261


21 Seiten

fisteip - teil 5

Romane/Serien · Spannendes
Tommy traf sich mit Deputy Douglas Ford, der die Karten für das Auswärtsspiel der Bobcats in Bangor besorgt hatte. Im Polizeigebäude versuchte er, Blake aus dem Weg zu gehen. Er wusste nicht, wie sich die Sache mit David entwickelt hatte, außer, dass sie David laufengelassen hatten, und Blake war sich für dumme Sprüche nie zu schade. Er trug seine Freizeitklamotten, in denen er weniger muskulös als dick aussah. Lea sagte, wenn sie ihn in Sweater und in der alten Cordhose sah, die an seinem Hintern schlabberte, würde sie sich wünschen, er trüge auch in seiner Freizeit die Uniform.
Douglas und er gingen ins Ricci’s Diner, bei dem Tommy am liebsten die Cheeseburger aß, obwohl er von dem Scheibenkäse immer sagte, dass er weder aussah noch schmeckte wie Käse. Ihm war auch so eine Sache wie Käse aus einer Sprühflasche sehr suspekt, aber das meiste in Ricci’s fand seine Zustimmung. American Diners fand er klasse. Zu Hause hatte es im nächsten Viertel einen McDonalds gegeben, aber dort war das Essen nicht wirklich gut gewesen und die Küche hatte immer den Eindruck gemacht, als sei es dort nicht wirklich sauber. Und da der Laden im protestantischen Viertel lag und von Protestanten geführt wurde, waren sie dort nur ein oder zwei Mal essen gewesen.
Tommy und Douglas setzten sich an einen der kleinen knallroten Tische, orderten Cheeseburger, Fries, Kohlsalat, einen halben Liter Bier und Rootbeer. Douglas hatte zwar den Wagen um der Ecke stehen, aber er konnte auch zu Fuß nach Hause gehen, wenn er mehr trinken würde, was er allerdings noch nicht vor hatte. Tommy hätte vor dem Essen gerne eine Zigarette geraucht, aber in einem Restaurant konnte er das vergessen. Er sagte nichts, aber wenn er sich stumm seine Taschen abtastete und sich auf dem Tisch nach etwas umsah, was nicht da war, war es offensichtlich.
„Du könntest es mit Kaugummi probieren“, sagte Douglas, der Tommys Problem gut kannte, es aber vermied, ihm Vorträge zu halten.
„Ich will das Nikotin einatmen, nicht drauf herumkauen“, erwiderte Tommy gut gelaunt, „aber ich glaube, in ein paar Jahren wird mir ein Gesetz auch schon das Rauchen im eigenen Haus verbieten.“
„So weit kommt’s noch.“
Sie waren schnell gute Freunde geworden obwohl es nach außen nicht immer so aussah; sie hatten grundverschiedene Lebensauffassungen und Einstellungen, aber sie mochten beide spontane Aktionen und hatten bald festgestellt, dass sie den gleichen Sinn für Humor hatten. Sympathie ließ sich nicht immer erklären. Douglas kannte einige seiner Kollegen und Bekannte, die auf seine trockenen Kommentare nur mit Unverständnis reagierten. Er glaubte, dass die meisten es sehr wohl verstanden, aber geistig nicht in der Lage waren, darauf spontan zu reagieren. Vielleicht versuchten sie es ja später heimlich für sich allein mit dem Lachen.
„Wir sind heute zu einem Farmer gerufen worden“, sagte Douglas, „dem sind die Rindviecher ausgebrochen und er hat es nicht geschafft, sie von der Straße wegzuhalten. Was für ein chaotischer Einsatz. Wir haben sie mit Hängen und Würgen von der Straße runter bekommen, ohne dass irgendjemand zu Schaden kam und dann konnten wir sie auf die Weide zurücktreiben. Es waren Galloways, diese kleinen Rotbraunen mit den großen Augen. Der Farmer kommt von der Straße zurück, sieht uns an und sagt, dass sie eigentlich auf die andere Weide sollten. Da erst sehen wir, dass da noch ein Weidentor offen steht. Burke ist fast aus der Uniform gesprungen. Der Farmer kratzt sich das Kinn und murmelt, es sei nicht so schlimm, sie könnten auch da bleiben, wo sie waren, vorausgesetzt, einer von uns habe das Tor zugemacht. Wir stehen genau davor, ich zeige drauf und sage sehr höflich: ‚Das Tor ist ganz sicher geschlossen, Sir.’ Und er kratzt noch immer mit diesem insektenartigen Geräusch an seinem Stoppelkinn und sagt: ‚Das seh ich. Ich rede von dem Tor auf der anderen Seite der Weide.’ Wir kriechen durch den Zaun, rennen den flachen Hügel hoch und sehen gerade noch, wie die letzte Kuh hüftschwingend aus dem offenen Tor verschwindet. Ganz gemütlich. Und in Richtung Landstraße nach Richmond.“
Die Cheeseburger kamen, serviert in Plastikkörbchen und inmitten von Fries, die so dick waren wie Finger und trotzdem knusprig waren. In der oberen Hälfte des Brötchens steckte bei Tommy ein Fähnchen aus einem Zahnstocher, obwohl sie exakt die gleiche Bestellung aufgegeben hatten.
„Meiner ist wieder vergiftet“, sagte Tommy genüsslich und Stella, die Bedienung mit dem rot gefärbten Kräuselhaar, die mit diesem Job zwei Kinder durchbrachte und mit ihren dreißig Jahren fast doppelt so alt aussah, stemmte die Fäuste in die fülligen Seiten. Sie beklagte sich nie, sie machte ihre Arbeit gern und ihr aufmerksames Wesen verlieh ihr die Fähigkeit, sich die Sonderwünsche der Stammkunden zu merken. Sie war von der herzensguten Sorte, die leider an den falschen Kerl geraten war und ihn geheiratet und dann erst nach zehn Jahren verlassen hatte.
Für Tommy hatte sie extra eine Flasche Gewürzessig besorgen lassen und obwohl es den Koch vermutlich jedes Mal schüttelte, träufelte er den Essig gehorsam über die Fries, wenn Stella ‚Cheese Menü Essig’ bestellte.
„Wenn das Menü aus Versehen jemand anderes auf den Tisch bekommt, verlier ich meine Kundschaft“, sagte Stella, schnipste mit dem Zeigefinger das Fähnchen an, „die würden denken, man würde sie vergiften wollen.“
„Gibt schlimmeres“, sagte Tommy. Fries mit Essig waren eine der wenigen Dinge, die ihn an zu Hause erinnerten, neben dem Tee und dem Stew und den Nachrichten auf BBC.
