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3 Seiten

Das Glasauge

Fantastisches · Kurzgeschichten
© Jasmin
Mein Vater war ein sehr strenger Mann. Seit meine Mutter unter mysteriösen Umständen gestorben war, lebten mein Vater und ich in einer kleinen, dunklen Mansardenwohnung, mit Fenstern, aus denen man nicht hinausschauen konnte, wenn man auf dem Sofa oder einem Stuhl saß.

Die rosa Jugendstilvilla hatte meine Mutter testamentarisch ihrem heimlichen Geliebten vermacht, zu unserem Entsetzen, so lebten wir fortan zur Untermiete.
Morgens um sechs stand mein Vater werktags auf, feuerte den Ölofen an und kochte Kaffee. Allein frühstückte er in unserer winzigen Küche und las dabei in der Zeitung. Dann spülte er das Frühstücksgeschirr ab, nahm seinen Hut und ging.
Aber, bevor er ging, legte er sein Glasauge ab. Er griff nach seinem blauen Glasauge und entfernte es aus seiner Augenhöhle, wie eine Praline aus der Pralinenschachtel.
Zurück blieb die stumpfe, leere Augenhöhle, ein kleines, gähnendes Loch.
Mein Vater legte das Glasauge auf den Küchentisch und ging.
Jeden Morgen, seitdem meine Mutter uns für immer verlassen hatte.
Das Glasauge meines Vaters verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Es ließ mich sofort aufstehen, wenn mein Vater gegangen war, vielleicht auch aus einem Schuldgefühl heraus. Es verfolgte mich ins Bad und wenn ich mich auf die Toilette setzte, schämte ich mich jedes Mal.
Aber so sehr ich auch versuchte, dem Blick des Glasauges zu entkommen, es ging nicht. Das Glasauge schwebte in eine Ecke, gegenüber der Toilette, über der Badewanne und glotzte mich an, wie das Auge einer Kaufhauskamera.
Als das mit dem Glasauge angefangen hatte, war es sehr schlimm gewesen. Ich konnte anfangs kein Wasser lassen mit dem Glasauge mir gegenüber und deswegen machte ich in die Hose, was auch schlimm genug war. Später gewöhnte ich mich aber daran.
Sehr unangenehm war auch das Duschen und Baden, besonders das Waschen meines Geschlechts war äußerst peinlich.
Aber auch sonst konnte ich nichts ohne den Blick des Glasauges verrichten.
Naschte ich zwanghaft Salami aus dem Kühlschrank, trank ich Bier aus der Flasche – und das bereits vormittags – das Glasauge sah alles.
Abends kam mein Vater gegen halb sechs von der Arbeit heim. Sobald ich den Schlüssel im Schloss hörte, krampften sich Herz und Magen zusammen.
Mein Vater gab mir einen unpersönlichen Kuss auf die Wange, guten Abend, Kind. Was hast du den ganzen Tag gemacht?
Ich habe gestrickt und gehäkelt, antwortete ich leise mit roten Wangen.
Mein Vater ging zum Küchentisch, nahm das Glasauge und setzte es wieder in die leere Augenhöhle ein, wie ein Monokel. Dann nahm er ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich damit schweigend an den Küchentisch.
Nun übertrug das Glasauge Daten an das Gehirn meines Vaters. Daten, die es tagsüber gespeichert hatte. Während mein Vater sein Bier trank, lief der Film vor seinem Auge ab.
Mein Vater färbte sich plötzlich rot, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und brüllte:
„Du Miststück, du lügst! Du hast weder gestrickt, noch gehäkelt. Ferngesehen hast du! Den ganzen Tag lang und Salami gefressen aus dem Wurstpapier, obwohl ich dir das verboten habe!“
Mein Vater war inzwischen krebsrot, Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, er wischte sich schnaubend mit dem Handrücken über den schmalen Mund.
Mein Herz klopfte stark und unregelmäßig.
„Wenn du mich noch einmal anlügst, dann kannst du etwas erleben!“

Seit zwei Jahren und drei Monaten war ich hier in dieser Wohnung eingesperrt. Tagaus, tagein. Tag und Nacht. Einkäufe machte mein Vater jeden Samstag für die ganze Woche. Frische Sachen gab es nur am Wochenende. Unter der Woche nur Dosen und Tiefkühlkost, Nudeln und Reis.
Einmal war ich krank, da hat mein Vater den Arzt zu uns nach Hause kommen lassen. Beim Zahnarzt war ich lange nicht, hatte zum Glück auch keine Zahnschmerzen.

Das tote Glasauge glotzt mich an, während mein Vater ausholt und mir eine Ohrfeige gibt. Meine linke Wange brennt wie Feuer, tausend Nadeln pieksen, stechen mich ins Fleisch.
Ich spüre etwas in mir hoch kochen, langsam schäumt etwas aus mir heraus.
Mit ruhigen Bewegungen stehe ich auf und greife nach dem Glasauge meines Vaters. Ganz leicht lässt es sich herauslösen, wie ein Druckknopf. Schlafwandlerisch nehme ich das Auge in meine Hand, es fühlt sich kalt und hart an.
Lächelnd öffne ich das Dachfenster in der Küche und werfe das blaue Glasauge in den Himmel.
Nach ein paar Augenblicken fällt es auf die Dachziegel mit einem klickenden Geräusch und kullert in die Dachrinne.
Mein Vater zittert und bebt, geschüttelt von meiner Unverschämtheit. Fassungslos starrt mich sein lebendiges Auge an. Er möchte reden, aber er kann nur stottern.
„Da... da. das ist...“
Wie eine befreite Geisel stürze ich aus der Wohnung in das kühle Treppenhaus.
 
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Kommentare  

Die Idee ist nicht schlecht, aber was willst du damit sagen?
Was hat es denn mit dem Auge nun auf sich und warum reagiert das Opfer erst so spät?
Da fehlt mir so einiges, reicht nur für knappe drei Punkte.


Drachenlord (15.11.2002)

Boh.....coole Story. Das ist ja ´ne saugute Idee mit dem Glasauge, und den Daten usw.
Auch hier, schade daß die Geschichte so kurz ist.
Ich fühlte mich prächtig unterhalten.


Oliver (14.10.2002)

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