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Silvester-Fragment

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Zwei Kerle auf dem Dach. Um sie herum ein Meer aus Kuppeln und Giebeln, Antennen und Satellitenschüsseln. Zwischen den Häusern strahlt das Licht der Straßen herauf. Warten auf das Feuerwerk. Selbst haben sie nichts mitgebracht, der eine macht sich nichts daraus, der andere behauptet das zwar auch, fürchtet sich aber in Wirklichkeit vor dem Lärm.
"Es ist arschkalt.", sagt der andere unnötigerweise und dreht weiter seine Runden, blickt sich um, breitet seine Arme aus, verschränkt sie wieder, bleibt in Bewegung.
Der eine hat sich vorsichtig in den Liegestuhl gesetzt und starrt in den Sternenhimmel. Bald nimmt er die Mütze ab und lässt den leichten Wind durch seine Haare streifen.
"Und, hast du irgendwelche guten Vorsätze für das neue Jahr?", fragt der andere, weil hier oben die Stille der Nacht ihm alles noch kälter erscheinen lässt. Er geht neben dem einen in die Hocke und reibt die Handflächen aneinander, seine ledernen Handschuhe wärmen nicht, deshalb zieht er sie gar nicht erst an.
"Nein. Ich habe noch nie Vorsätze gemacht. Das hatte für mich nie besondere Bedeutung. Außerdem... wenn ich ehrlich bin, ist ein Jahr meines Lebens ohnehin immer von Phasen unterbrochen, wo ich vieles ändern will.", der eine setzt sich auf und wirft dem anderen ein kurzes Lächeln zu, "Zwar gelingt mir nie alles... aber ich denke ich habe schon viel mehr durchgezogen, als wenn ich einmal im Jahr, nur wegen Silvester, Vorsätze fassen würde."
"Aha."
Der eine lehnt sich wieder zurück.
"Ich halte ja eigentlich von allen Ritualen nicht besonders viel.", sagt er und denkt an das Leben.
"Ja, ich auch nicht.", sagt der andere und denkt an Feuerwerkskörper - und Bleigießen.
Dann steht er wieder auf, beobachtet ein paar Leute, die tief unten in Richtung Innenstadt wanderten. Er setzt sich auf eine Mauer und greift nach der Flasche. Doch sie ist natürlich eiskalt und so stellt er sie wieder zurück, wünscht sich etwas warmen Tee.
Eine lange Weile geschieht nicht viel. Die Zeit vergeht langsamer als sonst. Der andere wippt ein wenig, mit verschränkten Armen. Er ist ins Denken geraten. Und weil dies einer jener Momente ist, wo man außer stillem Denken und lautem Philosophieren nichts machen kann, nichts machen will, deshalb sagt er schließlich laut, was ihm in den Sinn gekommen war.
"Es ist schon komisch. Typisch, eigentlich. Ich habe wochenlang versucht, aus diesem Silvester etwas besonderes zu machen. Wie jedes Jahr. Ich wollte unbedingt etwas unternehmen. Mit vielen Leuten, Freunden, verstehst du? Mit Freunden aus dieser Nacht etwas besonderes machen. Naja, ist alles ins Wasser gefallen. Und hier, so ruhig und alleine auf diesem arschkalten Dach, da bin ich glücklich. Ich finde das echt schön."
"Tja, da bist du auf das Geheimnis des Jahreswechsels gestoßen. Die persönliche Wiedergeburt."
"Ja?", fragt der andere schmunzelnd.
"Ja. Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht. Sehen wir den Tatsachen doch ins Gesicht. Zu Silvester kann man nicht Fernsehen oder auf Partys gehen. Da schwingt immer ein Zweifel mit. 'Warum verbringe ich meine letzten Stunden dieses Jahres mit diesem Unfug. Könnte ich nichts wichtigeres tun. Ich vergeude einmalige, seltene Zeit.' Familie zu Silvester ist oft schwer zu ertragen. Je größer der Kreis, desto gezwungener wird alles. Mit Freunden kann es sehr gut gehen. Trotzdem wird es oft nicht so toll werden, wie man es gerne hätte. Weil die großen, einmaligen Erlebnisse mit Freunden sich ergeben und nicht nach dem Kalender zustande kommen. Was bleibt einem da noch?"
