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Point Hope - Teil 3

Romane/Serien · Spannendes
***
Agent Gregory Bragas bekam seine kleine Einführung von Officer Svensson, der sich nicht minder beeindruckt zeigte, dass jetzt noch ein FBI Agent aufgetaucht war. Er dachte daran, diese Ereignisse in seinen Journalen festzuhalten und sah sich bereits Jahre später darin herumblättern, während er einem jungen enthusiastischen Nachfolger sein heiliges Büro und sein großartiges Archiv zeigte, bevor er seine Sachen packte und Alaska gegen Florida tauschte. Unter der heißen freundlichen Sonne und mit den Zehen im Korallensand würde er bei Unterhaltungen ganz locker einbinden: Was ich früher gemacht habe? Oh, ich war Police Officer in Alaska. In Point Hope, Alaska. Natürlich war da nicht viel zu tun, wie sie sich vorstellen können, aber ich erinnere mich noch an einen Fall, als wäre es gestern gewesen, da hat das FBI zwei seiner Männer zu uns geschickt und ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich einiges zur Lösung des Falles beigetragen habe.
So oder so ähnlich würde es sich anhören, in ferner Zukunft und an einem fremden Ort.
Gib’s doch zu, sagte eine ganz andere Stimme in seinem Kopf, du weißt doch ganz genau, dass du niemals an irgendeinem Strand liegen wirst, denn du wirst Point Hope niemals verlassen. Dein Nachfolger wird erst durch deine Notizen blättern, wenn du selbst schon auf dem Rücken in der Kiste liegst.
Diese Stimme mochte er nicht besonders, weil sie immer ein Stück näher an der Wahrheit war und ihm das unter die Nase rieb.
Agent Bragas war einer von der säuerlichen Sorte, jemand, der nicht ehrlich lachen konnte und sein halbes Gesicht hinter einem gepflegten Vollbart verbarg. Er hatte mit seinem Kollegen nur einige Worte gewechselt, dann waren die beiden sehr schnell ihrer Wege gegangen. Bragas wollte die Leiche nicht sehen, er bat Svensson nur darum, das Sattelitentelefon in die Unterkunft seines Kollegen zu bringen, um sich irgendwie darum zu kümmern, dass es auch funktionierte. Bo sagte „Ja, Sir“ und verkniff sich die Bemerkung, dass er von solcher Technik keinen blassen Schimmer hatte und nicht mal wusste, ob es für den Betrieb Strom brauchte. Bragas wollte seine Unterkunft sehen und Svensson brachte ihn herzklopfend zu Sergejs Hütte. Nach dem Eintreten gestand er, dass er sich die Hütte leider mit seinem Kollegen teilen müsse, aber immerhin hatte man zwei getrennte Räume und ein großes Bad. Bragas stieß nur die Luft aus und machte ein heftiges Geräusch dabei. War das ein Lachen? Svensson trug ihm die Koffer rein und hielt den Mund.
Dann zeigte Bragas deutliches Interesse am Gemeindehaus, wo er sich in irgendeinem Raum eine Zentrale einrichten wollte. Auch wenn sein geschätzter Kollege, wie er sagte, bislang keine benötigt habe, er bräuchte einen Ort, an dem alle Informationen zusammenliefen.
Svensson war nicht auf den Kopf gefallen und machte den Vorschlag, das Sattelitentelefon doch dann in dieser Zentrale aufzubauen, worauf Bragas nur säuerlich antwortete, dass dieses Sattelitenscheißding von Reining bestellt worden war, nicht von ihm und da solle er entscheiden, wo er es hin haben wollte.
Wohl oder übel musste Svensson einen der Räume zur Verfügung stellen und wählte den, der am weitesten von dem Klassenzimmer entfernt war. Er wollte nicht, dass eines der neugierigen Kinder hereintappte und sich mit herumliegenden Obduktionsfotos konfrontierte.
„Wo steckt Reining?“
„Ich weiß nicht, Sir, aber es ist anzunehmen, dass er im Hydes ist. Soll ich ihn herholen?“
Sie standen Schulter an Schulter in der Kammer, in der sich alte Möbel und Putzmittel angesammelt hatten, in der es nach Schuhcreme und Allzweckreiniger roch und von der Decke nur eine nackte Glühbirne baumelte.
„Nicht nötig. Ich hoffe, er ist auf Besuch eingerichtet. Und sie sorgen dafür, dass hier jemand das Gerümpel rausschafft.“
Beherzt verpackte Unfreundlichkeit war in Point Hope nicht zu Hause, jeder packte mit an, wenn etwas zu erledigen war; aber Svensson nickte knapp und dachte sich den Rest. Zu zweit hätten sie den kleinen Raum innerhalb von zwanzig Minuten leer geräumt, aber so würde er morgen Ian um Hilfe bitten, wenn er Agent es so haben wollte.

Als das Licht für wenige Stunden ganz verschwand, saßen Ian und Nick auf Klappstühlen in Ians Garten und tranken das unwiderruflich letzte Bier. Ian hatte ein Feuer gemacht, das Wärme verströmte und unheimliche Schatten warf. Carla hatte sich schon längst verabschiedet und war schlafen gegangen und Nick hatte geflüstert: „Willst du sie nicht rüberbringen? Ich weiß, es ist nur die andere Straßenseite, aber immerhin. Es ist so verflucht dunkel.“
„Sie hat immer ’ne Taschenlampe dabei.“
„Du bist mir ein Kavalier. Was hat sie eigentlich her verschlagen?“
Nach kurzem Zögern sagte Ian: „Ne horizontale Vergangenheit. Haken wir das damit ab.“
Der wolkenlose Himmel war atemberaubend mit Polarlichtern übersät und Nick hatte das Gefühl, er sei schon eingeschlafen, wenn er zu lange nach oben starrte.
„Ich weiß, wann du mit dem Schiff hier angekommen bist“, sagte Reining plötzlich, „knapp ein Jahr, nachdem du verschwunden bist. Wo bist du überall gewesen?“
„Ich war das ganze Jahr auf dem Schiff.“
„Was ist mit den McFaddens? Wissen die, dass du hier bist?“
„Du bist der Einzige.“
Ian setzte sich ruckartig in dem Stuhl zurecht, drehte sich Reining entgegen und fragte: „Was ist mit deinem Kollegen? Scheiße, kennt der mich?“
Reining hielt das Außenthermometer dicht vor seine Augen und versuchte die Temperatur abzulesen, aber dazu war es zu dunkel. Das Bier gefror noch nicht in der Flasche, aber die Finger wurden steif, wenn man sie nicht ab und zu über die Flammen hielt.
„Ich denke nicht, dass er dich kennt oder von dir gehört hat. Er hat sehr lange an der mexikanischen Grenze gearbeitet.“
„Du kannst ihn nicht ausstehen.“
„Ich muss zum Glück nur mit ihm arbeiten, nicht mit ihm ins Bett gehen.“
Darüber begann Ian zu kichern, verstummte erst, als sie ein undeutliches Brüllen hörten, das aus der Dunkelheit zu ihnen vordrang.
„Eine Feuerwehrsirene wäre mir lieber“, flüsterte Reining.
„Manchmal kommen sie bis an die Häuser“, erklärte Ian, „aber meistens lassen sie sich verjagen. Wir scheuchen sie mit den Skidoos und mit Leuchtraketen. Letztes Jahr hab ich nur einen einzigen erschossen, der die Mülltonnen nicht in Ruhe lassen konnte. Die Forschertruppe war sauer auf mich, aber die sind die Ersten, die um Hilfe schreien, wenn sie einen Bären auf der Willkommen-Fußmatte sitzen haben.“
„Mit den Leuten wollte ich auch noch sprechen. Jemand hat mir erzählt, du hast einen deiner Hunde verloren. Wie ist das passiert?“
Ian versuchte sich daran zu erinnern, aber es war alles unklar und durcheinander in seinem Schädel und außer der Tatsache, dass Duke nicht mehr bei den anderen im Zwinger gewesen war, schien nichts hängen geblieben zu sein.
„Er war weg, als ich sie am Morgen füttern wollte, kein Loch im Zaun, deshalb nehm ich an, dass er drübergeklettert ist. Malmutes sind wie Katzen, haben ihren eigenen Willen.“
„Warum hätte er weglaufen sollen?“
„Vielleicht war irgendwo ’ne heiße Hündin unterwegs. Ich weiß nicht.“
„Fressen Eisbären auch Hunde?“ fragte Reining vorsichtig. Er hatte noch nie einem Eisbären gegenübergestanden, konnte weder Kraft noch Größe einschätzen, aber vermutlich reichte selbst ein Leichtgewichtseisbär aus, um einen Hund in der Luft zu zerreißen und aufzufressen. Selbst einen Malamute.
„Eisbären fressen alles, Nick.“
„Ich nehm mich lieber in Großstädten vor herumstreunenden Banden in acht, um ehrlich zu sein.“
„Hat sich nichts geändert an der Welt da draußen, was?“
„Es ist sogar noch schlimmer geworden.“
Ian warf seine leere Flasche Bier schwungvoll in den Garten hinaus, wo man sie nur dumpf in den Schnee poltern hörte.
„War das der Schlusspfiff?“
„Das war er.“
„Okay. Aber du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du mich bis vor meine Hütte bringen könntest.“
In der Nähe des Lagerfeuers konnte man seine Schritte noch abschätzen, aber kaum waren sie um die Hütte und auf der Straße, war alles vorbei. Fast hätte Nick Reining gefragt, ob er bitte Ians Hand nehmen könnte, nur zur Vorsicht, aber schon hatte sein Wegbegleiter eine Taschenlampe aus der Tasche gezaubert und er fühlte sich in dem Lichtkegel wieder einigermaßen trittsicher.