Als Stella einen der anderen Tische abräumte, murmelte Douglas durch seinen Burger hindurch: „Vor zwei Wochen haben wir ihren Ex-Mann verhaftet. Hat sich in der Bar geprügelt und dabei zwei Schneidezähne verloren. Er war stockbesoffen, aber er konnte uns noch zum Teufel wünschen und uns anbrüllen, wir sollen seine Zähne suchen. Die könnte man wieder einsetzen, wenn man schnell genug zum Zahnarzt kam.“
„Davon hab ich noch nie etwas gehört.“
„Das hat Blake auch gesagt. Er hat ihn in den Wagen gedrückt und zurück geschrieen: ‚Das funktioniert nur bei Kindern, du besoffenes stinkendes Riesenarschloch. Du fährst in den Knast und bestimmt nicht zu deinem verfickten Fressleistenklempner.’“
„Ouh“, machte Tommy, pfiff beeindruckt, „wer hätte gedacht, dass Blake so einfallsreich fluchen kann.“
„Nicht nur das“, sagte Douglas. In seiner Stimme schwang unverhohlene Abneigung gegen seinen Chef mit, die er unterdrückt hätte, wenn sie ihm bewusst gewesen wäre. Er war eine ehrliche Haut, der Konflikten aus dem Weg ging und sich lieber um die Pflege seiner Muskeln kümmerte. Tommy erinnerte sich daran, dass Lea etwas Negatives über Blake gesagt hatte, wollte es aber vor Douglas nicht wiederholen.
Sie hätten ihre sporadischen Treffen auch in einer der gemütlichen Bars machen können, bei mehr als einem Liter Bier für Douglas und Rootbeer für Tommy, aber Douglas wollte es Tommy nicht antun, inmitten von Betrunkenen zu sitzen und nüchtern bleiben zu müssen. Sie hatten über Tommys Problem lange gesprochen und sich dazu entschieden, im Diner zu bleiben, obwohl Douglas mit dieser Situation offensichtlich mehr Probleme hatte als Tommy.
„Es macht mir nichts aus, Doug“, sagte er, „über diese Phase bin ich hinweg. Ich bin ja nicht erst seit gestern trocken.“
Es hatte lange gedauert, bis er Douglas das unnötige schlechte Gewissen wegen des Bieres vor seiner Nase hatte ausreden können – Douglas hätte es für ihn sein gelassen, aber so weit kam’s noch.
Der prickelnde Essiggeschmack in Verbindung mit den heißen öligen Fries war wunderbar, gleichzeitig etwas, was er mit niemandem wirklich teilen konnte – Lea hatte diese Kombination einmal probiert und tapfer das Gesicht gewahrt. Douglas hatte nur gemeint, Essig vertrüge sich nicht mit seinem Trainings- und Ernährungsplan.
„Wann ist deine Hand wieder in Ordnung? Ich warte schon auf die nächste ordentliche Sparringsrunde.“
„Das dauert noch.“ Er bewegte vorsichtig die fest verklebte Hand. „Ich hab’s ausprobiert und es ging in die Hose. Zum schlafen musste ich Dröhner nehmen.“
„Dann komm doch einfach morgen Abend mit auf einen Waldlauf.“
Ich kann mir besseres vorstellen, dachte Tommy.
„Termine“, sagte er bedauernd.
An den anderen Tischen saßen Einheimische, Männer in ihren Arbeitsklamotten, Pärchen, die sich nichts zu sagen hatten, sehr wenig Jugendliche, mehr alte Leute, die sich an einer kleinen Mahlzeit und Kaffee festhielten. Wenn Douglas den Blick schweifen ließ, fürchtete er, er könnte in vierzig bis fünfzig Jahren ebenfalls in der dunkelroten Sitznische hocken, eine Schüssel Chili schlürfen und es auf ewig bedauern, aus Lewiston nicht herausgekommen zu sein. Selbst, wenn er bis zum Chef der Polizei aufsteigen sollte, was ziemlich unwahrscheinlich war, würde er sich gefangen fühlen. Er war in Lewiston zur Schule gegangen, hatte das Mädchen geheiratet, in das er sich mit sechzehn verliebt hatte und trotzdem wünschte er sich an manchen Tagen nur noch, er hätte alles anders gemacht. Er könnte nach Hause kommen, die Tür ins Schloss knallen und brüllen: ‚Pack die Koffer, honey, wir verschwinden.’ Sarah, die einstige Liebe seines Lebens würde zurückrufen: ‚Ich hab schon gedacht, du würdest es nie sagen! Lass uns das beschissene Haus anzünden, bevor wir die Kurve kratzen!’ Aber wahrscheinlich war, sie würde von der Couch rufen, aus der kuscheligen Decke heraus: ‚Wo willst du denn hin, du Idiot? Für einen Urlaub haben wir kein Geld.’
Als er den größten Teil des Bieres intus hatte, sah er Tommy mit einem weichen Blick an und fragte nicht zum ersten Mal: „Was hat dich eigentlich hergetrieben? Du hättest dich in jeder anderen Stadt niederlassen können.“
„Lewiston“, sagte Tommy, ebenfalls nicht zum ersten Mal, sah auf die Straße hinauf, wo die Menschen spazieren gingen und es scheinbar nie eilig hatten, rieb sich mit der flachen Hand über den Schädel, „alles ist ruhig und sicher. Alles ist überschaubar, die Gegend erinnert mich an zu Hause, die Leute sind freundlich. Ich hab’s mit Großstädten versucht, aber da hab ich mich nicht wohl gefühlt. An der Westküste war ich lange, hab versucht, Fuß zu fassen, aber in den Städten rauscht alles an einem vorbei. Ich hab mich in das Leben dort hineingestürzt, hatte einen Job und eine Wohnung, fuhr ein altes Auto und eigentlich hätte ich zufrieden sein sollen, aber das war ich nicht. Der Reiz vergeht so schnell, der Lack blättert verdammt schnell ab. In solchen Städten kann man alles kaufen, alles ist käuflich, alles ist möglich. Es hat mich abgestumpft, ich war nur noch deprimiert und konnte nichts dagegen tun. Es wurde nur besser, wenn ich raus kam. Ich brauch immer etwas Kleinstadtmief in meiner Nase. Städte bringen mich um, sag ich dir.“
„Ich brauch das genaue Gegenteil, glaube ich.“
„Was sagt Sarah dazu?“
„Wenn sie etwas vermutet, lässt sie es sich nicht anmerken.“
„Du solltest mit ihr sprechen.“
„Irgendwann vielleicht“, sagte Douglas mit einer schiefen Grimasse, „und dann muss ich ihr auch noch etwas anderes anbieten können, um ihr die Sache leichter zu machen. Ein besser bezahlter Job, zum Beispiel.“
„Du warst so oft Deputy des Monats. Ich dachte, sie hätten dir längst ’ne Gehaltserhöhung gegeben.“
„Gibt das College dir mehr Geld, nur weil du nebenbei noch alles machst, was an Reparaturarbeiten anfällt?“ Tommy lehnte sich zurück und machte eine wegwerfende Geste. „Na bitte.“
Früher bin ich mit noch weniger Geld ausgekommen, ich hatte nicht mal eine eigene Wohnung und kann mich eigentlich gar nicht mehr erinnern, wie ich über die Runden gekommen bin. Wie wir alle das geschafft haben. Es gab immer irgendeine Familie im Block, bei der man essen konnte. Wie oft haben wir uns durchfüttern lassen. Ob das heute auch noch so läuft? Verdammte Kacke, was würde ich darum geben, für einen lausigen Tag zurück zu können, um nach dem rechten zu sehen.
