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2 Seiten

Hunger!

Schauriges · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
"Da hinten. Da ist er... - Los, Männer. Schnell!"

"Ziannnnng!" Eine Kugel pfeift dicht an meinem Kopf vorbei, prallt ab von dem Stein, hinter den ich mich geduckt habe, und verschwindet als heulender Querschläger aus meinem Blickfeld, hinaus in die Nacht.

Ich ducke mich so tief ich kann in das Gras. Verdammter Vollmond. Bedecke meinen Mund mit beiden Händen. Diese Kälte, direkt aus den Eisschränken des Ostens, lässt meinen keuchenden, abgehackten Atem zu Schwaden gefrieren, die mich bei dieser Helligkeit augenblicklich verraten würden. Die Horde trampelt an mir vorbei, ich kann das Knirschen der gefrorenen Grashalme unter ihren Stiefeln hören, ihre Stimmen entfernen sich. Allen sichtbaren und unsichtbaren Mächten sei Dank. Noch tiefer ducke ich mich in den Schatten, den der Stein wirft. Am liebsten würde ich ihn mir wie eine Stola um die Schultern wickeln.

Ich zweifelte nicht daran, dass sie mich töten würden, wenn sie mich erwischten. Dabei hatte ich doch bloß Hunger. Ist es denn ein Verbrechen, hungrig zu sein? Ich habe mein ganzes Leben lang noch keiner lebenden Seele etwas angetan. Im Gegenteil. Wer ist es denn gewesen, der das Kind aus dem stillgelegten Abwasserkanal gezogen hat, in den sie beim Spielen hineingefallen war? Gerade mal zwei Wochen ist das her. Tot wäre die Kleine heute ohne mich! Die Götter allein mochten wissen, wann man sie gefunden hätte, so tief im Wald draußen. Wie lange hätte sie wohl überleben können, da unten, bei Temperaturen von minus neunzehn Grad Celsius?

Aber das alles zählt ja nicht.
Es zählt nur, dass man anders ist.
Dass man nicht ist wie sie.

Sie, denen es allein zusteht, satt und zufrieden zu sein und einen vollen Bauch zu haben, während ich für dieses Recht täglich neu kämpfen muss und gejagt werde wie ein Tier.

Weihnachten habe ich sie beobachten können. In ihren Kneipen, ihren Restaurants, beim festlich gedeckten Tisch, als Vorspeise vollmundige Reden von Toleranz, von Nächstenliebe und darüber, dass man gerade zur Weihnachtszeit Vorurteile überwinden und dem anderen die Hand reichen solle. Geklatscht haben sie, und Hurra gebrüllt, und dann haben sie ihre Zähne in Gänsekeulen geschlagen! Stellt euch vor, sie töten Tiere, nur damit sie sie essen können. Würde unsereiner das etwas tun?

Keinen einzigen hat es geschert, dass da jemand um ihre Häuser schleicht, mit hohlem Magen und vor Schwäche zitternden Knien. Jemand, der vor Hunger nicht mehr aus noch ein weiß. Den Schädel hätten sie mir eingeschlagen, hätte mich in jener Nacht einer von ihnen gesehen, mit dem ersten besten Pflasterstein. Gutmenschen! Moralapostel!

Will ich denn wirklich zuviel vom Leben? Was denn? Ein paar Abfälle nur, herabfallende Brocken vom Tisch der menschlichen Gesellschaft. Abfälle, die keiner nach ihrer Entsorgung mehr eines Blickes würdigt - die es mir aber erlauben, mein Dasein zu fristen. Ein bisschen Fleisch, oft schon am Verfaulen - Fleisch, das nicht mehr gebraucht wird...

Vorsichtig schiebe ich die Schultern aus dem Schutz des Schattens und luge um den Stein herum.

Böser Fehler!

Diesmal macht die Kugel nicht "Zziannnnng", sondern "plopp!" Ein dumpfer, pochender Laut, der dadurch verursacht wird, dass sie in meinen Brustkorb einfährt wie ein heißes Messer in Butter. Ich werde zurückgeschleudert in das hohe Gras, kann noch die Aufschrift auf dem Grabstein erkennen, hinter dem ich mich die ganze Zeit versteckt gehalten habe, ehe sich mein ganzes Blickfeld rot färbt und zu kreisen beginnt. Ein riesiger Schatten fällt über mich, eine Stiefelspitze wird unsanft in meine Rippen gerammt.
" Dreckiger Scheiß-Leichenfresser", grollt eine Stimme an mein Ohr.