„Warum Alaska? Du hättest überall neu anfangen können. Warum hier?“
„Tu nicht so, als würdest du meine Biographie schreiben wollen, klar?“ Seine Stimme veränderte sich während er sprach, verlor die selbst auferlegte Müdigkeit und versetzte sie beide nach Newark zurück, wo sie sich kennengelernt hatten. Die Banksache war scheiße gelaufen, aber das war nicht Ians Schuld gewesen. Sein Verbindungsmann hatte geschlafen, hatte erst reagiert, als es bereits zu spät gewesen war. Ian hatte neunzehn Stunden in der Falle gesessen, nicht er.
„Ich entschuldige mich.“
„Nicht nötig, Nick. Ich will hier nur meine Ruhe haben und hier weiterleben können, nachdem ihr verschwunden seid.“
„Niemand würde dir hier einen Strick daraus drehen, wenn du erzählen würdest, was du...“
Der Lichtstrahl der Taschenlampe leuchtete ihm direkt ins Gesicht, er kniff die Augen zusammen und als er sie wieder blinzelnd öffnete, standen sie in einer totalen Finsternis, die Nick leicht taumelig machte. Aus der Dunkelheit fragte Ian: „Warum verdammt noch mal kannst du’s nicht einfach sein lassen?“
Berechtigte Frage, die sich Ian allerdings auch selbst beantworten konnte. Als FBI Agent konnte Nick nicht abschalten und brachte die Dinge, die ihm durch den Kopf gingen, immer wieder zur Sprache. Er war hartnäckig und hatte ein Ziel vor Augen.
„Wir sehen uns morgen“, erwiderte Reining müde, hob zur Entschuldigung die Hände, was Ian in der Finsternis allerdings nicht sehen konnte.
Ohne etwas zu erwidern, leuchtete Ian die Tür von Sergejs Hütte so lange an, bis er direkt davor stand und den Knauf drehte. Er wollte noch etwas sagen, drehte sich zu Ian herum, aber der hatte bereits die Taschenlampe ausgeknipst und war untergetaucht in der Dunkelheit.
Verdammt, dachte Reining, konzentrier dich auf die wichtigen Dinge. John Doe braucht einen Namen und wir brauchen einen Täter, wie immer die Anklage auch aussehen wird.
„Wenn ich zurückkomme, will ich wenigstens sagen können, dass ich einen Bären gesehen habe“, murmelte er, betrat Sergejs Hütte und tastete blind nach dem Lichtschalter neben der Tür. Noch bevor er ihn gefunden hatte und ihn umlegen konnte, hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein in dem dunklen Raum, ein Schauer lief ihm den Rücken herunter und mit der freien Hand griff er automatisch nach seiner Waffe unter der linken Achsel. Die Waffe allerdings war gar nicht da – die lag unter seinen Socken in der Kommodenschublade.
„Albie?“ fragte er laut, ließ die Hand auf dem Schalter liegen, nachdem er ihn gefunden hatte, horchte und knipste das Licht an. Es hätte eigentlich nur Albie sein können, der ihn unaufgefordert besuchen kam, aber er war es nicht.
„Wer ist Albie?“ Sein Gast hatte es sich in dem Sessel gemütlich gemacht, diesen extra halb herumgedreht, um die Tür im Blick zu haben. Auch die Stehlampe hatte ihren ursprünglichen Platz verlassen, um den Gast in einen geheimnisvollen Schatten zu tauchen.
„Was? Wer ist Albie? Ihre Freundin?“
Agent Bragas behielt ungerührt Platz, als Reining die Tür hinter sich schloss und dann auffordernd stehen blieb.
„Im Gegensatz zu ihnen hat Albie Newton den Anstand besessen, mit seinem Besuch zu warten, bis ich zu Hause war.“
„Die Tür war nicht verschlossen. Sehr leichtsinnig. Außerdem ist das kein Besuch, die Dummies haben uns in eine Hütte gesteckt.“
Bragas lächelte, legte dabei den Kopf zurück.
„Haben sie die Nachricht nicht erhalten oder haben sie versucht, mir aus dem Weg zu gehen?“
Dumme Fragen beantworte ich nicht, dachte Reining, zog sich die Jacke aus und betrachtete das Sattelitentelefon, ein technisches Monster, das ihn endlich unabhängiger machen würde.
„Bragas“, sagte er, „ich bin müde und werde mich jetzt ins Bett legen. Darüber, dass man sie nicht in eine eigene Hütte gesteckt hat, können wir morgen früh diskutieren. Machen sie es sich auf der Couch gemütlich – sie haben ja schon damit angefangen. Gute Nacht.“
Statt einer Antwort strich sich Bragas versonnen durch den Bart. Nick Reining fiel in sein Bett, ohne sich auszuziehen, streifte sich nur die Stiefel von den Füßen, die polternd auf die Planken fielen.

***
Carla hatte eine kleine tätowierte Rose auf der linken Seite ihres Dekolletees, sie hielt sie stets gut versteckt, weil sie diese Rose für eine Lehrerin unpassend fand. Ian war der einzige, der sie zu Gesicht bekam und der sagen durfte, wie sehr er sie mochte. Sie schliefen miteinander; Ian war in den frühen Morgenstunden nicht nach Hause gegangen sondern hatte sich zu ihr in die Hütte geschlichen und sich zu ihr ins Bett gelegt. Zwischen den Decken und Kissen kamen sie zueinander, blieben dann atemlos und schwitzend liegen.
„Gut, dass du mich geweckt hast. Ich hoffe, du hattest keinen Streit mit Agent Reining.“
„Wir haben nur gequatscht.“
„Er passt sich dem Leben hier gut an“, murmelte Carla schläfrig, „ich werde ihn in guter Erinnerung behalten.“
Ich werde hoffentlich schnell vergessen, dass er hier gewesen ist, dachte Ian und tastete mit einem Finger über Carlas Brust, wo er die kleine Rose wusste. Sie schlief schnell wieder ein, aber er blieb wach neben ihr liegen, obwohl er den Schlaf ebenso nötig hatte. Dösen, Augen schließen, aber nicht schlafen. Durch die kleinen Fenster drang schon wieder das ferne blaue Tageslicht, wieder schmolzen etwas mehr Eis und Schnee weg. Die Karibus und die Elche fraßen sich an den weiten Grünflächen der Tundra dick und rund und George hatte schon alles für die große Jagd vorbereitet.

In dem Raum, den Ian und Bo Svensson für sie eingerichtet hatten, fühlte Nick sich nicht wohl, er wollte draußen sein und mit den Einheimischen sprechen, aber Bragas bestand darauf, das Sattelitentelefon aus der Hütte zu holen und dort aufzustellen. Den lächerlich kleinen Schreibtisch beanspruchte er für sich, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Als Nick zu ihm in den Raum trat, noch den Becher Kaffee in der Hand, hatte Bragas bereits seine Unterlagen und Fotos dort ausgebreitet.
„Schon jemanden erreicht mit diesem Ding?“ fragte er statt eines ‚Guten Morgen’.
„Das ist ihr Spielzeug, nicht meines. Ich fand es allerdings passender, es hier aufzubauen. Für alle Fälle. Haben wir schon Verdächtige?“
„Nicht mal ein Motiv“, erwiderte Nick.
Svensson gesellte sich zu ihnen, sah sehr vorsichtig von einem zum anderen, als versuche er abzuklären, wer von den Beiden jetzt das sagen hatte. Allein schon, weil Bragas ihn so von oben herab behandelt hatte, würde er lieber mit Reining weiter zusammenarbeiten, aber er wusste, dass er sich das nicht aussuchen konnte. Nick Reining hatte mit seinem Kaffee den Platz am Fenster bezogen; die Fenster waren klein und ließen nur einen verzerrten Blick nach draußen zu, das Glas musste dick genug sein, um der Kälte und den Stürmen standhalten zu können. Er sah immer wider nach draußen, musste dazu den Kopf etwas senken und schlürfte geräuschvoll aus seinem Becher. Bragas, in seinem brandneuen Schneesturn-Outfit wie eine Reklametafel für Alaska, drehte ihm den Rücken zu und sortierte seine Unterlagen durch, von irgendwoher hatte er sich bunte Ablagekörbe besorgt, die er nun dazu benutzte, die Dokumente zu sortieren.
„Keine Verdächtigen“, diktierte er ins Blaue hinein, „obwohl es immer irgendwelche Verdächtige gibt. Officer, sie können mir nicht erzählen, dass es in ihrem Einhundert-Seelen-Dorf niemanden gibt, der nur hier ist, weil er sich sicher sein kann, hier nicht gefunden zu werden.“
Dreihundert, dachte Svensson beleidigt.
„Wenn jemand nicht gefunden werden will, geht er auf die französischen Antillen“, erwiderte er ungerührt, „vor zwei Jahren hatten wir jemanden hier, der sich benahm, als hätte er vor, auf den Präsidenten zu schießen. Das einzige, was man gegen ihn vorbringen konnte, war, dass er mit den Unterhaltszahlungen für vier Kinder an drei verschiedene Frauen in Verzug war.“
„Nette Geschichte.“ Bragas versuchte ein Grinsen, aber es erreichte nur einen Teil seines Gesichtes, seine Augen blieben unberührt und die Stirn verzog er in horizontale Falten, als müsse er schwer über diese ‚nette Geschichte’ nachdenken.
„Was ist mit den Laborergebnissen?“ fragte Svensson.
Die Agenten sahen ihn gleichzeitig an, wie von einem Faden bewegt und er ahnte sofort, dass er die falsche Frage zur falschen Zeit gestellt hatte. Reining hätte es ihm in einem vertraulichen Moment bei einem Bier erzählt, aber Bragas nicht. Der benahm sich wie ein weißer Mann unter dummen Eingeborenen. Eine Entschuldigung lag ihm auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter, machte eine komische Geste mit der linken Hand und setzte sich ab.