Ab und zu, zum Glück nur sehr selten, dachte er, er könnte es wagen, zurück zu gehen, aber das Wissen, dass sie ihn sofort kassieren würden (und selbst wenn nicht, dass er nichts vorfinden würde, was ihn in irgendeiner Form zufrieden stellen würde), hielt ihn davon ab. Die Brücke war schon lange gesprengt, die Taue zerrissen; ohne Rückhalt würde er auf irischem Boden keine zwölf Stunden überleben.

Sie ließen sich Zeit mit den Burgern, quatschten die ganze Zeit, saßen noch eine gute Stunde zusammen, nachdem sie fertig gegessen hatten. Sie erzählten sich alte und neue Geschichten und redeten über ein paar Dinge, die man nur mit einem guten Freund beredete.
Das Wochenende ließ noch auf sich warten und Tommy hatte noch ein paar Aufgaben vor sich, die er liebend gern weiter vor sich her geschoben und dann vergessen hätte. Es war ihm schon unangenehm, vor den versammelten Lehrern und dem Dekan zu sprechen (für die regelmäßigen Sicherheitsinstruktionen hatten sie ihn ausgesucht, weil er „die Blicke auf sich zog“, die Wahrheit war, dass jeder froh war, es nicht selbst tun zu müssen), aber vor einem Haufen von 500 jungen Leuten zu sprechen, war so angenehm wie ein Schlangenbiss im Hintern.
Er musste zwar nur die Statistiken vortragen (sie hatten ein negatives Rekordergebnis bei den Einbrüchen, aber Gottlob keine anderen Delikte zu verzeichnen), aber selbst das war reichlich unangenehm. Im letzten Jahr hatte er es geschafft, sich komplett lächerlich zu machen, als er, während er den knapp gefassten Bericht auf dem kleinen Zettel möglichst deutlich vorlas, nicht bemerkte, dass Atsuko Hirai an seine Seite getreten war, um nach ihm zu sprechen. Er war sich dort oben auf der Bühne vorgekommen wie in einer Schießbude, hatte sich bemüht, still stehen zu bleiben und hatte Dr. Hirai erst bemerkt, als sie ihn vorsichtig am Arm berührte. Er hatte weiter gelesen, aber den Kopf hektisch zur Seite gedreht, niemanden gesehen und seinen Vortrag abrupt unterbrochen. Erst dann hatte er nach unten gesehen, war leicht, aber für die ersten Reihen der Studenten deutlich sichtbar zusammengezuckt und hatte seine Rede wieder genau dort aufgenommen, wo er sie unterbrochen hatte, als hätte man ein Tonband angehalten und wieder laufen gelassen.
Der verwirrte und erstaunte Ausdruck auf seinem Gesicht, der für einige Sekunden sehen war, zusammen mit dem Zurückzucken der Schultern und der Arme, brachte die ersten drei Reihen (mindestens) zum kichern und auch Dr. Hirai hatte Mühe gehabt, noch ernst zu bleiben.
Nachdem er seinen Bericht abgeliefert hatte (eine Reihe von Einbrüchen, ein Autodiebstahl, eine leichte Körperverletzung im letzten Halbjahr), fand er in seine alte Form zurück, warf einen Blick in die ersten Reihen, wo die Jungs und Mädchen sich gegeneinander lehnten und noch immer unterdrückt kicherten, und sagte mit leiser Stimme ins Mikro: „Alle, die gekichert haben, melden sich heute Nachmittag bei mir im Büro.“
Das sagte er mit einer so ernsten Stimme, dass das Kichern noch deutlicher wurde; nur die frischen Semester, die noch nichts mit ihm zu tun gehabt hatten, starrten verlegen aus der Wäsche. Sie mochten es von den anderen High Schools gewöhnt sein, dass es jemand ernst meinte, wenn er so etwas sagte und dabei ein Gesicht wie ein professioneller Kinderfresser machte, aber bei Tommy waren sich alle sicher, dass es erst gefährlich wurde, wenn er neutral und abwesend wurde. Das Gekichere und die bemüht gefassten Gesichter fand er weniger peinlich, als der Moment, an dem er sich zu den anderen auf der Bühne herumdrehte, um Dr. Hirai den Platz vor dem Mikro frei zu machen, und er in das Gesicht von Dekan Hollenack sah. Der Gesichtsdruck ähnelte dem eines seiner ehemaligen Lehrer der katholischen Grundschule in Belfast, wenn er eine seiner Ausreden anbrachte, weshalb er in den letzten Tagen nicht am Unterricht teilgenommen hatte. „Sir, es hat geregnet und der Hund hat meine Schuhe zerfressen. Mein Daid hat mir verboten, mir nasse Füße zu holen.“
Douglas’ Stimme drängte sich wieder in den Vordergrund, er sagte, er rechnete den Bobcats nicht wirklich Chancen aus gegen die Mannschaft aus Bangor, allerdings waren ein paar gute Jungs im Team, die das Ruder möglicherweise herumreißen konnten.
„Ist dumm, dass ich nicht noch eine Karte habe“, sagte er, „sonst hättest du Lea fragen können, ob sie mit will.“
„Schon Okay.“ Tommy überlegte, ob er sich noch ein Stück Kuchen zum Nachtisch gönnen sollte, betrachtete die Karte, die wie eine eckige kleine Litfass-Säule auf dem Tisch stand.
„Sie wird froh sein, mich mal einen Nachmittag los zu sein.“
„Bestellst du dir noch was?“
„Negativ“, sagte er, „ich denke nur gerade an diese kleinen Gebäckdinger, die ich in Madrid immer gegessen habe.“

„Wie kannst du dir das alles merken?“
David fand die Frage seltsam. Er besuchte diesen Kurs der englischen Geschichte, um sich so etwas zu merken, oder etwa nicht? Was war kompliziert daran zu wissen, von wann bis wann Heinrich VIII gelebt und wie viele Frauen er geehelicht hatte?
„Ich lerne es“, sagte er mit einem unterdrückten Räuspern. Er klickerte mit seinem Kugelschreiber herum, bis er sich des nervigen Tons bewusst wurde und ihn zur Seite legte. Juliet hatte ihn dazu überredet, die erste schriftliche Arbeit, die sie in drei Tagen abgeben mussten, zusammen zu schreiben; sie schien unfähig, sich Daten und Fakten aus den Büchern herauszusuchen und es in vernünftige Worte zu fassen. Insgeheim stellte David sich die Frage, wie sie die High School geschafft hatte bei der Arbeitsauffassung.
