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6 Seiten

Das Baby

Trauriges · Kurzgeschichten
© Jasmin
Vor einiger Zeit bekam meine kleine Schwester Beverley ein Baby. Das Baby war rosig und rund und lächelte die ganze Zeit von Anfang an. Zumindest glaubten das meine Mutter und mein Vater.

Ach, ist es nicht süß, Vater, sagte meine Mutter andächtig und klatschte dabei in die Hände. Ihr Gesicht verklärte sich vor Verzückung.
Mein Vater nickte und schluckte trocken. Eine Träne kullerte über seine eingefallene rechte Wange, rollte den Hals hinunter in seinen Hemdkragen.
Ein wunderbares Kind, murmelte er immer wieder vor sich hin. Ein wunderbares Kind.

Er seufzte laut und schlurfte in die Küche. Die Hose rutschte herunter. Der Bund seiner weißen Unterhose und der Ansatz seines Hinterns waren zu sehen. Er holte die Cognacflasche aus dem Küchenschrank, goss ein Saftglas voll, nahm das Glas und schlurfte wieder auf die Terrasse.
In großen Schlucken leerte er allmählich das Glas und sagte dabei immer weiter, ein wunderbares Kind, ein wunderbares Kind.

Dann schlurfte er wieder in die Küche und holte sich ein zweites Glas Cognac. Meine Mutter gähnte laut.
Mutter, willst du etwas trinken, rief er.
Ich will Wein, rief meine Mutter.
Er kam mit zwei Gläsern zurück. Die Katze kam und rieb sich an seinem Schienbein.
Hau ab, sagte er, schüttelte die Katze ab und stieß sie mit dem Fuß weg.

Kimberley, willst du nicht auch ein Baby? Es wird doch langsam Zeit, sagte meine Mutter.
Sie sah mich an, ihre schwarzen Augenbrauen näherten sich einander und zwei tiefe Falten bildeten sich um ihre Nasenwurzel.
Wie lange willst du noch warten, sagte sie.
Eine Fliege kroch das Weinglas meiner Mutter hoch, auf seinen Rand. Meine Mutter bemerkte die Fliege nicht.
Ich sagte nichts.
Bald kannst du keine Kinder mehr bekommen, sagte sie.

Mein Vater fragte, oder kann Antonio keine Kinder zeugen und klopfte sich auf den Schenkel, lachte wie ein Bierkutscher, wobei er husten musste. Das Husten hörte sich krank an. Er spuckte den Hustenschleim aus. Auf die Fliesen. Ein kleiner, feuchter, grüngelber Fleck.

Ich trank mein Weinglas leer und dachte fest nach, was ich darauf antworten könnte. Mir fiel nichts ein. Außer, ihr könnt mich mal. Aber das konnte ich nicht sagen. Ich strich meinen Rock glatt. Immer wieder strich ich ihn glatt. Ich griff nach der Weinflasche und schenkte mein Weinglas voll.
Das gehört sich nicht, sagte mein Vater und grinste mit erhobenem Zeigefinger.
Eine Dame schenkt sich nicht selbst Wein ein, sagte er.
Ich bin keine Dame, dachte ich.

Ach Vater, lass doch das Kind in Ruhe. Wenn sie nicht will, sagte meine Mutter.
Ich betrachtete die Pinie neben mir, so als ob sie plötzlich da hingewachsen wäre. Ganz aufmerksam betrachtete ich die Ameisen, die den knorrigen Stamm auf und ab liefen und ich sagte störrisch, was wollt ihr überhaupt, ihr habt jetzt Beverleys Baby, das müsste doch reichen.
Aber nein Kim, sagte mein Vater, wir wollen auch eins von dir. Deins wird sicher auch sehr schön.
Er leerte das halbvolle Glas mit einem Zug und gab einen kehligen Laut von sich.

Die Fliege landete auf der roten, glänzenden Glatze meines Vaters, in der Mitte des weißen Haarkranzes, groß und fett und begann auf der glatten Fläche herumzukrabbeln.
Mein Vater spürte etwas und klatschte mit der flachen Hand darauf. Er blickte auf seine Hand. Darauf lag die Fliege, rotschwarz, breiig, ein Flügel bewegte sich noch. Er ließ sie auf den Boden gleiten und gab ihr den Gnadentritt, indem er sie gründlich mit dem Absatz seines Schuhs zerrieb.
Ein kleiner, blutiger Flügelklumpen blieb auf den weißen Fliesen liegen.