„Sie haben diesen Clown doch nicht etwa in die Ermittlungen einbezogen?“
„Nein“, erwiderte Nick Reining geduldig und ohne seinen Kollegen anzusehen, „ich teile ihre Befürchtung, er könnte mit dem Täter unter einer Decke stecken und bei nächster Gelegenheit die Flucht über die Beringsee antreten.“
Bragas warf ihm den Laborbericht entgegen. Nick hatte solche Berichte schon zu Hauf gelesen und ausgewertet, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Er war kein Profiler, er hätte niemals vorhersagen können, dass Ted Bundy einen goldfarbenen Käfer fuhr, aber als er die Ergebnisse überflog, begann es in seinem Kopf zu arbeiten – wirklich zu arbeiten.
„Sagt ihnen das etwas?“
„Ich denke, da John Doe im November gestorben ist, haben wir gute Chancen herauszufinden, von welchem Schiff er gekommen ist. Dieser Schuss, der ihm die Lichter ausgeblasen hat, war kein Glückstreffer, da bin ich mir sicher. Er hatte Schmauchspuren an seiner Hand und am Ärmel, und Spritzer von Tierblut überall. Da ist irgendwas abgelaufen.“
„Und was?“
„In seinem Hemd waren haufenweise Spuren, Küchenöl, Blut, Eigelb, Dunst aus einer Friteuse, wenn man den Laborratten glauben kann. Er hat in der Kombüse gearbeitet.“ Nick legte den Bericht zur Seite. „An sein Verschwinden wird man sich erinnern.“
Was ist mit den Schmauchspuren? dachte er bei sich, ich werde einen Blick in die Journale werfen und wenn mir Ian über den Weg läuft, werde ich ihn fragen, was er von der Sache hält.
Er marschierte in den Hafen hinüber, wobei ihm nicht auffiel, dass er seine Jacke zwar überzog, aber den Reißverschluss nicht zumachte. Endlich hatte er sich an die Kälte gewöhnt. Es war knapp unter Null, der Schnee fiel in kleinen trockenen Flocken, die sofort verweht wurden und auf den Schotterwegen kaum Spuren hinterließen. Sie sammelten sich nur in Nicks Wimpern und in seiner Nase, wo er sie mit jedem Atemzug einatmete. Er nieste, wischte sich die Augen mit den Handballen, war aber erst erlöst, als er die winzige Lagerhalle betrat, die niemals abgeschlossen war, weil dort meist nichts lagerte.
Nick Reining war so tief in Gedanken, dass er sogar vergaß, das Licht anzumachen.
Ich bin gerade mit einem Eisbrecher angekommen, dachte er, es ist selten, dass ich einem Streit aus dem Weg gehe, ich trinke so viel und regelmäßig, dass man mich auch einen Säufer nennt, aber das stört mich nicht. Da steh ich drüber. Wenn ich an Land gehe, sehe ich zu, dass ich mich verteidigen kann. Im Futter meiner Jackentasche waren nicht nur Krümel und Sand sondern auch Spuren von Waffenöl. Ich trage einen Revolver, wenn ich das Schiff verlasse. Die Sonne geht um elf auf und um fünf wieder unter, es ist November und es ist zwanzig Grad minus. Wenn ich den Jungs noch das Essen machen musste, hab ich das Schiff im dunklen verlassen. Ich habe meinen Revolver benutzt. Vielleicht nicht unmittelbar vor meinem Tod, vielleicht schon Stunden vorher. Vielleicht hab ich auf einen Wal geschossen, aus lauter Übermut. Wer ist mir über den Weg gelaufen?
Nick zuckte zusammen und fuhr herum, als die Lampen über seinem Kopf eingeschaltet wurden, einen vierfachen Schatten seiner Gestalt auf den Betonfußboden warfen. In der geöffneten Tür stand Doc Roberts und einen Moment war Nick wirklich wütend darüber, aus seinen Gedanken herausgerissen worden zu sein.
„Ich hab gesehen, dass die Tür offen stand“, sagte Roberts, sah sich neugierig um, als habe er diesen Raum noch nie von innen gesehen, „kann ich bei irgendwas behilflich sein?“
Es wäre sehr unhöflich gewesen, das auszusprechen, was er gerade dachte; es hätte auch nicht für ihn gesprochen, wenn er dem Mediziner gesagt hätte, er könne ihm den großen Gefallen tun und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
„Kommen sie rein, Roberts, kommen sie rein. Vielleicht können sie mir ein paar Fragen beantworten, die mir durch den Kopf gehen. Wenn ich nicht ein paar Antworten bekomme, werde ich nicht schlafen können.“
„Geht ihnen das immer so?“
Sie setzte sich auf eine Überseekiste, die an der Wand stand. Nick überlegte, was man darin verschickt haben könnte, Bretter waren aus der Seite herausgerissen, Holzwolle lag daneben.
„Nein“, sagte er, „normalerweise schlafe ich sehr gut, wenn ich in meiner gewohnten Umgebung bin, was bedeutet, dass ich mit hunderttausend anderen in einer Stadt leben will, je mehr, desto besser. Hier kann ich nachts meinen Puls hören, so still ist es, und dann gehen mir alle Fragen durch den Kopf. Außerdem hat diese Sache hier auch noch einen privaten Aspekt.“
„Einen privaten Aspekt?“
Sehr bestätigend erwiderte Reining: „So privat, dass ich es für mich behalten werde, Okay? Wer könnte hier in Point Hope so gut mit einer Waffe umgehen, das man ihm einen exakten Schuss in relativer Dunkelheit zutrauen würde? Den Schuss auf einen Menschen.“
Roberts rieb sich die Augen, als habe er bis vor kurzem noch richtig tief geschlafen, und begann: „Ich hab selbst schon auf einen Menschen angelegt, Agent Reining. Ich weiß, wie das ist. Ich hab geschossen und den Schädel dieses Idioten nur angekratzt, aber ich war wirklich erstaunt, wie einfach es gewesen ist. Noch Monate später hab ich bei jeder Gelegenheit gedacht: Hey, Wahnsinn, ich hab auf einen Mann geschossen, in dem gleichen Ton, in dem ich als sechzehnjähriger gedacht habe: Unglaublich, ich habe endlich mit einem Mädchen geschlafen. Es hat Monate gedauert, bis ich nicht mehr ständig daran denken musste. Wir leben in einem wilden Land, es gelten hier nicht unbedingt die Verhaltensweisen der Städte und der restlichen Zivilisation. Wir versuchen, uns hier an die Gesetze zu halten, aber manchmal ist das nicht möglich. Was genau wollen sie von mir hören? Namen?“
„Ich versuche, den Täterkreis einzugrenzen.“
Doc Roberts sah ihn an, noch immer zögernd und vorsichtig.
„Ich kann den Menschen hier nicht in den Schädel sehen, ich behandle sie nur auf Krankheiten, das ist alles. Wenn sie Profile brauchen, werden sie sich jeden einzelnen vornehmen müssen.“
„Es war nicht meine Absicht sie zu verärgern.“
„Das haben sie nicht.“
Es ist an der Zeit, eine Versammlung abzuhalten. Mal sehen, was Bragas davon hält.
Er fragte Roberts, wo man eine solche Versammlung am besten abhalten könne und wie die Menschen außerhalb zu erreichen seien, denn er hatte keine Lust, das ganze noch weiter als nötig herauszuschieben.
„In der Gemeindehalle“, sagte Roberts, „vielleicht haben die Forscher draußen auch etwas aufgezeichnet. Ich weiß nicht genau, was die da eigentlich messen und überprüfen, aber es ist eine Chance. Eine solche Ankündigung ist immer schneller rum als ihnen lieb sein wird.“
Ist schon komisch, dachte Nick, Ian ist fast der einzige, der mir wirklich bei der Arbeit hier weiterhelfen könnte und der wird’s nicht tun.
Bragas übernahm die Aufgabe, einen offiziellen Aufruf zu formulieren, um alle Einwohner zu einer Befragung in das Gemeindehaus einzuladen. Dazu saß er an dem kleinen Schreibtisch, gab sich nicht sonderlich Mühe, das ganze freundlich klingen zu lassen und dann erst kam ihm der Gedanke, ob es in Point Hope überhaupt ein Kopiergerät gab.
„Ich werde den Mist bestimmt nicht hundert Mal abtippen“, murmelte er, marschierte durch die Gänge, in der Hoffnung, in irgendeiner Ecke einen Kopierer zu finden.
Neben Officer Svenssons Büro, das offen stand aber leer war, fand er in einer Nische einen kleinen Canon Tischkopierer und wollte schon ein kurzes Dankesgebet sprechen, bis er sah, dass der Stecker wie eine tote graue Schlange über dem Gerät hing. Er war nicht angeschlossen, vermutlich defekt. Agent Bragas zog den Papierbehälter heraus und sah hinein. Das hätte er sich denken können, nicht eine Lage Papier war darin. Er kannte die Marotte von manchen Büromenschen; anstatt an den Schrank zu gehen und sich dort Schreibpapier zu holen, bediente man sich mal eben aus dem Fach des Kopierers. Es war müßig, sich vorstellen zu wollen, wann dieser Kopierer das letzte Mal funktionstüchtig gewesen war. Und wann ein Techniker auf einem Eskimoschlitten mit dem Ersatzteil oder den Tonerkassetten kommen würde. Anhand der Kinderbilder, die an der Tür im zweiten Stock klebten, und hinter der er muntere Stimmen hörte, tippte er auf den Klassenraum. Dort, wo die kleinen rotznäsigen zukünftigen Sozialhilfeempfänger ein wenig rechnen und schreiben lernten.
Es hätte ihm egal sein können, aber insgeheim ärgerte es ihn, dass alle diese Herumtreiber und Tagesdiebe, die es hier an Land gespült hatte, ihre staatliche Dividende aus der Ölförderung erhielten, egal, ob sie etwas für ihren Staat taten oder nicht.