„Wir machen das so“, sagte er, „ich gebe dir die Stichworte und erkläre dir die Zusammenhänge und du machst dir Notizen, aus denen du dann deinen Aufsatz schreibst. Du hattest doch nicht vor, bei mir komplett abzuschreiben, oder?“
Juliet war weder faul noch dumm, aber sie hatte sich Hoffnungen gemacht, jemand (genauer gesagt: David) könnte ihr den Einstieg etwas erleichtern. Sie fühlte sich von der Masse überfordert und es war typisch für sie, dass sie zunächst einfach dicht machte und das Heil in der Flucht suchte.
Ich reiß mich schon noch zusammen, dachte sie, ganz sicher, aber im Moment komme ich nicht allein zurecht.
In der High School hatte sie eine Freundin gehabt, mit deren Hilfe sie diese Phase überstanden hatte; David schien nicht angetan, deren Platz einzunehmen, aber er bot immerhin seine Hilfe an. Besser als gar nichts.
Ausgerechnet Heinrich VIII hatte sie aufs Auge gedrückt bekommen, von dem sie nicht einmal genau wusste, womit er sich in der Geschichte hervorgehoben und wann er gelebt hatte – die dicken abgegriffenen Bücher voller Randbemerkungen, die sie aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, halfen ihr nicht wirklich weiter, weil sie innerhalb der drei Tage unmöglich alles durchlesen und dann entscheiden konnte, worüber genau sie schreiben sollte.
„Heinrich der Achte“, sagte David, ohne einen Blick in seine schriftlichen Unterlagen geworfen zu haben, „hat gelebt von 1491 bis 1547 und er war Ehemann von sechs Frauen, angefangen bei Catherine von Aragon, Anne Boleyn, Jane Seymour, Anne von Cleves, Catherine Howard, Catherine Parr. Man kann sie sich ganz einfach merken, weil...“
„Hast du den auch gewählt?“ Beim selben Thema mochte die Chance, einige Passagen abschreiben zu können, wieder größer zu werden.
„Ich hab mich für Oli entschieden“, sagte David gedankenverloren, sammelte sich für einen guten Einstieg in das Kapitel Heinrich des Achten, als von Juliet die leicht kopflose Frage zurückkam: „Oli wer?“
„Oliver Cromwell?“ erklärte David, „von dem hast du aber schon mal gehört, hoffe ich für dich.“
„Lordprotector“, sagte Juliet, das war so ziemlich das einzige, was bei ihr noch von Olli hängen geblieben war. Hätte David nach Jahreszahlen gefragt, hätte sie peinlich versagt. Sie beugte sich Davids Lernmethode, schrieb wie eine Irre ihre Notizen, obwohl sie wusste, dass sie das alles mitschreiben, aber nichts von dem im Gedächtnis behalten würde.

Obwohl Lea sich im Umgang mit Suchmaschinen und dem Ausfindigmachen von Informationen aus dem Internet gut auskannte, gab sie es bei dem Begriff Maze relativ schnell auf und verschob es auf das nächste Mal, wenn sie mehr Zeit und mehr Geduld aufbringen konnte. Es gab einige Seiten, die sich mit Maze als Heavy Metal Band beschäftigten, eine Werkzeugfirma, einen Headhunter, JavaScript Maze und etwa fünfundzwanzigtausend Familiennamen Maze, nicht mitgerechnet alle Arten von Labyrinthen. Die Irish News Online übersah sie in dem Pulk von Informationen und der Begriff Irland in Verbindung mit Maze tauchte auch nur ein einziges Mal auf. Wenn sie Zeit hatte, würde sie versuchen, den Begriff als Ort oder Ereignis weiter eingrenzen, aber durch die Hockerei vor dem PC hatte sie die Zeit vertrödelt, die sie normalerweise hatte, um das Haus einigermaßen sauber zu machen.
Sie machte den PC aus, ließ den Bürostuhl durch den Raum rollen und suchte sich eine der dünnen Jacken aus dem Schrank, die sie sich schnell überzog. Die Katzen, die ihr sonst gern vor die Füße liefen, wenn sie es eilig hatte, waren noch im Garten, sonnten sich auf dem Stück Rasen und reagierten nicht einmal, als Lea in den Wagen stieg. Manchmal dachte sie, die Racker warteten nur darauf, bis sie weg war, scheinheilig herumliegend, um dann im sturmfreien Haus die Sau rauslassen zu können. Häufig fand sie die hart eingetrockneten Krümel des Katzenfutters (das in der Werbung immer so appetitlich aussah) im ganzen Haus verstreut, als hätten sie damit auf dem Parkettfußboden Eishockey gespielt.
In ihrem Wagen, einem Grand Cherokee, den sie von einem Bekannten übernommen hatte, ließ sie den Motor laufen, suchte in der Handtasche, die auf dem Beifahrersitz lag, nach der Handcremetube, die sie ganz sicher eingesteckt hatte. Bei einer solchen Aktion hätte sie vor einem halben Jahr fast Feo überfahren, weil ihr der Wagen rückwärts den leichten Hang heruntergerollt war und der Kater keine Anstalten gemacht hatte, aus dem Weg zu gehen. Erst im letzten Moment hatte sie ruckartig auf die Bremse getreten und durch das plötzliche Geräusch war Feo wie der Blitz von dem Wagen davon geschossen. Sie hatte nicht sagen können, wie nahe es dran gewesen war, ihn zu überrollen, es hatte sich alles im toten Winkel abgespielt, aber Feo hatte sie drei Tage lang mit Nichtbeachtung gestraft und die rechte Hinterpfote nachgezogen.
„Du bist ihm über den Fuß gefahren“, hatte Tommy gesagt, „ausgerechnet meinem Kater.“
Endlich fand sie die Handcreme, warf sie auf den Beifahrersitz und sah im Rückspiegel nach den Katzen, bevor sie losfuhr. In Gedanken war sie schon wieder im Café, ging die Bestände durch und schaltete das Radio an, wechselte den Sender, drehte die Lautstärke hoch, bis sie das Motorengeräusch nicht mehr hörte. Ab und zu brauchte sie Krachmusik um sich herum, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können.
Als Tommy nach Hause gekommen und ihr erzählt hatte, dass er am Samstag Nachmittag mit Douglas zum Spiel der Bobcats nach Bangor wollte, dachte sie sofort daran, sich endlich noch einmal an das Video zu setzen und für diesen freien Samstag ein paar endgültige Änderungen einfallen zu lassen.
Dann kann ich mich weiter um das Video kümmern, dachte Lea, das passt gut.
Als wenn es ein unsichtbares Zeichen gegeben hätte, rief Sondra im Café an. Sie war nicht wirklich viel beschäftigt, verbrachte die meiste Zeit damit, den Kindern die Pest an den Hals zu wünschen und sich über die Eigenarten von Montreal aufzuregen. Während Lea im Café saubermachte, die Krümel aus den Polstersesseln fegte, telefonierte sie, musste sich anhören, dass sie, Sondra, die einstmals beste Freundin, offensichtlich in Vergessenheit geraten war und sie darüber so betrübt sei, dass sie versucht war, ins Wasser zu gehen. Sondra hatte eine dramatische Ader. Sie waren seit der Elementary School zusammen gewesen, hatten sich nie länger als zwei Tage zerstritten und auf den Partys ihrer High School Zeit, die von Freitag Abend bis Sonntag Morgen angedauert hatten, waren sie berühmt-berüchtigt gewesen.