Ja, auch heute noch wird man leicht Opfer von Diskreminierungen. Zumindest, wenn man, wie ich, ein Ghoul ist...
 
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Kommentare  

Jetzt hab ich endlich raus gefunden, wer Gwen.. ist (*grins*)
Hast mich ganz schön veräppelt, dachte niemals an einen Ghoul! Klasse!


Amazone (11.05.2003)

Du hast ein Händchen für überraschende Enden! Ich hätte niemals im Leben mit einem Ghoul gerechnet! Tolle Geschichte, die fünf Punkte wert ist.

Metevelis (19.02.2003)

Wow!
Ich dachte zuerst an einen Gammler, dann eine eine Art Frankenstein, entstellt von Geburt an und dann kommst du mir mit einem Leichenfresser.
Super!
Besonders hat mir diese Beschreibung gefallen:

Noch tiefer ducke ich mich in den Schatten, den der Stein wirft. Am liebsten würde ich ihn mir wie eine Stola um die Schultern wickeln.

Tolles Bild!
5 Punkte


Drachenlord (19.02.2003)

Zuerst dachte ich: "Das ist ein Hund!" Aber Hunde können sich nicht die Hände vor den Mund halten. Also musste ich fingernagelknabbernd bis zum mehr als überraschenden Schluss durchhalten.
Interessant aufgebaut. Mit einem Ghoul hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Hast mich prima reingelegt.
5PTS


Stefan Steinmetz (19.02.2003)

Hallo Ihrs,
danke für die netten Kommentare.

@*Becci*: Ein Ghoul ist ein leichenfressender Dämon, der aber nichts Lebendes tötet, sondern sich ausschließlich von menschlichem Aas ernährt. Er lebt auf Friedhöfen unter der Erde und buddelt sich nächstens zwecks Nahrungssuche Tunnel von Grab zu Grab. Als mythische Figur ebenso bekannt wie Vampir und Werwolf.

@NewWolz: Tja, die Verarsche. Da habe ich doch jemanden kopiert, bei dem ich diese Idee immer besonders toll fand - rate mal, wen *gg*? Wenn ich mir meine Punkteausbeute ab jetzt so ansehe, hat das auch gut geklappt. Meinem von nichts wissenden Lehrmeister sei Dank...

@Chris: Ja, es sind auch ein paar satirische Untertöne drin. Habe mir echt überlegt, ob ich die Story nicht auch unter "Humor" bzw. "Satire" posten soll und freue mich, dass die Message auch so 'rübergekommen ist.
Ganz davon ab, dass es keine Ghoule gibt, und gesetzt den Fall, es GÄBE sie: Ghoule schaden niemandem. Sie töten nicht, und sie greifen keinen an. Ihr einziges "Verbrechen" ist eine Lebensführung, die wir Normalmenschen als ekelhaft, widerwärtig und abstoßend empfinden. Gäbe es sie, wie würden wir mit ihnen umgehen? Man kann statt Ghoul auch Außerirdische oder andere "Randgruppen" einsetzen: Was der Mensch nicht kennt oder nicht nachvollziehen kann, das fürchtet er. Und was er fürchtet, das zerstört er. Was wiederum anzeigt, dass wir, trotz allem Gerede von Menschenwürde und Toleranz, noch nicht allzu weit von dem Affen entfernt sind, aus dem wir uns einst entwickelt haben.
Freue mich, dass Du das erkannt hast.


Gwenhwyfar (19.02.2003)

Hatte die ganze Zeit einen Bettler mit zerlumpten Mantel vor meinen Augen.
Tja, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt....
5 Punkte für die Verarsche


NewWolz (18.02.2003)

oups... da hab ich was nich verstanden... was ist ein Ghoul? Ein Mensch? Der Leichen frisst? ähh ich glaub da fehlt ein gewisser anstubbser zum "aha"-erlebnis... mail?

*Becci* (18.02.2003)

Hi!
Zuerst habe ich an einen Wolf oder etwas ähnliches gedacht. Die Geschichte gefällt mir. Die Idee ist sicherlich nicht so neu, aber sehr schön umgesetzt. Ich schätze mal, du willst damit jenen Leuten einen Spiegel vorsetzen, die viel von Toleranz reden, sie dann aber praktisch nicht umsetzen. Und leider sind das die meisten Menschen, die ich kenne, und ich kann mich auch selbst nicht immer ausnehmen. Zumindest wüsste ich nicht, wie ich mich einem Ghoul gegenüber verhalten würde. *g*


Christian (18.02.2003)

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