Money for nothing, dachte er mürrisch, klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür und trat ein. Die Kindergesichter, die ihm neugierig entgegenblickten, entsprachen nicht so ganz dem Klischee, das er sich von ihnen gemacht hatte. Sie trugen keine pelzummantelte Kapuzen, aus denen nur Mondgesichter herausschauten, ihre Gesichter waren sauber, das Haar meist ordentlich geschnitten und gekämmt, keiner hatte eine Rotzfahne.
Die Lehrerin, die mit einem aufgeschlagenem Buch in den Händen im hinteren Teil des Klassenzimmers stand und ihn erwartungsvoll ansah, trug ein langes Kleid aus dickem geblümten Stoff, nur dazu gemacht, jeden Anflug von weiblicher Figur erfolgreich zu kaschieren, aber sie hatte ein hübsches Gesicht mit Wangengrübchen und langes dunkles Haar. Ohne Aufwand konnte er sich sofort vorstellen, wie sie mit offenem Haar und nackten Schultern aussehen mochte, der kleine private Film lief blitzschnell in seinem Kopf ab, ebenso schnell hatte er ihn auch wieder verpackt und verschlossen.
„Hallo“, sagte er, lächelte über die Köpfe der Kinder hinweg, „ich bin auf der Suche nach einem Kopierer.“
„Vor dem Büro des Officers steht einer, im ersten Stock.“
„Wäre hilfreich, wenn es einen gäbe, der auch funktionieren würde.“
Sie kam durch die Reihe Tische nach vorn, klappte das Buch zu, ohne etwas zwischen die Seiten zu legen, um die Textstelle später wieder zu finden. Im Vorbeigehen klopfte sie einem Jungen auf die Schulter und flüsterte ihm zu, er möchte an der Stelle weiter lesen, bis sie wiederkäme und sie ließe die Tür offen, um seine Stimme zu hören. Der Junge las mit heller angestrengter Stimme, musste mit dem Zeigefinger den einzelnen Worten folgen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Gregory Bragas trat rückwärts aus der Tür, wartete und sah der Lehrerin entgegen.
Beinahe hätte er sie gefragt, was sie den Blagen in dieser Gegend beizubringen versuchte – iss nicht den gelben Schnee?
„So, wie der Junge vorliest, versteht er kein Wort von dem, was er da runterleiert“, sagte er lächelnd.
„Er hasst es“, flüsterte Carla im vertraulichen Ton, „aber er ist der größte Rabauke hier und während er liest, kann er nichts anstellen. Ich bin Carla Winman.“ Sie reichte ihm die Hand.
„Agent Gregory Bragas. Wir müssen mögliche Zeugen befragen und deshalb soll dieser Aufruf kopiert werden.“
„Sie sind ein Kollege von Nick Reining.“
Diese Feststellung war überflüssig, aber er ließ es ihr kommentarlos durchgehen.
„Kommen sie mit, ich helfe ihnen. Man muss den Kopierer nur einstecken und so etwa drei Stunden warten, bis er betriebsbereit ist, das ist alles.“
Ihr Lächeln entschädigte ihn wirklich für den Ärger mit Reining und dem miesen Komfort in dem so genannten Büro. Er nahm sich vor, bei ähnlichen Problemen öfters ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.
„Es ist kein Papier drin.“
„Aus gutem Grund, Agent Bragas. Die Kinder würden ohne Unterlass ihre Gesichter kopieren. Sie leben zwar am Ende der Welt, aber sie sind nicht dumm.“ Sie drehte sich über ihre Schulter hinweg zu ihm um, bevor sie die Treppe nach unten betrat, vielleicht hatte sie seinen prüfenden Blick auf sich gespürt. „Wann sind sie angekommen?“
„Gestern. Wo bekomme ich das nötige Papier, Ms. Winman?“
„Jeder bringt sich sein eigenes mit. Ich habe den Schlüssel zum Vorratsschrank. Reichen ihnen hundert Blatt?“
„Das ist mehr als genug.“
Am Fuß der Treppe angelangt, streckte sie eine Hand zum Geländer aus, hob den Kopf und rief nach oben, wobei ihre Stimme durch das ganze Gebäude hallte: „Ich kann deine Stimme nicht hören, Israel!“
Unmittelbar ertönte der gelangweilte Singsang des Jungen, leise aber deutlich.
„Ich weiß, dass sie darüber nicht sprechen dürfen, aber sind sie schon ein Stück weiter mit ihren Ermittlungen?“
Bragas nahm das Paket Kopierpapier entgegen, klemmte es sich unter den Arm, legte nur in einer vielsagenden Geste den Kopf schief.
„Das, was wir nach außen geben dürfen, werden sie alle während der Versammlung erfahren“, antwortete er, „mehr kann ich ihnen leider nicht sagen.“
Es sei denn, dachte er gallig, sie gehen zu meinem Kollegen, der scheint das halbe Dorf in die Ermittlungen einbezogen zu haben.
„Ich war nur neugierig. Wenn sie fertig sind, entsichern sie das Gerät bitte wieder.“
Er grinste, weil sie entsichern sagte und es vermutlich auch so gemeint hatte. In ihren dicken Stiefeln und dem furchtbaren Kleid trabte sie die Treppe nach oben, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Bragas machte einen Haufen Kopien, verfluchte die Tatsache, dass sein Aufruf stümperhaft aussah und vielleicht nicht ernst genommen werden würde. Es gab nicht viele Plätze, an denen er das Plakat aufhängen würde und konnte sich schöneres vorstellen, als mit dem Skidoo bis zu den Eskimos rauszufahren und die Kopie an die Iglus zu nageln. Danke schön. Das durfte Nick übernehmen.

Nick Reining hatte gut geschlafen, konnte sich schwach daran erinnern, dass er sich extra auf den Rücken gedreht hatte, um lange und anhaltend schnarchen zu können. Schnarchen hatte den großen Vorteil, dass man selber davon nicht wach wurde, aber alle anderen in den Wahnsinn treiben konnte. Als er aufstand, war Bragas bereits verschwunden, hatte seine Sachen ordentlich weggepackt und selbst in der Küche etwas aufgeräumt.
„Er lässt sich nichts nachsagen“, murmelte Nick. Seit Bragas die Hütte mit ihm teilte, gingen sie sich aus dem Weg wie ein zerstrittenes Ehepaar, trafen sich nur zu kurzen Besprechungen im Büro, um Aktionen abzusprechen und das war’s auch schon.
Noch ein paar Tage und ich hab ihn hier raus, dachte er.
Die Befragung der Einwohner war für den heutigen Tag angesetzt, sie hatten die Namensliste alphabetisch aufgeteilt und Nick hatte den Teil mit Ian McFadden an sich gerissen, aus lauter Angst, Bragas könnte sich doch an den Namen oder an das Gesicht erinnern.
„Diese Befragung fällt genau in die Vorbereitungszeit“, sagte Ian, als er ihn vor den Hütten traf, „ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Versuch es, Ian. Du stehst auf meiner Liste, also können wir es ruhig angehen lassen.“
„Was heißt das, ich steh auf deiner Liste?“
Er erklärte ihm, wie er mit Bragas die Namensliste aller Einwohner durchgegangen war, von A-Z, inklusive der indianischen Familien und unter einem eiligen Vorwand die erste Hälfte bis M für sich beansprucht hatte.
„Er wollte wissen, weshalb ich den größeren Teil erledigen wolle und es wäre gerechter, ich würde nur bis L befragen und den Rest ihm überlassen. Und dabei sieht er mich die ganze Zeit misstrauisch an, hat sofort Lunte gerochen. Ich hab ihm gesagt, ich hätte einen gesunden Vorsprung ihm gegenüber und hätte die meisten Leute schon kennen gelernt und mit ihnen gesprochen. Das hat er geschluckt.“
„Dann steht Carla auf seiner Liste.“
Nick hob die Arme seitlich vom Körper und ließ sie wieder zurückplatschen. In der Thermojacke fühlte er sich noch immer wie ein Marshmallowmann.
„Das ist doch kein Problem, er weiß ja nicht mal, dass ihr zusammen seid. Bleib locker. Es geht nicht um dich, es geht um John Doe.“
„Schon klar.“
Ian hatte den Aufruf am Mast einer Überlandleitung gesehen und sich da schon gefragt, welche Ausrede er sich einfallen lassen könnte. Die meisten der Tlingits, zumindest die Männer, würden mit Sicherheit nicht erscheinen, George hatte schon gesagt, ein toter weißer Mann würde ihn nicht interessieren und erst recht nicht von den Vorbereitungen zur Jagd abhalten. Er würde gerne irgendwelche Fragen beantworten, aber erst nach der Jagd.

Die Versammlung hatte den Charakter eines Volkfestes, Kinder liefen umher und spielten fangen, einige der Forscher, die den Weg hergefunden hatten, saßen etwas abseits, ein Häufchen Männer und Frauen, die den Tag herbeisehnten, an dem sie von hier verschwinden konnten. Die Mehrheit der Dorfbewohner waren Tlingits, die in Point Hope ihren Geschäften nachgingen und es aufgegeben hatten, nach den alten Regeln zu leben. Sie hatten ihre Hütten aus Holz gebaut, die Ritzen mit Moos abgedichtet und eine Parabolantenne auf dem Dach. Solche Gradwanderungen mochten den Reiz ausmachen, aber Reining war das zu aufreibend auf die Dauer. Ian trug wieder nur T-Shirt und eine Baseballkappe, deren Schirm er sich tief in die Stirn gezogen hatte und das Kinn in die Luft streckte, um sich umzusehen. In dem Gemeinderaum war es warm und stickig und es hätte nur noch Musik aus den Lautsprechern gebraucht, um vollkommen zu vertuschen, dass es sich um eine FBI Ermittlung handelte. Um einen kleinen Teil von Privatsphäre zu erhalten, hatten Nick Reining und Gregory Bragas jeweils einen Tisch und zwei Stühle hinter einer spanischen Wand aufgestellt, ganz am Ende des Raumes an der winzigen Bühne. Für die Ansprache war nicht einmal das Mikro angeschlossen worden und Officer Svensson beanspruchte seine Stimmbänder, um den Anwesenden zu danken und kurz zu erklären, was weiter ablaufen sollte.