„Halt die Luft an, S“, sagte Lea, „das hab ich gern. Nach Kanada abhauen und `ne dicke Lippe riskieren.“
„Füllen deine Böhnchen dich nicht mehr aus? Hast du Langeweile?“
„Komm doch aufs Wochenende rüber, dann erzähl ich es dir.“ Diese Einladung kam ganz spontan über ihre Lippen.
„Dieses Wochenende? Ich kann den Wagen volltanken und komme gedüst, aber nur, wenn du mir sagst, was los ist.“
„Reicht es nicht, wenn ich sage, dass wir uns mal wieder treffen sollten? Außerdem hast du mich angerufen.“
„Deine kurzfristigen Verabredungen waren schon immer ein Zeichen für Sturm. Shiver me timbers, I'm sailing away.“
„Komm schon, gib dir einen Ruck“, sagte Lea, „wir machen uns einen schönen Abend in der aufregendsten Kleinstadt der Welt und ziehen um die Häuser. Selbst, wenn du nicht rast wie eine gesenkte Sau brauchst du keine fünf Stunden, um hier zu sein.“
„Ich sehe, was Louis vorhat. Soll ich mich auf irgendwas vorbereiten? Ski fahren? Gehen wir tanzen? Muss ich meine roten Schuhe einpacken?“
„Wenn du nicht in die Breite gegangen bist, kannst du meine Klamotten tragen.“
Von Sondra kam ein ungläubiges Räuspern.
„Bring mit, was in den Wagen geht. Ich erwarte dich am Samstag?“
„Copied.“

Für ein gemeinsames Wochenende, das sie bei Lea verbringen würde, hatte sie grundsätzlich immer Zeit, es war nur die Frage, ob sie die lange Autofahrt auf sich nehmen wollte. Sie flog sehr ungern und die Überlandbusse waren ihr zu ungemütlich. Bei ihren letzten Treffen hatte Lea das Café geschlossen und war nach Kanada gefahren, um sie zu besuchen; Tommy hätte mitkommen können, aber er hatte gesagt, er wolle sie nicht stören bei dieser Weibergeschichte.

Butch kam zu seiner Mittagspause herein, ein Käseblättchen unter dem Arm, als wolle er eine halbe Stunde auf dem Klo verbringen. Er lächelte Lea entgegen und bekam ohne etwas sagen zu müssen seinen Kaffee gereicht.
David und er trafen nur ganz kurz zusammen, trotzdem schien etwas zwischen ihnen vorzugehen, was man als spontanes Misstrauen hätte deuten können.
Lea bemerkte diese Blicke nicht, das vorsichtige Abtasten, als würden sich zwei Hunde gegenüberstehen, die sich nicht kannten und vorsichtshalber schon mal die Nackenhaare aufstellten.
David versuchte, seine hässlichen Gedanken unter Kontrolle zu halten, sie zu unterdrücken, weil sie schlecht fürs Karma waren und negative Gedanken immer Auswirkungen auf das Gesamte hatten. Er hätte Butch großzügig übersehen und sich keine weiteren Gedanken über ihn gemacht, aber ihn reizte dieses glückselige Lächeln, was der Junge auf dem Gesicht hatte, wenn er Lea ansah. Es gab kleine Dinge, die ihn rasend machten.
Du wirst an sie auch nicht rankommen, aber das wirst du vermutlich in hundert Jahren nicht begreifen. Zu blöd, um einen Korken aus der Flasche zu ziehen, dachte David, erwiderte Butch’s kurzen Seitenblick mit einem Grinsen und Kopfnicken. Er machte sich keine Gedanken deswegen, ob es abfällig wirken könnte – er hatte andere Probleme.
Die hatte Lea auch. Mitten im Ansturm um die Mittagszeit musste eine der Kaffeemaschinen den Geist aufgeben und sie war gezwungen, während des Bedienens und Ausschenkens mit der Frau an der Service-Hotline zu diskutieren. Sie warf Butch einen verzweifelten Blick zu, während sie Tassen füllte, den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr gepresst hielt. Butch verstand ihren Blick falsch, rutschte vom Hocker und kam hinter die Theke, wo er sich die Ärmel seines Hemdes aufkrempelte und die defekte Maschine zu inspizieren begann.
„Einen Moment bitte“, sagte Lea zur Hotline und im nervösen Ton zu Butch hinüber, „Butch, fass das nicht an. Ich lasse gerade jemanden herkommen, der es reparieren wird.“
„Da ist nur der eine Kontakt rausgerutscht, wie’s aussieht...“ begann Butch, die Finger in der Maschine.
„Bitte, wenn du mir helfen willst, füll die andere Maschine auf. Du musst nur oben...“
Er wird alles ruinieren, sagte ihre Panikstimme, die sie schon lange nicht mehr vernommen hatte, nicht mehr seit ihrer Flucht durchs Klofenster der Schule und bei einem Beinahe-Autounfall ein paar Jahre später. Es liefen drei Dinge gleichzeitig ab – sie versuchte der phlegmatischen Suse von der Hotline zu erklären, dass es dringend war, ein Techniker müsse sofort rauskommen, auch wenn Lewiston nicht auf seiner Route lag; sie starrte auf Butch, der ohne zu fragen die Kaffeemaschine auffüllte und wieder in Betrieb setzte und ihre Panikstimme rief erstaunt aus den Tiefen hervor: Ist das zu glauben? Er hat alles richtig gemacht, ohne, dass du es ihm erklärt hast. Er hat nicht mal das Kaffeepulver verkleckert. Als hätte er ein Händchen dafür.
Die logische Erklärung mochte sein, dass es im Aufenthaltsraum der Supermarktangestellten so eine ähnliche Maschine gab und er derjenige war, der sich darum kümmern musste, dass sie immer aufgefüllt war.
Butch kassierte einige Gäste ab, er hatte die Preise im Kopf und rechnete alles ohne Zögern im Kopf zusammen.
Sieh an, dachte Lea, da ist sein Schädel doch zu etwas zu gebrauchen.
Der Ansturm legte sich, sie nahm Butch beiseite, der sich eines der karierten Handtücher über die Schulter geworfen hatte, die Tisch sauber wischte und restlichen Tassen einsammelte.
„Ho Fury“, sagte sie, „du hast noch einen anderen Job, schon vergessen? Die werden wir den Kopf abreißen, wenn sie glauben, du arbeitest bei mir.“
„Ich helfe dir doch gern, wenn Not am Mann ist“, sagte Butch. Seine Wangen brannten feuerrot wie Laub während des Indian Summers.
Lea nahm ihm das Tablett mit den leeren Tassen ab, räumte sie in die Spüle und machte eine Kopfbewegung zur blubbernden Kaffeemaschine hinüber.