Meine Mutter sagte, Vater, das ist ja widerlich, was du da gemacht hast. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse des Ekels.
Mach das sofort mit Papier weg, sagte sie.
Mein Vater ging in die Küche, riss Papier von der Küchenrolle ab und goss sich sein Glas wieder voll Cognac.
Er kam auf die Terrasse, bückte sich und entfernte ächzend den Fliegenklecks.
Dann nahm er einen großen Schluck Cognac.

Ich blickte in die weißen Federwolken über mir, die mit dem Wind schnell vorbeisegelten und sagte farblos, ich muss jetzt gehen.
Was, sie will schon gehen, sagte mein Vater mit gespielter Entrüstung zu meiner Mutter.
Meine Mutter hatte sich in ihrem Plastiksessel so weit vorgeschoben, dass sie halb darin lag, die Beine von sich gestreckt wie ein dicker Käfer, die Augen geschlossen, Richtung Sonne.

Lass sie doch, wenn sie gehen will, sagte sie ohne ihre Haltung zu verändern, die Augen weiter geschlossen.
Ich stand auf. Mein Vater stand auch auf, um mich zu meinem Auto zu begleiten. Meine Mutter blieb sitzen.
Machs gut, rief sie mir hinterher ohne sich zu bewegen.
Also, überleg es dir noch mal, sagte mein Vater.
Was soll ich überlegen, fragte ich.
Na ja, mit dem Kinderkriegen, sagte er.
Ich werde es Antonio ausrichten, antwortete ich und lachte.

Ich fuhr die Landstraße entlang und blinzelte in die Abendsonne. Ich drehte das Autoradio ganz laut auf. Sympathy for the devil. Wer ist hier der Teufel, dachte ich und überholte. Ein Auto kam mir entgegen. Der Fahrer streckte mir seine geöffnete Handfläche entgegen.

Eines Tages spürte ich Schmerzen im Bauch. Es waren eigenartige, unbekannte Schmerzen, es zog und zerrte, kam und ging. Ich bekam Angst. Ich rief ein Taxi und fuhr ins nächste Krankenhaus.

Unterwegs haute der Taxifahrer immer wieder mit der rechten Faust auf die Hupe am Lenkrad, fluchte, gebrauchte Ausdrücke, die ich nicht wiederholen möchte, fuchtelte mit der linken Hand aus dem Fenster, zeigte ab und zu den Mittelfinger, überholte im Überholverbot und fuhr mit Schwung in jedes Schlagloch. Das alte Taxiradio spielte Schlager, so laut, dass der Ton sich überschlug und ein verzerrtes Geplärre zu hören war. Es war brütend heiß, der Asphalt flirrte, meine Haare klebten um den Kopf herum und der Fahrer roch nach altem Schweiß und Knoblauch. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, kamen und gingen, wurden schlimmer.

Im Krankenhaus war es sauber und kühl. Ein Arzt im Greisenalter, mit brauner, faltiger Lederhaut, quälte seine knochige Hand in einen Gummihandschuh. Es roch nach Desinfektionsmitteln und der Raum hatte keine Fenster.
Machen Sie sich unten frei und legen Sie sich auf den Stuhl hier, sagte er mit einer alten, heiseren Stimme.
Sein gelbes, schmales Gebiss erinnerte mich an das Gebiss eines Pferdes.

Ich ging hinter einen dünnen Vorhang und zog meine Hose und meine Unterhose aus. Ich hörte den Arzt mit seinem Stuhl herumrollen und laut Besteck aus einer Schublade holen.
Ich zog den Vorhang zurück und blieb in meinen weißen Baumwollsocken stehen. Mein kurzes Hemd zog ich mit beiden Händen an meinem Körper herunter, um meine Scham zu verdecken. Dabei spürte ich, wie mein Hintern frei wurde. Ich verkreuzte meine Beine und stellte den einen Fuß auf den anderen.