„Wir hätten besser von Haus zu Haus gehen sollen“, sagte Nick.
„Dann hätten sie damit angefangen, Kollege. Ich hab keine Lust, wochenlang die Iglus abzuklappern und mich dabei vergeblich verständlich zu machen.“
„Sie sind nicht nur von Schwachsinnigen umgeben. Kollege.“
Sie lächelten sich an, jeder dachte sich den Rest und dann nahmen sie an ihren Tischen Platz, etwa zehn Meter Luft zwischen sich, aber selbst das reichte nicht aus, um die offene Rivalität abzumildern.
Bragas versuchte noch bei den ersten zwei Dutzend ein freundliches Gesicht zu machen, aber diese Maske fiel schnell von ihm ab, ohne dass er es merkte. Er stellte seine Fragen, hakte Namen ab, machte Notizen und sagte danke, der nächste bitte. Immer wieder wanderte sein Blick zu Nick Reining hinüber, der mit krummen Schultern unter seinem Schild A-M hockte.
„Manchmal schießen wir mit den Gewehren auch nur so in die Luft“, plauderte Albie Newton fröhlich, wiegte dabei den Kopf hin und her, als müsse er beim sprechen den Takt halten, „um sie zu vertreiben und von der Siedlung fernzuhalten, aber oft hält sie das nur für Stunden fern, das klappt nicht immer.“
„Wovon reden sie?“
„Von den Eisbären. Man glaubt erst, wie furchtbar groß sie sind, wenn sie sich vor einem auf die Hinterbeine stellen. Sie stinken. Ab und zu fressen sie die Schlittenhunde, aber ich hab auch schon gesehen, wie sie mit den Hunden gespielt haben, als wären sie nichts als große Teddybären.“
Bragas nickte bedächtig, fragte sich noch immer, worauf dieser Clown hinaus wollte.
„Ich kann mir vorstellen“, sagte Albie, hin und herwiegend, „dass jemand einen Polarbären verjagen wollte und etwas zu tief in die Wolken gefeuert hat.“
Bragas verdrehte die Augen, sah wieder zu Nick hinüber, der einen Kerl mit Baseballkappe an seinem Tisch sitzen hatte, mit dem er sich angeregt unterhielt, aber keine Notizen machte. Er hatte den Kugelschreiber vor sich hingelegt, gestikulierte mit den Händen und machte den Eindruck, als würde er sich privat unterhalten. Albie folgte Bragas Blick, klopfte wüst mit den Knöcheln auf den Tisch und sagte: „Ian schießt nicht daneben, nicht mal besoffen.“ Und er fügte sehr vertraulich hinzu: „Er besorgt mir klasse russischen Wodka.“
„Mein Kollege hat sich offensichtlich bereits mit ihm angefreundet.“
Etwas daran ließ Agent Bragas aufmerksam werden; die Art und Weise, wie die beiden miteinander sprachen, sich gegenübersaßen, die entspannte Gestik zwischen den beiden. Er behielt das im Hinterkopf, entließ Albie Newton und hatte dann einen gut aussehenden jungen Eingeborenen vor sich, der nicht viel zu sagen hatte, dabei seine fehlenden Schneidezähne präsentierte.
„Wie soll ich denn was gesehen haben?“ fragte der Junge, „ich lebe am anderen Ende von Point Hope und im November bin ich in Kotzebue gewesen.“
Die Frauen drängten sich vor, weil sie wieder nach Hause wollten und die Kinder herumquengelten und keine von denen war eine wirkliche Hilfe. Nur eine Frau, die ihr Notizbuch mitgebracht hatte, zeigte Bragas ihre Eintragungen und tippte mit dem Finger darauf, dass sie Mitte November einen „bösen Wind“ vermerkt hatte. Bragas wollte wissen, was das bedeutete und sie meinte, einen bösen Wind könne man nicht erklären, man könne ihn fühlen und spüren, er ginge jedem bis auf die Knochen und ließe alle erschaudern, die sich ihm aussetzten und man bräuchte Tage, um sich davon zu erholen. Das sei der böse Wind, nicht mehr und nicht weniger. Er zögerte, diesen Blödsinn zu notieren, tat es dann aber doch. Sehr lautstark bekam er zu hören, wie ein Mann mit starkem Akzent etwas von einem Amok laufenden japanischen Walfänger mit einem Schwert berichtete, alle umherstehenden damit zum Lachen brachte. Sie standen zusammen und tranken den bereitgestellten Kaffee, als seien sie nur wegen der literweise freien Getränke hergekommen.
Etwa im letzten Drittel, als seine Schreibhand sich zu verkrampfen begann, setzte sich endlich die Lehrerin zu ihm, er machte einen schwungvollen Haken hinter ‚Carla Winman’. Sie konnte über den fraglichen November nichts sagen, aber natürlich befragte er sie etwas gründlicher als alle anderen; es interessierte ihn einfach, wie so eine nette junge Frau in Alaska gelandet war.
„Ich habe schon an der Westküste als Lehrerin gearbeitet, aber ich war zu jung.“ Carla war nervös. Sie wollte nicht über ihre Vergangenheit sprechen.
Gib ihm irgendwas, womit er zufrieden sein kann, fuhr es ihr durch den Kopf, und bleib möglichst weit weg von den üblen Sachen.
„Ich war drei Monate in dem Job an der Schule, dann wurde ich entlassen und ich bin wirklich in Schwierigkeiten geraten, weil ich gerade erst meine Wohnung eingerichtet und mir ein Auto gekauft hatte. Die Bank war nicht begeistert. Ich habe ein Angebot aus Alaska bekommen und mir ist nichts anderes übrig geblieben, als es anzunehmen.“
„Sie mussten ihre Schulden bezahlen.“
„Ich war gezwungen, mein ganzes Leben umzukrempeln, Agent Bragas.“
„Sie scheinen es geschafft zu haben.“ Bragas brachte ein Lächeln auf sein Gesicht, was Carla antworten ließ: „Ian hat mir dabei geholfen.“
Sie drehte sich auf dem Stuhl herum, suchte den Raum ab und deutete auf die Seite, wo Ian der Wand gelehnt stand und qualmte. Sein Gesicht war durch die Baseballkappe verdeckt, trotzdem erkannte Bragas ihn wieder, natürlich, das war Reinings Freund.
Bragas faltete die Hände ineinander, zeigte das freundlichste verständnisvollste Gesicht, das er drauf hatte und fragte: „Irgendwie habe ich den Eindruck, dass die beiden gute Freunde sind – Ian und Nick Reining. Aber vermutlich sehe ich Gespenster.“
Er machte eine komische Grimasse, Carla kicherte und konnte kein Argument finden, um es ihm nicht zu sagen; wo Ian doch selbst gesagt hatte, dass er sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen.
„Sie kennen sich von früher“, erklärte sie, „aber das ist eine längere Geschichte und die müssen sie ihm schon selbst aus der Nase ziehen. Tut mir wirklich leid, dass ich ihnen nicht weiterhelfen konnte, wir sind doch fertig, oder?“
„Aber natürlich. Vielen Dank noch mal.“
Das liebte er an seinem Job. Es wurde nie langweilig, selbst unter solchen schlechten Vorraussetzungen hier in Point Hope. Jetzt wusste er, weshalb Nick Reining darauf bestanden hatte, A bis M abzufertigen, er tat es nicht aus Kollegialität oder purem Arbeitseifer und auch nicht, weil er die Leute angeblich schon kannte – er wollte nur verhindern, dass Bragas seinen Freund mit der Kopfbedeckung unter die Lupe nahm.
Okay, dachte er zufrieden, ein paar Tage lasse ich euch zappeln. Mal sehen, wer von uns dann mehr Spaß hat.
Von den Wissenschaftlern deren Namen Nick mit einem Sternchen markiert hatte, waren nicht alle erschienen, zeigten sich aber sehr auskunftsfreudig, wenn sie auch so weit auf dem Eis lebten, dass sie ihm nicht weiterhelfen konnten. Mrs. Myers, deren Sohn beim Spielen die Leiche gefunden hatte, war eine kleine runde Frau mit blondem Haar, das genaue Gegenteil ihres Mannes. Es war kaum zu glauben, dass die beiden ein Paar waren und wie Wissenschaftler sahen sie auch nicht aus. Mrs. Myers war irgendwie ständig darauf bedacht sich für ihren Sohn zu entschuldigen, ganz so, als träfe Jimmy irgendeine Schuld an der Sache. Reining sagte, ihr Sohn sei ein wirklich aufgewecktes Kerlchen und sie solle sich keine Gedanken machen, zeigte Interesse an dem stattlichen Forschungsauftrag und bekam die Einladung, sich einmal alles ansehen zu dürfen. Dieses Marathonverhör hatte an Reinings Nervenkostüm gezerrt, aber wirklich müde machte ihn der Gedanke, dass nichts wirklich Interessantes dabei rumgekommen war. Selbst Helen Hyde hatte ihm nur sehr ausführlich geschildert, dass am 17. November Duke verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht war.
Der 17. November, der einzige Tag, an dem etwas Bemerkenswertes geschehen war.

***
In den Journalen fand Nick die Namen der drei Eisbrecher, die Point Hope angelaufen hatten und am Abend, der viel zu schnell kam, saß er wieder bei Ian und störte ihn bei den Vorbereitungen, verriet ihm auch seinen Widerwillen, in Sergejs Hütte zurückzukehren, weil er es einfach leid war, mit Bragas unter einem Dach zu schlafen.