„Woher kennst du dich mit diesen Teilen aus? Ich hab mich wochenlang vor diesen Ungetümen gefürchtet und hatte Angst, irgendwas kaputt zu machen.“
Butch zuckte mit den Schultern. „Ich kenn mich mit Technik ganz gut aus, außer, wenn es elektronisch wird.“
Das brauchst du mir nicht zu sagen, dachte Lea, fand die Unterscheidung von Technik und Elektronik nur etwas seltsam, wagte nicht weiter nachzufragen, weil sie die Erklärung sicher auch nicht verstanden hätte.
„Der Techniker kommt noch heute Nachmittag“, sagte sie, „aber wenn ich dringend jemanden brauche, kann ich dann auch dich zurückkommen?“
Sie sagte das in einem Ton, der ganz deutlich die Tonlage „Du bist mein Held“ anschlug und Butch wieder das Karminrot ins Gesicht trieb.
Es gibt Leute, die sind leicht glücklich zu machen, dachte David.
Butch, der nie den hellsten Eindruck machte, wagte David an der Theke nur kurz aus den Augenwinkeln anzusehen, dachte sofort: Das ist wieder einer von der Sorte, mit denen du dich besser nicht anlegst, big boy.
Seine Mom hatte ihn in dieser Beziehung sehr gut vorbereitet, schon von seinem ersten Schultag an.
Es gibt Jungs, mein Kleiner, denen gehst du besser aus dem Weg. Wenn du gut durchs Leben kommen willst, sieh dir jeden genau an. Die meisten Leute tun freundlich, sind es aber nicht. Vor denen musst du dich genauso hüten wie vor denen, die unfreundlich zu dir sind.
Sie war immer der Meinung gewesen, dass man niemandem trauen könne – nicht einmal dem Präsidenten und dem Papst. Das hatte sie sehr lange und intensiv in Butch hineingetrichtert und aus ihm den perfekten Prügelknaben der gesamten Schule gemacht. Er hatte sich nie gewehrt, war immer auf der Flucht gewesen, selbst vor Kindern, die nur hatten mit ihm spielen wollten. Noch nie hatte jemand in diesem Wahlbezirk so oft Klassenkeile bezogen wie Butch. Das hatte sich erst geändert, als seine Mutter sehr überraschend bei einem Haushaltsunfall gestorben war und er deswegen den Schulpsychologen aufsuchen musste. Keine Frage, dass Butch einen Knacks fürs Leben weg hatte, aber nach endlosen Sitzungen erkannte er, dass seine Mutter nicht in allen Dingen des Lebens Recht gehabt hatte. Noch immer teilte er seine Mitmenschen in zwei streng getrennte Kategorien ein (und es gab nicht einen, den er nicht in die eine oder in die andere Schublade stecken konnte), aber er wusste, wie er sich der Kategorie B gegenüber wehren konnte.
David, der an der Theke sitzend, die Kaffeetasse auf einem dicken Schulbuch abgestellt, gehörte so eindeutig zur Kategorie B, wie Lea zu A gehörte. Es war etwas in seinem Blick; er konnte schwören, wenn er den Mund aufmachte, flogen die Lügen wie schwarzen Fliegen heraus. Und Butch mochte es nicht, wie er Lea ansah. Diesen Blick mochte er ganz besonders nicht. David sah Butch an, als dieser neben ihm auftauchte und Lea so breit anlächelte, als habe er Ess-Stäbchen quer verschluckt, dachte bei sich in einer Mischung aus Faszination und Mitleid: Bei dir hat sich Mutter Natur auch einen bösen Scherz erlaubt. Junge, Junge.
Und dieser feuchte Augen-Ausdruck konnte nur bedeuten, dass hier noch jemand ganz furchtbar in Lea verschossen war und es nur niemals zugeben würde.
David trank seinen Kaffee, bezahlte und verließ das Café. Bevor Butch hereingekommen war (den er vom sehen kannte, aber nirgends wirklich zuordnen konnte), hatte er versucht, Lea in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie war noch immer höflich-distanziert ihm gegenüber. Wenn sie seine noch immer regelmäßigen E-mails las, so wirkten sie jedenfalls nicht. Er hatte bemüht, sich ehrlich zu entschuldigen in diesen Mails, aber die Zeit, es auf dem direkten Wege zu versuchen, war noch nicht gekommen.

Später kam Tommy vorbei, brachte ihr ein Softeis mit von der Ecke, als wenn er es geahnt hätte, dass sie so etwas jetzt gut gebrauchen konnte. Mit dem Eis in der Hand, das er ihr über die Theke reichte wie einen dicken kleinen Blumenstrauß, setzte er sich auf den Stuhl, auf dem eine halbe Stunde zuvor noch David gesessen hatte. Bis auf eine kleine Gruppe Touristen, die im Morning Star Inn in der Lisburn Road untergekommen waren, wie sie erzählt hatten, waren sie allein. Sie waren mit dem Bus angekommen, würden mit dem Nächsten auch wieder verschwinden. Lewiston reichte den meisten für ein paar Stunden. Tommy wollte keinen Kaffee. Er sagte, er habe den ganzen Vormittag in der Telefonzentrale verbracht und sich dort literweise das Zeug rein getan. Es war so ruhig gewesen, dass er trotz Kaffees fast eingeschlafen wäre.
„Sondra kommt am Wochenende vorbei“, sagte Lea.
„Die aus Montreal?“
Die eigentliche Grenze nach Kanada war schnell zu erreichen, aber für die Fahrt von Montreal nach Lewiston würde sie einen halben Tag unterwegs sein. Lea hatte von ihrer Freundin in Kanada oft gesprochen, die dort einen Louis soundso geheiratet hatte und gelegentlich zu Besuch nach Hause kam.
„Ich hab sie quasi eingeladen, obwohl sie nur zum quatschen angerufen hat“, sagte Lea leichthin, „du hast nichts dagegen, hoffe ich.“
Tommy dachte an Montreal als einen Ort hinter der Grenze, in der man seine Ruhe hatte. Er hatte nicht wirklich ein Bild davon vor Augen, wusste nicht, wie es dort aussah, aber dort war man im Notfall in Sicherheit.
„Schläft sie bei uns?“
„Ich räum das Gästezimmer für sie auf.“
„Wenn sie keine großen Ansprüche stellt“, bemerkte Tommy scheinheilig. Lea tat so, als wolle sie ihm das Eis ins Gesicht drücken.

Zimmergenosse Abraham merkte, dass David Probleme hatte, deren Ursprung nicht auf dem College zu suchen war. Er bekam durch Zufall ein geflüstertes Telefongespräch mit, als er sich in seinem Bett schlafend stellte und eigentlich nur keine Lust gehabt hatte, mit David über seine Unordnung zu diskutieren.