"Alleine sein."
"Ja, aber Einsamkeit ist nicht gleich Einsamkeit. Es gibt keine Zeit, die mehr von Ruhe, Nostalgie und Melancholie geprägt ist, als der Jahreswechsel. Wenn man nicht ohnehin eine Vorliebe für diese Stimmungen hat, kann man sie schwer vertragen. Und wenn man die üblichen Ablenkungen verweigert, kann man leicht Fehler machen. Ich selbst wusste nie etwas mit der vielen Freizeit in diesen Tagen anzufangen. Ich habe sie mit maßlosen Zeitvertreiben verbracht. Nächtelang vor dem Computer gesessen und nichts nützliches gemacht. Gegessen ohne zu Denken. Ich konnte nichts arbeiten, ich hatte keine Zeit mehr für Dinge, die mir an sich wichtig waren, weil mir die Kraft fehlte. Ich habe praktisch meinen Willen zum Leben, zu einem Leben wie ich es führen will, verloren. Ich hätte am liebsten bis ans Ende aller Tage gekotzt, mich von allem Übel, dem Gefühl der Nutzlosigkeit befreit. Also habe ich es getan."
"Gekotzt?"
"Ich habe mich geleert. Geistig und körperlich. Aber das ist keine negative Leere, kein Fehlen von Sinn. Es geht darum, so weit zurückzuschalten, dass man die Dinge wieder klar vor Augen hat."
"Das heißt ein lauter Silvester ist falsch?"
Der eine zuckt mit den Schultern.
"Falsch. Würde ich nicht sagen. Wer bin ich denn schon, darüber zu urteilen. Aber es wird nie das gleiche sein, wie wiedergeboren zu werden. Denn das ist die Schönheit, die du spürst. Sterben, kein trauriges, sondern ein zufriedenes, verdientes abschalten. Die Nebel, die du selbst gebildet hast lösen sich und du kannst als neuer Mensch in das nächste Jahr gehen. Das ist es, was Vorsätze schaffen versuchen, aber sie sind nur hastig aufgesetzte Richtlinien, keine wahren Veränderungen. Ich liege hier und genieße die Nacht und die Kälte. Erst wenn ich auf das geringste reduziert bin, kann ich morgen neu auferstehen. Als Teil der Masse zu feiern, das ist ein Teil. Aber Silvester muss wie alle Feste im Innern stattfinden, sonst findet es gar nicht statt. Und du bleibst auf ewig im gleichen Jahr, als gleicher Mensch, ohne Entwicklung gefangen."
Der andere denkt weiter nach.
"Hast du diese Rede jetzt völlig spontan gehalten?", fragt er, aber der eine winkt ab.
"Rede. Ich habe nur versucht, mit Worten, die dafür nicht geschaffen sind, zu beschreiben, was mir so alles durch den Kopf geht. Und wahrscheinlich habe ich auch versagt."
Später, als das Feuerwerk zögernd beginnt und dann schnell immer eindrucksvoller wird, öffnet der andere die Flasche, trinkt und wünscht vom Rande des Daches aus der Welt mit weit ausgebreiteten Armen ein frohes neues Jahr.
 
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Kommentare  

Eine der besten Definitionen von Silvester, die ich je gehört/gelesen habe.
Und das von einem, der angeblich keine Rituale mag..? Seltsam! Dabei krankt unsere Gesellschaft eigentlich eher daran, dass es uns an (sinngebenden) Ritualen mangelt.
Dieser Geschichte ist nichts hinzuzufügen.
Volle Fünfe.


Gwenhwyfar (07.01.2003)

philosophische gedanken zum jahreswechesl, die ich sehr schön fand zum lesen... eine schöne momentsaufnahme, macht einen selbst auch nachdenklich..........

*Becci* (04.01.2003)

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