„Wie heißt der?“ rief Ian, kam an die Tür und faltete ein kariertes Hemd vor dem Bauch zusammen.
„Gregory Bragas.“
Ian grunzte belustigt und sagte: „Du kannst hier schlafen, wenn du willst.“
„Was?“
Das zusammengefaltete Thermohemd landete in einem großen blauen Rucksack, zwei Paar gerollte Socken folgten, Ian schlurfte in die Küche, kam mit einem dünnen Sandwich zurück, das er bereits mehrere Male angebissen hatte, jeweils an den gegenüberliegenden Ecken.
„Ich sage, wenn dir dein Partner auf die Nerven geht, kannst du hier schlafen. Du kannst hier einziehen. Ich bin für zwei Tage weg, vielleicht auch für länger, aber wenn du noch länger bleiben willst – kein Problem.“
„So lange dauert das, was ihr vorhabt?“
„Es wird schnell geschossen, aber es gibt danach ein gesundes Komasaufen.“
Ian hatte alte Fotos an den Wänden hängen, sorgfältig gerahmt und aneinander ausgerichtet, aber sie alle zeigten alte Männer mit Schlittenhunden oder Indianer mit bunten Holzmasken bei rituellen Tänzen. Ein vermummter Mann stand neben einer erlegten Robbe. Die Fotos hatte er aus einem aufgelösten Archiv und bei den meisten kannte er weder die Namen noch die Orte, die sie zeigten. Kein einziges Foto zeigte ihn, weder aus der Vergangenheit noch aus der Gegenwart. Nick Reining betrachtete die Fotos eingehend.
„Ich werde dein Angebot annehmen, wenn ich auch nicht gerne das Feld räume und diesem Arsch die Baracke überlasse. Ian, wenn ich nur den Namen eines Eisbrechers habe, wie bekomme ich heraus, wo er gerade ist?“
„Nichts einfacher als das.“
Vor dem Motorschlitten, auf dem bereits Rucksack und ein Seesack festgezurrt waren, rauchten sie eine Zigarette zusammen und Ian erklärte: „Du hast doch das Sattelitentelefon. Ruf einfach den Seefunkdienst an und lass dich durchstellen zum Schiff. So einfach ist das.“
„Werde ich machen. Kennst du all diese Leute auf den Fotos?“
„Es sind alte Fotos von Point Hope und Barrow, aber ich hab keinen Schimmer, wer da überall drauf ist. Carla hat mich ständig gelöchert, ich solle etwas Persönliches aufhängen in meiner Hütte und dann hab ich ihr gesagt, dass meine persönlichen Sachen alle über Bord gegangen sind. Die Fotos sind Erinnerungen von jemand anderem, aber als Ersatz sind sie Okay.“
„Was war mit Duke?“
„Was soll gewesen sein?“
„Helen Hyde hat mir erzählt, dass er am 17. November verschwunden ist, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als unser Eismann den Löffel abgegeben hat.“
Ian legte den Kopf schief, bückte sich etwas nach vorn, um die juckende Stelle über dem alten Bruch zu kratzen; es war wirklich albern, er hatte so viele Narben an seinem Körper, die sich nie meldeten, aber dieser blöde einfache Bruch machte immer wieder Ärger.
„Hat man dir auch erzählt, dass ein paar von den alten Weibern das Gespenst auf dem Eis gesehen haben? Vielleicht hatte das auch was mit dem Eismann zu tun.“
„Ich weiß von keinem Gespenst. Aber der Hund hat dir viel bedeutet, also was glaubst du, kann mit ihm passiert sein? Ein Hund wird doch nicht in diese Einöde laufen, er würde in menschlicher Nähe bleiben. Hast du dir keine Gedanken darüber gemacht?“
„Ich wollte längst weg sein, Nick.“
Ich lass mir doch von dir keine dummen Fragen stellen, du drehst mein Inneres nicht nach außen.
Er stieg auf den Motorschlitten, warf aber den Motor noch nicht an, weil er wirklich darüber nachdachte, weshalb er Duke nur so halbherzig gesucht hatte. Selbst jetzt erschien es ihm zu einfach, diese Frage mit einem „ich wusste, dass er tot war“ zu beantworten. Zwar hatte er gedacht, dass Duke in den nächsten Tagen von allein zurückkommen würde und wenn nicht, könnte er mit Sicherheit davon ausgehen, dass er nicht mehr lebte, aber diese Vermutung hatte er nie jemandem anvertraut. Die drei Huskies hatte er zu George gebracht, den Zwinger abgerissen.
„Du meinst, ich hätte überall Flugblätter aufhängen sollen, um ihn wieder zu finden. Das kann man sich hier sparen, weil jeder jeden Hund kennst. Wäre Duke noch in Point Hope gewesen und ihn hätte jemand gesehen, wären sie zu mir gekommen. Er war riesig für einen Malamute und er ließ sich noch längst nicht von jedem anfassen. Kann ich jetzt endlich losfahren, Nick? Hab ich deinen Segen?“
„Willst du mir die Schlüssel für deine Hütte dalassen?“
„Ich hab nicht mal welche“, sagte Ian.

Helen Hyde kam auf die Idee, die beiden FBI Agenten zum Essen einzuladen und da sie wusste, dass Ian nicht da war, lud sie auch Carla ein. Mit ihr versuchte sie das Menü zusammenzustellen, aber sie wurden immer wieder von Percy gestört, der mit gut gemeinten aber nutzlosen Ratschlägen in die Küche kam.
„Es gibt nur eine Regel heute Abend“, meinte Helen, schwang warnend den Probierlöffel, „kein Wort über den Eismann.“
„Jetzt nennst du ihn auch schon so.“
„Alle nennen ihn so.“
Carla hob zwei Finger zum Schwur und sagte sehr feierlich: „Ich verspreche, dass ich nicht davon anfangen werde. Hoffentlich halten sich die beiden Herren auch daran. Aber sie werden sich schwer tun, nicht darüber zu reden, schließlich haben sie sonst nichts gemeinsam.“
„Ich möchte nur, dass wir einen netten Abend haben.“
Während der Zubereitung probierte Carla so viel aus den Töpfen, dass sie keinen Hunger mehr hatte. Außerdem war sie immer unruhig, wenn Ian auf Jagd war. Jedesmal hatte sie Angst vor tödlichen Unfällen, verirrte Kugeln, angeschossene amoklaufende Elche, Felsabstürze und was sie sich noch alles vorstellen konnte.
„Ich werde nicht viel essen können“, gestand sie, als sie alle gemeinsam am Tisch saßen, sah lächelnd in die Runde, „wenn Ian auf Jagd ist, spielt mein Magen nicht mehr mit. Zum Glück gehen sie nicht oft auf Elche und Karibus.“
„Wer ist noch mit von der Partie?“ fragte Gregory Bragas, tunkte ein weiteres Stück Brot in den Rest seiner Suppe. Er trug ein hellblaues Jeanshemd, was ihn in Verbindung mit seinem dunklen Vollbart jünger und freundlicher aussehen ließ und das ließ Reining auf einen ausgeglichenen Abend hoffen; vielleicht konnte Bragas privat den Kotzbrocken drin lassen.
„Nur die Tlingits, die draußen leben. George Koonook schickt die Kinder zwar zur Schule, aber er und seine Familien leben nach der alten Tradition. Soweit es in dieser Zeit überhaupt noch möglich ist.“
Carla sah Nick einen Augenblick fragend an, fuhr fort: “Ian ist der einzige, der an den rituellen Jagden teilnehmen darf. George und er sind gute Freunde.“
Vor der Tür hatte Nick Reining Carla abgefangen und mit ihr geflüstert, um zu verhindern, dass sie zu viel über Ian ausplauderte. Sie hatte sich erstaunt aber einverstanden gezeigt und versprochen, nicht zu viel zu sagen.
„Ich bin keine Plaudertasche“, hatte sie zurückgeflüstert, „und außerdem hab ich immer noch keine Ahnung, was zwischen ihnen beiden eigentlich vorgegangen ist.“
„Ian war Polizist, aber davon soll niemand etwas wissen, auch Bragas nicht.“
Carla reagierte, als hätte sie es bereits geahnt; deutete mit ihrem Daumen himmelwärts, was Nick zum lachen brachte, später dachte er daran, dass er noch nicht lange in Point Hope war, aber schon verstand, was Ian hier gefunden hatte und was ihn festhielt.
„Ich hoffe, sie mögen alle die italienische Küche“, sagte Helen, als sie die Suppe auftrug, „mir mangelte es zwar an einigen Kräutern, aber ich denke, es ist uns ganz gut gelungen.“
Sie saßen an einem runden Holztisch mit rot-weißen kariertem Tischtuch, ein Ölofen bollerte in der Ecke und vertrieb die Kälte, die von der Tür herein zog. Es war so angenehm warm, dass Carla ihren Pullover auszog und ein Konzert-T-Shirt von Bruce Springsteen vorzeigte, das in einigem Kontrast zu ihrem kurzen Rock stand, und Percy dazu veranlasste nach der Identität dieses Mannes zu fragen. Im Hintergrund spielte etwas Pseudo-Klassisches, es mochte müßige Filmmusik sein, passend für einen ruhigen Abend.
„Ob wir noch einen Eisbären zu Gesicht bekommen?“ fragte Nick in die Runde.
„Gut möglich, aber ich wünschte, wir würden von ihnen verschont bleiben. Fahren sie mit jemandem aufs Eis raus, da begegnen sie sicher einem.“
Bragas, der schräg gegenüber von Carla Platz genommen hatte, lächelte in die Runde, wandte sich dann direkt an Nick, der neben ihm saß.