„Ich muss das vorsichtig angehen“, flüsterte David in das Mobile, schritt durch das Zimmer hin und her, den Kopf gesenkt, „ihr habt doch das Band und die Fotos. Wieso reicht das denn nicht erst mal? Nein, es ist nicht soweit, dass ich ihn anspreche und der Weg durch die Hintertür war auch keine gute Idee.“ Er blieb stehen, horchte und Abe dachte, er hätte sich durch irgendetwas verraten. Er lag mit dem Gesicht zur Wand gedreht, ein Auge blinzelnd geöffnet. Das konnte David nicht sehen, aber vielleicht hörte er es an seinem Atem, dass er nicht schlief. In dem Zimmer setzte David sich wieder in Bewegung, flüsterte seinem Gesprächspartner zu: „Wenn ihr meint, dass es so einfach ist, wieso macht ihr es dann nicht selbst? Ich hab schon begriffen, wozu ihr mich braucht, aber dann gebt mir auch die Zeit, es richtig zu tun.“ Mit einem Aufstöhnen ließ David sich auf sein Bett fallen. Abraham zuckte bei diesem plötzlichen Geräusch zusammen.
Oh nein, dachte er, das hat er gehört, ich hab mich verraten. Ach du Scheiße.
Er erwartete schon, dass David sich jeden Moment über ihn beugen und an der Schulter packen würde, ihm wütend ins Ohr zischen, wieso er sich schlafend stellte und sein verdammtes Telefonat heimlich belauschte. Er bemühte sich, still liegen zu bleiben, aber er merkte, dass er schon längst nicht mehr ruhig und entspannt atmete.
„Ich versuche es bis dahin zu schaffen“, kam Davids Stimme durch die Dunkelheit, resignierend und wütend und in einer Tonlage, in der Abe mit seinen Eltern nicht hätte sprechen dürfen, ohne mit ernsten Konsequenzen rechnen zu müssen. Er sagte noch ein paar Mal „Ja ja, ich weiß“, dann war das Gespräch beendet, David legte das Telefon beiseite und es folgte ein weiches fump, als er mit der Faust in sein Kissen schlug.
Obwohl Abe schlampig war wie kein Zweiter, alles nicht wirklich ernst nahm, was um ihn herum passierte, hatte er einen strengen Ehrenkodex, was sein soziales Wesen betraf. Er konnte keine Bitte abschlagen, machte häufig aus lauter Freundlichkeit unnötige Verrenkungen und wenn er wegen etwas ein schlechtes Gewissen hatte, ließ ihn das nächtelang wach liegen. Allein schon, weil er unfreiwillig das private Gespräch mitbekommen hatte, machte ihm Gewissensbisse und David dann auch noch in Schwierigkeiten zu wissen und nichts zu unternehmen, verbannte ihn schon in die Vorhölle. Natürlich wusste er, dass es besser gewesen wäre, nicht darüber zu sprechen, aber er wusste auch, dass er einige seiner Seminararbeiten pünktlich abgeben konnte, wenn er nur seine Unterlagen aufräumte und mit ihnen arbeitete. Er würde kein Auge zukriegen, es sei denn, er unternahm etwas.
David war in der sauberen Hälfte seines Zimmers fast eingeschlafen, als Abe sich herumdrehte, die Sprungfedern quietschen ließ und sich räusperte. Er war wieder hellwach, mit einem erschrockenen: Er hat mein Gespräch mit angehört. Er muss aufgewacht sein und fragt sich, mit wem ich telefoniert haben könnte.
Diesen Gedanken wollte er schnell wieder verwerfen – Abe hatte zweifellos geschlafen und schlief auch noch immer. Keine Panik. Daran hätte er festgehalten, hätte Abe nicht plötzlich gesagt: „Entschuldige, ich hab da was mitbekommen. Wenn du Probleme hast, kann ich dir nicht irgendwie helfen? Ich hab auch oft Streit mit meiner Familie, wer nicht. Wir können darüber reden, wenn du magst.“
Hätte David einen wirklich negativen Charakterzug an sich gehabt, wäre er ausgerastet und hätte Abraham deswegen die Hölle heiß gemacht, dass er sich in Dinge einmischte, die ihm nichts angingen. Aber er war im Grunde seines Herzens ein netter Kerl, der sich allerdings einen steinigen Weg ausgesucht hatte, um durchs Leben zu kommen. Er hatte einige Dinge getan, die ihm unter normalen Umständen niemals eingefallen wären.
„Ich kann darüber nicht reden“, sagte er, „das ist noch komplizierter, als es sich vermutlich angehört hat.“
„Deine Eltern? Das College?“
„Keines von beiden. Ich hab einem Freund versprochen, etwas zu erledigen und es geheim zu halten.“
„Okay“, sagte Abe, „aber wenn du Hilfe brauchst, bin ich da.“
Ich könnte mehr Hilfe brauchen, als mir lieb ist, dachte David, bedankte sich bei Abe und versuchte zu schlafen, aber ich kann niemanden mit reinziehen.

Sondras Ankunft am Samstagvormittag, sie war mitten in der Nacht losgefahren, mit dem guten alten Van Halen in dem Cassettendeck, fiel so unerwartet früh aus, dass Lea noch voll damit beschäftigt war, das Gästezimmer auf Hochglanz zu bringen. Sie hatte den Krempel rausgeräumt und auf dem Dachboden verstaut, wo er eigentlich auch hingehörte, sie sich aber immer davor gedrückt hatte, die Kartons und sperrigen Möbel die Treppe hochzutragen, hatte dann das Bett neu bezogen und machte sich daran, den Boden zu wischen und das Fenster zu putzen. Immer wieder ging sie auf den Flur, kam ins Zimmer zurück und schnupperte, weil sie glaubte, es röche muffelig wie in einem Museum, das seit zweihundert Jahren niemand mehr betreten hatte.
„Tommy?“ rief sie, „komm doch mal bitte und sag mir, ob du was riechst.“
Er hatte gesagt, er würde eine Kleinigkeit kochen, war dann für diese Kleinigkeit bereits seit Stunden in der Küche beschäftigt (allerdings hatte er sich mit einer Zeitung dorthin geflüchtet, um Leas Putzwut zu entgehen). Auf ihren Ruf reagierte er zunächst nicht. Er konnte die Küche nicht einfach verlassen und das Feld den Katzen überlassen – nicht, wenn sie die Sachen hinterher noch essen wollten. Erst, als er die Zutaten, die des Katzendiebstahls würdig gewesen wären, in den Kühlschrank zurückgepackt hatte, säuberte er sich die Hände und ging nachsehen, welches Problem sie mit dem Gästezimmer hatte.
„Riechst du was?“ fragte Lea.
„Nein“, sagte er.
„Komm ganz rein. Und jetzt?“
„Putzmittel. Ist das ’ne Fangfrage?“
Von der Straße her kamen Hupsignale.
„Gosh“, sagte Lea, warf den Schwamm von sich, „da ist sie schon.“ Sie rannte an ihm vorbei zur Tür. „Wie weit bist du mit dem Essen?“
„Ich wäre fertig, wenn du mich nicht ständig...“ Sie war bereits im Garten, bevor er den Satz beenden konnte.