Die wie durch eine Lupe vergrößerten Augen hinter der Hornbrille hefteten sich an meine braunen Oberschenkel.
Legen Sie sich hier hin und machen Sie die Beine breit, sagte er.
Ich musste die Füße in metallene Steigbügel stecken.
Rutschen Sie noch weiter vor, sagte er.
Ich rutschte vor und legte beide Hände schützend über meinen Bauch.

Er steckte einen seiner Finger ganz tief hinein. Ich versuchte herauszufinden, ob es der Mittelfinger oder der Zeigefinger war. Wahrscheinlich war es der Mittelfinger. Einen anderen Finger spürte ich irgendwo auf dem Venushügel. Er sagte zu einer kleinen, dicken Schwester, holen Sie schnell den Narkosearzt.

Der Narkosearzt kam und tätschelte mein Bein. Er trug ein hellgrünes Operationshemd, eine runde Nickelbrille und stieß mir eine Hohlnadel in den Handrücken.
Es wird alles wieder gut, sagte er und ich wusste nicht, was er damit meinte. Ich wollte ihn fragen, aber er gab mir eine Spritze durch die Hohlnadel. Ich kippte weg, schlief ein, ganz schnell.


Als ich aufwachte, lag ich allein in einem hellen Zimmer.
Eine Krankenschwester mit eisblauen Augen und blonder Turmfrisur kam herein und beugte sich über mein Gesicht. Ich spürte ihren Atem. Er roch nach viel Nikotin.
Sie sagte, gratuliere, Sie haben ein Mädchen bekommen.
Was meinen Sie damit, fragte ich.
Einen Augenblick, sagte sie.


Die Schwester machte die Tür auf und rollte ein Glasbettchen auf vier Rädern neben mein Bett. In dem Bettchen lag ein Baby. Es war winzigklein und schön und lächelte. Ich nahm es in den Arm und sah, es hatte zwei Hände, an jeder Hand fünf Finger und zwei Füße, an jedem Fuß fünf Zehen. Auf seinem Kopf waren viele braune Haare. Es schien gesund, völlig gesund und ich freute mich.

Ich wunderte mich aber, weil ich eigentlich gar nicht schwanger gewesen war. Ich meine, dass ich die Schwangerschaft nicht bemerkt hatte. Natürlich war mein Bauch runder als sonst in letzter Zeit, aber das kam doch vom vielen Bier. Beverleys Bauch war viel dicker gewesen, bestimmt dreimal so dick. Zum Schluss hatte sie ihren Bauch wie eine verkehrte, zweibeinige Schildkröte mit sich herumgetragen. Nicht mal ins Auto hat sie gepasst.

Ich hatte auch immer Blut zwischendurch gehabt, immer wieder und nie mich übergeben müssen. Beverley hatte die erste Zeit immer erbrechen müssen. Sie hatte Unmengen von Schokolade und Pfeffersalami zu sich genommen und danach auf dem Klo wieder von sich gegeben.
Auch habe ich keine sauren Gurken und Gummibärchen in mich hineingestopft wie damals vor vielen Jahren, als ich zum ersten und letzten Mal schwanger gewesen bin.

Und mein Gesicht, es hat nie gestrahlt, war nie schöner als sonst. Beverleys Gesicht hingegen war aufgeblüht. Ihre Haut war straff geworden und ihre Augen hatten geglänzt.
Schwangere Frauen sind schön, hatte mein Vater gesagt.

Der braune Greis kam herein.
Wie geht es uns denn, fragte er und gab der blauäugigen Schwester einen Klaps auf ihren breiten, wabbeligen Hintern, als diese sich bückte und eine Packung Riesenbinden für mich in eine Schublade legte.
Aber Herr Doktor, was machen Sie denn für Sachen, sagte die Schwester und lachte, dass der Turm auf ihrem Kopf nur so wackelte.

Meine Schwester Beverley kam abends mit ihrem Baby.
Sie ließ ihren Kinderwagen stehen, stellte sich neben das Glasbettchen, das Becken vorgeschoben, die Arme vor der Brust verschränkt und sagte nichts.