„Ich wollte sie aus der Hütte nicht vertreiben“, sagte er, „tut mir leid, wenn es für zwei zu eng geworden ist.“
Nick sah ihn nicht direkt an, weil er nicht sehen wollte, ob er es ehrlich meinte, ging aber gut gelaunt darauf ein.
„Kein Problem, Kollege, in Ians Heim ist mehr Platz als nötig. Er scheint so oft unterwegs zu sein, dass ich dort auch allein hausen könnte.“
„Ian ist ein Mann mit schlechtem Schlaf“, behauptete Percy.
Sie beendeten den Hauptgang, Fisch und Maccaroni, Carla holte den Nachtisch, war sich dabei gewusst, dass Gregory Bragas sehr genau ihre Beine in Augenschein nahm. Sollte er sich ruhig ansehen, was er niemals kriegen würde. Er mochte ein Staatspolizist sein, aber er war auch ein Mann; bevor sie sich Ärger einhandelte, tat sie lieber so, als habe sie es nicht bemerkt. Die Hydes erzählten von den alten Zeiten in Point Hope, als die Tlingits noch unter sich waren und kein weißer Mann auf die Idee gekommen wäre, sich dort niederzulassen. Seit zweitausendfünfhundert Jahren lebten Menschen in der Region, auf der Landzunge, die weit ins Meer reichte und irgendwann Point Hope genannt wurde. Sie sagten, sie würden mit niemandem mehr tauschen wollen, selbst wenn das Leben hart und entbehrungsreich sein mochte.
„Wer landet hier?“ fragte Bragas, nachdem er die Aufgabe übernommen hatte, die nächste Flasche Wein zu öffnen. „Gibt es wirklich so viele Idealisten und Abenteurer?“
„Die meisten sind Seeleute, die hier ihren Hafen haben, einige bleiben für kurze Zeit und verschwinden wieder. Ab und zu kommen ein paar Russen über die See herüber. In Kotzebue gibt es viele Künstler, Maler, Fotographen, Bildhauer, damit können wir nicht aufwarten. Unser Dorf ist einfach zu klein.“
Percy Hyde ließ sich das Glas mit Wein füllen, ignorierte die Bemerkung seiner Frau, dass er morgen seinen Schädel doppelt und dreifach spüren würde.
„Was ich die ganze Zeit schon fragen wollte: warum brennt bei Albie Newton Weihnachtsbeleuchtung im Fenster?“ wollte Nick Reining wissen und die Hälfte des gemütlichen Abends bekamen sie die skurrilen Geschichten von und mit Albie Newton zu hören.

***
Die Hunde, die die drei Schlitten zogen, waren trainiert und wild darauf, mehr zu leisten, sie jaulten und sprangen nach vorn, zerrten an den Leinen, während George Koonooks Familie die Schlitten bepackten, die Männer Abschied von den Frauen und Kindern nahmen. Sie ließen zwei der Jugendlichen mitfahren, die endlich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden sollten. George hatte ihnen versprochen, dass Ian ihnen das Schießen beibringen würde, allerdings nur unter der Vorraussetzung, dass sie sich benahmen und sich an die Regeln hielten. Die Hunde zogen sie bis in die deLong Mountains, in einem schnellen gleich bleibenden Tempo, bis sie die ersten Spuren im Schnee fanden. Tuma und Adamee, die Frischlinge der Familie, waren auf Ians Schlitten mitgefahren, und als George das Kommando zum Halten gab, sprangen sie ab, machten die hechelnden Hunde fest und Adamee hielt sich an Ian, war so eifrig bei der Sache, dass Tuma ihm zuraunte, er sei ein Arschkriecher. Adamee zeigte ihm als Antwort nur den Finger. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, besser zu sein als Tuma, der immer nur die Klappe weit aufriss; er würde ihm schon zeigen, was er drauf hatte. Deshalb ging er Ian zur Hand, bot sich an, seine Sachen zu tragen und sagte ihm in einem wirklich überzeugendem Ton, dass er perfekt schießen lernen wolle, er würde sich Mühe geben und alles tun, was von ihm verlangt wurde.
„Wie sind deine Augen?“ begann Ian, „wie weit kannst du scharf sehen?“
Adamee hob den Kopf, seine Zungenspitze ragte aus dem Mundwinkel, wie bei einem Erstklässler, der versucht, einen neuen Buchstaben zu malen, und schließlich nannte er das Objekt, das er noch erkennen konnte. Dabei war er grundehrlich, dachte nicht einmal daran zu lügen und sagte mit fester Stimme: „Die Pinie auf dem Hügel, die mit der abgebrochenen Spitze.“
„Okay“, sagte Ian, sah in die selbe Richtung, strich sich mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht. „und jetzt versuch dir vorzustellen, wie lange eine Kugel bis zu der Pinie unterwegs ist. Hast du schon mal fotographiert?“
„Ja?“
„Auf wie vielen Fotos, die du bei Partys und bei Familientreffen geschossen hast, ist dir jemand vor die Linse gelaufen in dem Moment, als du abgedrückt hast?“
„Ich weiß nicht.“
„Zehn Fotos? Die du dir ansiehst und wegschmeißt, weil du einen undeutlichen halbkahlen Schädel erwischt hast, während deine Freunde noch immer grinsen wie die Idioten und sich aneinander festhalten, um nicht umzufallen. Sagen wir zehn. Bei einer Gewehrkugel macht das keinen Unterschied; du bist dabei so sehr auf das entfernte Ziel konzentriert, dass du gar nicht mitbekommst, ob dir jemand in den Schuss läuft. Es ist nie damit getan, das Gewehr zu entsichern, das Ziel zu sehen, anzuvisieren und abzudrücken. Du übernimmst in dem Moment die Verantwortung für alles, was sich im Umkreis von deinen Füßen bis dort hinüber zur Pinie ereignen kann. Die Kugel kann ihr Ziel erreichen, aber es kann auch dein kleiner Bruder vorbeilaufen. Jemand kommt auf einem Motorschlitten vorbei. Nimmst du eine Waffe zur Hand, musst du dir darüber im Klaren sein. Du kannst deine Familie vor dem Verhungern retten mit einem platzierten Schuss und du kannst eine Katastrophe auslösen. Willst du’s noch immer lernen?“
„Ich werde das alles lernen, genauso, wie ich die Beschaffenheit des Eises auf der North Slope erkennen kann“, sagte Adamee. Sein Hals war trocken und er fühlte sich, als würde er gleich losweinen müssen und er war schon nicht mehr ganz so scharf darauf, erwachsen zu werden. Vielleicht sollte er Tuma doch den Vortritt lassen.
Um den Spuren der Karibus zu folgen, ließen sie die Hunde in dem Lager zurück, quälten sich zu Fuß durch den tiefen lockeren Schnee.
„Was hast du ihm erzählt?“ fragte George, deutete mit dem Kinn zu Adamee hinüber, der mit gesenktem Kopf und ernstem Gesicht neben den anderen hermarschierte.
„Ich hab ihm nur erzählt, welchen Weg die Kugel nehmen kann“, sagte Ian, „ich habe eine Verantwortung zu tragen, wenn ich ihnen ein Gewehr in die Hand gebe, George. Sie haben zwar heute nicht das erste Mal eine Waffe in der Hand, aber das hier ist was anderes als auf Blechdosen zu schießen.“
„Das Wetter wird umschlagen, der Wind ist zu trocken. Ian, erzähl mir, wie das FBI vorankommt.“
Sie steuerten einen bewaldeten Bergkamm an, hinter dem sie Karibus vermuteten, deshalb flüsterten sie, senkten die Stimmen so weit wie möglich.
„Es gibt nichts Neues an der Front. In den nächsten Tagen komme ich mit Nick vorbei, aber das ist nur ’ne Formsache. Scheiße, ich bin so müde, dass ich kaum noch meine Augen offen halten kann.“
„Du hast wieder schlecht geträumt.“
„Ich dachte, Duke sei irgendwo, ich hab ihn bellen und jaulen gehört, ich konnte ihn riechen, aber es war, als wäre er immer hinter der nächsten Ecke versteckt. Und ich war nicht in Point Hope, ich war wieder zu Hause. Verflucht.“
George machte eine Handbewegung, sie alle erstarrten, hielten den Atem an, verschmolzen mit der Umgebung. Ian sah von einem zum anderen, ohne dabei den Kopf zu bewegen, er atmete ganz langsam durch den Mund, konzentrierte sich auf ein- und ausatmen, dass um ihn herum alles seinen natürlichen Lauf verlangsamte. So etwas lernte man nicht auf dem College, in der Polizeischule oder beim Training in einem Box-Club; es war sein Geheimnis, was seine Treffsicherheit anging, ein scharfes Auge und die Fähigkeit, seinen Puls in kürzester Zeit so ruhig zu bekommen, als sei er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Der Wind frischte etwas auf, strich durch die hohen Bäume und wehte den lockeren Schnee über die Anhöhe, hinauf in einen stahlblauen Himmel. George machte eine kurze Geste nach vorn und sie setzten sich vorsichtig in Bewegung, Tuma und Adamee blieben merklich zurück, schlossen erst auf, als George und Ian unmittelbar auf der weichen Kante im tiefen Schnee lagen. Die letzten Meter waren sie auf den Bäuchen gerobbt, warteten dann, bis die Nachzügler neben ihnen waren. Tuma schnaufte wie ein Walross, stützte sich bäuchlings auf die Ellebogen, hob den Kopf über die Kante und erstarrte. Unter ihnen stand ein Elchbulle, ein riesiger Einzelgänger, der friedlich graste, hin und herwanderte, nur ab und zu den Kopf hob und die dicke Nase in den Wind hielt. Er sah aus wie ein freundlicher alter Onkel, der den Kindern aus der Nachbarschaft Schokolade und Bonbons schenkte und noch Jahre davon entfernt war, so wunderlich zu werden, dass er die Kinder von seiner Veranda jagt und sie als kleine brüllende Monster bezeichnet. Adamee zitterte am ganzen Körper, aber nicht wegen der Kälte sondern vor Aufregung. Das Nervenfieber hatte ihn gepackt, trotzdem war er hin- und hergerissen zwischen dem Bild des freundlichen Onkels und dem Wunsch zu töten. Er fragte sich, ob das immer so sein würde, wollte Ian neben sich danach fragen, aber Ian zischte unmerklich durch die Zähne, als er nur Luft holte; deutete auf das Gewehr und nickte.