Sondra stieg aus dem Wagen, klemmte sich die Sonnenbrille in den Ausschnitt und sah sich um. Das Haus und der Garten hatten sich kaum verändert, vielleicht fehlte der Holzfassade ein frischer Anstrich und die Fensterrahmen sahen auch nicht mehr so aus, als seien sie taufrisch, aber im Großen und Ganzen wirkte alles so wie vor einigen Jahren, als sie das letzte Mal in Lewiston gewesen war.
Nur im Garten muss sie was tun, dachte sie, kriegt sie ihren Kerl nicht einmal dazu, den Rasen zu mähen?
Lea kam aus der Tür und die Veranda heruntergestürmt, sie fielen sich in die Arme, schaukelten sich hin und her und machten das, was Frauen ihrer Altersklasse zur Begrüßung taten. Sie krakeelten in hohen Tönen.
„Ach Mädchen“, sagte Lea, „du bist viel zu früh dran. Wir sind noch gar nicht fertig.“
„Hast du gekocht und deine nassen Hände in meinem Rücken bedeuten, dass die Steaks noch blutig sind?“
„Ich war noch beim Saubermachen.“ Sie wischte sich die Hände an der Jeans trocken, drehte Sondra bei den Schultern einmal herum und konnte aber nichts entdecken.
„Jetzt komm erst mal rein“, sagte sie, „und sieh dir an, was ich aus dem Haus gemacht habe.“
Schon die schmale Veranda neben dem Eingang hatte sich stark verändert. Früher hatte Roberta dort große Blumenkübel stehen gehabt, mit kleinen Bäumchen darin, dass man dort keinen Platz zum sitzen gehabt hatte. Jetzt stand dort eine weiß gestrichene Holzbank, perfekt dazu gemacht, mit einem Kaffee in der Hand in den Garten zu schauen.
Im Inneren, neben dem Eingangsbereich, wo es in den großen New-England-Häusern den mud room für die schmutzigen Schuhe und Regenbekleidung gab, hatte Lea eine Ecke mit einer Messing-Garderobe, einem alten ovalen Spiegel und einem Fußbänkchen aus Holz eingerichtet. Im ganzen Haus waren die Wände, die mit einem schmalen Stuckrand versehen waren, weiß gestrichen, die Holzfensterrahmen in einem dunklen grün. Alle Schränke, Regale und Sideboards der verschiedenen Stilrichtungen waren in einem hellen blau-grau gehalten. Um den Räumen Lebendigkeit zu geben, waren Bilder, schwere Deko-Katzen und Zimmerfarne verteilt. Die Räume der unteren Etage waren groß und quadratisch angelegt, nur die Küche, die in blau-weiß eingerichtet war, war länger geschnitten, um der Küchenzeile Platz zu bieten. Früher war das Haus überladen gewesen mit Teppichen, Nippes und Kronleuchtern, die Möbel, die Roberta angesammelt hatte, waren so wuchtig, dass man sich förmlich von ihnen erschlagen fühlte. Lea war froh gewesen, als ihre Mutter die meisten Sachen nach Kentucky mitgenommen hatte. Obwohl ihr Anspruch an ein gestyltes zu Hause gering gewesen war, hatte sie versucht, ein einheitliches Bild zu wahren; wenn schon nicht in den Stilen, dann schon in der Farbgebung. Sie hatte alte Möbel gebraucht gekauft, was ihr gerade gefiel und was sie gebrauchen konnte und es angestrichen.
Alles wirkte ruhig und sommerlich. Die Büffelledercouch war der Blickfang im Wohnzimmer, davor der wuchtige helle Holztisch, an dem Tommy auf Leas Anweisung die Beine abgesägt hatte, damit er der Couch keine Konkurrenz machte. Sondra lief von einem Zimmer ins andere, hatte keine Hemmungen, auch ungefragt ins Schlafzimmer zu stürmen, wo Emelda auf dem abgedeckten Bett lag und schlief.
Beim Blick auf die Terrasse sagte sie: „Ihr müsst was im Garten tun“, worauf Lea ihr in die Seite kniff und sagte, dass sie schon überglücklich war, wenn sie nur regelmäßig die Fenster geputzt bekam. Einige der alten Bäume, die Roberta als Blickfang hatte pflanzen lassen und deren Äste sie akribisch geschnitten und korrigiert hatte, hatten die Winterstürme nicht überstanden und Lea hatte sie von einem befreundeten Gärtner abholzen lassen. Sie hatte die dicken Baumstümpfe stehen lassen und Tonschalen mit Hauswurz und Vergissmeinnicht daraufgestellt.
Während Lea noch mit der Putzerei beschäftigt gewesen war, hatte Tommy den runden Esstisch gedeckt (auf dem nie eine Tischdecke lag, weil die Katzen sich daran hochzuziehen pflegten), er hatte das gute Porzellan genommen, obwohl Lea gesagt hatte, das sei nicht nötig. Sie mochte das Muster der Teller nicht besonders, die Farben der abstrakten Blumen und Gräser waren ihr zu aufdringlich. Er hatte das Leinen-Rollo vor dem Fenster halb heruntergelassen und die Sonne brachte ein warmes gedämpftes Licht in den Raum.
Er hatte eine der Tomatensuppen heiß gemacht und verfeinert und Sodabrot dazu gebacken. Da sie alle unterwegs sein würden und vermutlich draußen essen würden, hätte sich ein richtiges Essen nicht gelohnt. Sondra betrachtete Tommy, sah dann zu Lea und zwinkerte.
„Hi“, sagte sie, „ich bin Sondra. Und du bist der große Junge, der es geschafft hat, Lea die Flausen auszutreiben.“
Tommy, zum Eingang der Küche an die Wand gelehnt, einen Arm hinter dem Rücken verschränkt, sagte darauf: „Sie lässt mein Herz schlagen.“ Ein entspanntes Freizeitlächeln lag auf seinem Gesicht und er hatte die Augenbrauen gehoben.
Lea legte den Kopf schief, wartete, wie Sondra darauf reagieren würde. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht wirklich so romantisch veranlagt war, wie sich das jetzt anhörte; er war aufmerksam, das stimmte, aber diese Eigenschaft war eine ganz andere Baustelle. Sondra machte eines ihrer Oho-Geräusche, warf Lea einen beeindruckten Blick zu.
„Solche Komplimente bekomme ich von Louis nie zu hören. Meint er das ehrlich?“ sagte sie. Hinter seinem Rücken hatte er den Holzlöffel versteckt gehalten, war in die Küche zurückgegangen und erwiderte während er die Suppe in eine Terrine umfüllte: „Natürlich meine ich das ehrlich, aber das ist kein Kompliment.“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Noch immer hält sich Tommy bedeckt. Niemand kriegt wirklich etwas aus ihm heraus. Trotzdem haben ihn fast alle gerne.

Petra (10.04.2009)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Fisteip - Inhaltsangabe  
Das Haus auf der Klippe - Inhaltsangabe  
Hanami - trauriges Kirschblütenfest - WIEDER KOMPLETT EINGESTELLT  
Mein kurzes Leben mit einem Vampir  
Winterreifen für Schubkarren  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De