Dann verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken, bückte sich und schaute mein Baby an. Mein Baby saugte an meiner Brust, es kam noch keine Milch heraus, aber es saugte und saugte.

Sie beugte sich quer über das Bett und prüfte ernsthaft seine Augen. Sie ging zu ihrem Kinderwagen, nahm ihr Kind heraus, kam zurück und hielt ihr eigenes Kind neben mein Kind. Sie betrachtete mal ihr Baby, mal meins, wie ein Gutachter. Ihr Gesicht war dabei verschlossen, konzentriert, der Mund noch schmaler als sonst, die Augen zusammengekniffen, zwei kleine Chinesenschlitze. Ich spürte Neid, der mir ins Gesicht schlug, wie der heiße, stinkende Atem eines Drachen.

Es hat braune Augen, stellte Beverley fest.
Sie schwieg und setzte sich mit ihrem Baby auf einen Stuhl neben dem Fenster. Sie legte den Bauch des Babys an ihre Brust und wiegte ihren Körper hin und her. Dabei summte sie, schlaf Kindchen schlaf.
Ich lächelte und sagte nichts. Mein Baby ist viel schöner, dachte ich.

Meine Mutter kam mit einem Strauß rosa Rosen und Schleierkraut zur Tür herein. Sie trug ein schwarzes Kleid mit großen, weißen Margeriten und setzte sich auf den Stuhl neben Beverley.
Dein Baby ist zu dünn, sagte sie. Beverleys Baby hatte über acht Pfund bei der Geburt gewogen, sagte sie.

Ich schaute aus dem Fenster in den rötlichen Himmel über den Bergen. Ein Flugzeug flog vorbei. Das Zimmer war im achten Stock.
Mein Baby wog nur knapp sechs Pfund. Das machte mich ein wenig traurig, vielleicht lag es am Bier und am Rum, dass es dünn ist, dachte ich. Aber dann verwarf ich schnell den Gedanken, denn ich wusste, Alkohol macht dick. Hoffentlich ist das Gehirn meines Babys in Ordnung, dachte ich.

Meine Mutter sagte, dein Baby ist eine Frühgeburt, es ist zwei Monate zu früh gekommen.
Sie war aufgestanden und zupfte an meinem Kissen herum und mein Baby heulte kurz auf. Sie ging hinaus, um eine Blumenvase zu holen.
Woher will sie das wissen, dachte ich.
Ich schaute mein Baby an, es war so schön und lächelte wieder und es war uns auch egal. Wir waren glücklich, mein Baby und ich.

Später kam Antonio. Er hatte keine Blumen dabei, nur den rosa Börsenteil der Zeitung in der Hand. Er betrachtete das Baby ungläubig und sagte, das ist nicht von mir, das ist ja wohl klar.
Er setzte sich auf einen Stuhl, gegenüber von meinem Bett und fächerte sich mit der rosa Zeitung Luft zu.
Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.
Dann begann er, in der Zeitung zu lesen.
Ich sagte, das stimmt, es ist nicht von dir, es ist von mir, es ist mein Baby. Siehst du nicht, dass es genauso aussieht wie ich?




 
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Kommentare  

Da stimme ich Middel zu! Habe die Geschichte gestern auch gelesen.

Kleine Meerjungfrau (27.03.2007)

Sehr düster. Sehr melancholisch. Gerade die Sicht der erzählenden Person, in den knappen, subjektiven Sätzen hat irgendwas trauriges, aussparendes ... interessant.

Middel (29.12.2005)

"Es hat braune Augen, stellte Beverley fest."
--> dazu kann ich nur sagen, alle babys haben blaue augen!!! ;o)

etwas sehr seltsame story...


bex (04.06.2003)

Nach der Einleitung habe ich ehrlich gesagt etwas anderes erwartet ... ich will nicht behaupten, die Geschichte sei schlecht, aber sie ist langweilig. Und den Ausdruck "Chinesenschlitze" finde uch unangebracht und nicht wirklich prickelnd. Ich spare mir eine Punktevergabe - vielleicht ist es ja einfach eine Geschmackssache...

Maegumi (24.01.2002)

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