auch transportieren. Und zur Bank muss ich auch noch, sonst bringt das alles nichts.
Mir wird schwindlig... Gelb, weiss, manchmal rot.
und irgendwo zwitschert ein Vogel. Ein fröhliches Lied...Nein, wenn man ganz genau hinhört, bemerkt man erst, wie traurig es wirklich klingt. Oder ist das nur, weil es im Motorenlärm untergeht? Wieso beachtet niemand den Vogel? Hört ihm doch mal zu!
Und gleich nachdem ich zur Bank gegangen bin, werde ich... den Zug nehmen? Nein, dafür fehlt mir das Geld. Ich werde wohl per Autostop weiter müssen, aber das geht in Ordnung, Autos hat es ja genug! Und dann werde ich mir ein kleines Lokal kaufen oder auch was ganz anderes, das ist egal. Es wird sich alles ergeben, wenn ich erst mal da bin. Wenn ich wo bin? Italien? Frankreich? Spanien?
Wohin wohl der Vogel geflogen ist?
Und wohin fahren all diese Autos? Wohin verschwinden all die roten Rücklichter und welchem Ziel streben die gelben Schweinwerfer entgegen?
Egal, ich gehe dahin, wohin man mich mitnimmt. Alles ist besser als hier.
Ich stehe beinahe, laufe nicht mehr, stolpere nur noch ein wenig vorwärts. Hie und da ein Schritt. Ich muss aussehen wie ein Betrunkener.
Vögel können bis zu 5 Promille im Blut haben, ohne daran zu sterben. Der Alkohol der Vogelbeeren hält sie warm.
Warme Farben. Rot ist eine warme Farbe. Und gelb. Davon hat es hier ja genug. Aber sie scheinen nicht warm. Sie sind distanziert, kalt, fern von mir. Und immer, wenn ich sie fixiert habe, sind sie schon weg. Zu schnell, als dass ich mich auf sie einlassen könnte.
(Auf eine Farbe einlassen? Ich muss wirklich betrunken sein.)
Wer macht eigentlich, dass sich die Welt dreht? Und wieso muss er das so schnell machen? Hat der es etwa auch eilig? Und wieso muss sie sich überhaupt drehen? Es würde doch reichen, wenn sie einfach nur... da wäre. Einfach nur sein. Lasst mich sein, sein wie ich bin.
Der Vogel konnte sein, wie er wollte. Er konnte gehen, als er es wollte und ich habe ihn nicht aufhalten können. Er war frei...
...ich bin es nicht.
Ich wische mir über die Stirn. Sie ist feucht von Schweiss und das, obwohl es höchstens drei Grad sind und ich in Trunhose und T-Shirt mitten auf der Hauptstrasse dieses verschissenen Kaffs stehe, aus dem ich nicht weg kann!
Ich wusste von Anfang an, dass ich nichts ändern werde. Nicht heute. Nicht so überstürzt. Vielleicht, wenn ich es besser plane. Länger darüber nachdenken kann.
Das Vogelgezwitscher hat mich verwirrt
und die Lichter haben mich abgelenkt
Deswegen kam ich überhaupt auf diese Idee. Sie wollten mich dazu verführen.

Ich drehe mich um und gehe zurück.
Die Vögel zwitschern immer noch. Weit bist du ja nicht gekommen, scheinen sie zu singen. Sie lachen mich aus! Sie verhöhnen mich!
Und hinter mir verschwimmen gelb, weiss und rot zu einer lachenden Fratze.
Euch werd ich’s zeigen! Euch allen werd ich’s zeigen! Sobald ich soweit bin, wenn es Zeit ist, werde ich es tun.
Ich nehme den Schlüssel unter dem Blumentopf hervor (immer unter dem rechten, nie unter dem linken) und schliesse die Wohnung auf. Ich lösche als erstes das Licht, um den Zähler anzuhalten. Ziehe mich im Dunklen aus, lege die Turnhose oben wieder auf die Fliessen, wo ich sie fallen liess, als ich ans Telefon ging. Ich stelle den Wecker, (5/4 Stunden früher) damit ich auch ja nicht zu spät komme und schlafe ein, ohne irgendetwas an meinem Leben verändert zu haben.

Auf dem Fensterbrett sitzt zufrieden der schwarze Vogel, schaut, frisst eine Vogelbeere, erzählt vom Süden und hinter ihm geht rot leuchtend die Sonne auf.
 
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Kommentare  

Tip: Den fetten Hintern früher aus dem Bett hochbewegen und schon ist Ende mit Stress. Arbeiten müssen wir alle.
Welch krudes Gelalle eines absolut lustlosen Menschen. Schraub dich doch im Bett fest!


Rodrian (14.11.2004)

Oje - wirklich bedrückend, diese Geschichte. Finde mich gut in ihr wieder. Ist das überhaupt eine Geschichte? Oder nicht schon eher ein Hilfeschrei?
Tu dies, lass das, du musst, du sollst, deine Pflicht ist, wir erwarten... wir sind tatsächlich vom ersten bis zum letzten Atemzug von außen gesteuert und reglementiert. Ständig sind wir von Menschen umgeben... Menschen, die ihre Ansprüche an uns herantragen, uns mit ihren Erwartungen konfrontieren, Nützlichkeit, Verständnis, Rücksichtnahme erwarten. Aber nützt das Weglaufen? Wohin du auch gehst - die menschliche Natur nimmst du mit. Und auch die negative Art, mit dem, was ist, umzugehen.
Mir gefällt die Aussage der Geschichte sehr gut, vielleicht gerade WEIL sie so ausweglos ist und sich am Schluss gar nichts ändert. Sie fordert mich auf, keine Energie auf eine Flucht zu verschwenden, die eh nichts ändern würde - nicht zu jammern um das, was ist wie es ist und auch nicht geändert werden kann. Sondern vielmehr zu versuchen, mit meinen Möglichkeiten hier und jetzt versuchen, glücklich zu werden. Trotzdem. Nicht in der Welt, wie sie sein sollte, sondern in der Welt, wie sie nunmal ist.
Volle 5 Punkte


Gwenhwyfar (04.07.2002)

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