„Es ist ein alter Bulle. Er hat lange gelebt und viel gesehen und er gehört dir. Du entscheidest jetzt, was passieren wird. Kannst du das?“
Adamee schluckte trocken und nickte, das Zittern ließ endlich nach und er bereitete sich auf seinen Schuss vor. Im Fadenkreuz des Jagdgewehrs fand er das braune Fell des Tieres wieder, Insekten umschwärmten den Kopf und das Geweih, aber er visierte das Schulterblatt an, so wie er es gelernt hatte. Hinter dem Schulterblatt lagen Herz und Lunge und wenn er seine Sache gut machte, würde der einsame Wanderer nicht mal merken, was los war. Erst, als er auf den Elch zielte, sein Leben durch das Fadenkreuz sah, wusste er, wie schwer die Verantwortung wiegen konnte, die Verantwortung eines fremden Lebens in seinen Händen. Er schloss das linke Auge, folgte der langsamen Bewegung des Elches und drückte ab. Der Knall scheuchte Krähen aus den Bäumen auf, die schimpfend davonflogen, unter ihnen am Boden versuchte der Elchbulle mit hochgerissenem Kopf davonzugaloppieren, aber er schwankte und brach zusammen, keine zwei Meter von der Stelle entfernt, an der er gegrast hatte. Adamee war nach einem Triumphschrei zumute, er sprang auf und rannte rutschend und stolpernd den Abhang hinunter, gefolgt von Tuma, der ihm dicht auf den Fersen blieb, vor lauter Jagdfieber seine Eifersucht vergaß. Die Erwachsenen folgten ihnen etwas vorsichtiger, sparten ihre Energie. Sie mussten das Tier noch bis ins Lager zurücktransportieren.
Im Lager fütterten sie die Hunde, machten ein Lagerfeuer und tranken viel vom mitgebrachten Wodka, während George alte Geschichten erzählte, in der alten Sprache, die Ian nur bruchstückhaft verstand. Er trank ein halbes Einweckglas von dem Wodka, der es nicht schaffte, ihn betrunken zu machen. Die kurze Nacht brach an und noch immer erzählte George, nur unterbrochen von den Stimmen der Hunde, die abseits angebunden waren und wegen des Fleischgeruchs nicht zur Ruhe kamen. Tuma kam zu Ian, bot ihm wortlos eine seiner filterlosen Zigaretten an, von denen Ian die ganze Nacht husten würde.
Tuma, ein Jahr jünger als Adamee, rauchte dieses Kraut noch nicht lange, aber er konnte schon nicht mehr morgens aufwachen, ohne von kräftigen Hustanfällen durchgeschüttelt zu werden. Er behauptete von sich, er würde es nehmen wie ein Mann, konnte am Rauchen nichts Negatives entdecken. Tuma gab vor, dem alten Mann ergeben zuzuhören, aber im Schatten, wo es niemand sehen konnte, zupfte er mit zwei Fingern an Ians Ärmel. Er tat das so vorsichtig, dass Ian es zunächst nicht bemerkte, Tuma musste einmal kurz durch die Zähne zischen; als Ian ihn ansah, deutete er zu Adamee hinüber, der mit untergeschlagenen Beinen in der Runde hockte, sein Platz war neben George und sein undeutlich erkennbares Gesicht aus flackerndem Licht und Schatten erschien ernst und nachdenklich.
„Was ist los mit ihm?“ wisperte Tuma, ließ die Zigarette zwischen seinen Wurstfingern verglimmen, „er sollte herumhüpfen und sich besaufen, schließlich war er als erster an der Reihe und nur, weil er elf Monate älter ist. Gestern hat er mir noch erzählt, was er nach der erfolgreichen Jagd alles tun wird. Und jetzt hockt er da. Ich versteh das nicht.“
Ebenso leise antwortete Ian, den Blick auf Adamee gerichtet, während er mit einem Ohr der Erzählung Georges lauschte: „Du wirst es noch verstehen.“
Mehr sagte er nicht. Morgen würde auch Tuma über das Erwachsen werden anders denken. Der Wodka brannte ganz unten in seinem Magen, als wolle er sich den Weg nach draußen ätzen, auf auf ab in die Freiheit. Das Brennen ließ sich ignorieren, so wie er sehr vieles ignorieren konnte in seinem Leben. Tuma gab die vorsichtige Haltung auf und fragte direkt an ihn gewandt, Georges Singsang ignorierend: „Hast du Geschwister, Ian? Jemand, mit dem du erwachsen geworden bist?“
Er dachte an die Kinder, an das alte Haus und die Scheune, in der sie alle gehaust hatten und die alte Erinnerung daran machte das Brennen des Wodkas wirklich zur Nebensache. Er behielt es im Hinterkopf, während er daran dachte, dass er Tuma irgendeine Antwort geben musste. Er konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, weil davon niemand etwas wissen sollte. Er konnte sich schnell etwas plausibles einfallen lassen, das konnte er wirklich gut, er ließ sich seit ewigen Zeiten Geschichten einfallen, bei denen jeder nickte und zur Tagesordnung überging, weil es einleuchtend klang, was er sagte. In dieser Nacht, die so kurz schien wie ein Schluck aus der Flasche und schallendes Gelächter, in der zwei Jungs erwachsen wurden, schien es mit einmal richtig zu sein, etwas mehr von sich preiszugeben. Einmal würde es so kommen und warum nicht jetzt, während die Wolkenfetzen über ihren Köpfen hinwegjagten und die Hunde endlich etwas Ruhe fanden, das Lagerfeuer immer wieder frisch aufloderte.
„Ich hatte eine Menge Geschwister“, sagte er, „als ich acht war, sind wir getrennt worden, man hat uns auseinander gerissen und in verschiedene Familien untergebracht. Wir waren drei Mädchen und vier Jungs, aber aufgewachsen bin ich in einer Familie in Kansas und da hatte ich nur einen älteren Bruder. Von meinen richtigen Geschwistern leben noch drei, als wir getrennt wurden. Ich hab keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist.“
Tuma zeigte im Feuerschein ein unbewegtes Gesicht, aber er zweifelte nicht daran, dass es etwas war, woran Ian nur mit Schrecken und Unwillen zurückdachte.
„Weshalb hat man euch getrennt?“
„Das ist keine Geschichte für heute Nacht“, erwiderte Ian.
„George hast du es erzählt, oder?“
„Als er mich das erste Mal mitgenommen hat.“
Für Ian war es gar nicht so lange her, dass er George in Hydes Laden kennen gelernt hatte und fast unmittelbar zur Jagd eingeladen worden war, als hätte der alte Tlingit ihm an der Nasenspitze angesehen, dass er mit dem Gewehr umgehen konnte. Die Jagd war damals nicht das Entscheidende gewesen, eher der Gedanke, dass George von ihm hören wollte, was ihn nach Point Hope verschlagen hatte und er der erste Mensch seit langem gewesen war, dem er alles erzählt hatte. Vielleicht hatte er gemeint, einem Tlingit mochte es nichts ausmachen, so etwas zu hören, war um so erstaunter gewesen, als er George Koonook hatte weinen sehen.
Tuma war noch ein richtiges Kind gewesen, als er Ian das erste Mal begegnet war. Die erste Jagd auf dem Eis war gleichzeitig Ians erste Begegnung mit einem Polarbären gewesen; sehr bedrohlich, selbst aus der Entfernung, ein massiges Tier mit kleinen schwarzen Augen, die aus dem weißen Schädel heraus sahen, riesige Pranken, die ihre Spuren um Iglus und Hütten der Tlingits hinterließen. George hatte das Gewehr, aber Ian sollte schießen, wie er sagte, es würde ihnen nichts anderes übrig bleiben. Wenn die Biester sich erst einmal an die Abfälle und den menschlichen Geruch gewöhnt hatten, würde man sie nicht mehr los und er wollte nicht abwarten, bis eines der Kinder dran glauben musste. Ian widersprach nicht, es war ihm herzlich egal, ob dieser eine Eisbär lebte oder nicht; sie verfolgten ihn und erwischten ihn einige Meilen südlich der Siedlung, weit hinter dem Schild, das in der Öde stand und vor den Bären warnte. Auf dem langen Weg zurück hatte George ihn nach seiner Geschichte gefragt und er hatte sie erzählt.
Tuma konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie George nach Hause gekommen war, nur kurz mitteilte, dass der Bär erlegt sei und dass Ian McFadden, der Herumtreiber, der mit dem Schiff angekommen war, ein ganz guter Jäger sei. Niemand solle den Fehler begehen und ihn unterschätzen, nur weil er stumm und unscheinbar durch die Gegend schlich.
Auf der anderen Seite des Lagerfeuers wurde aus Georges Singsang plötzlich ein heiteres Gelächter, in das alle einstimmten und obwohl Ian zu wenig von all dem verstand, hörte er „Nishino“ heraus und grinste breit, denn diese Geschichte kannte er nur zu gut. Er nötigte seinem Einmachglas einen letzten Schluck ab, lehnte sich zurück und war irgendwann eingeschlafen.
 
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Kommentare  

Wirklich sehr spannend. Wann kommt das nächste?

Petra (08.05.2009)

Hm, noch immer ist nicht klar, wer der Tote im Eis ist. Ian scheint mehr zu wissen als er vorgibt. Nick verschont ihn vor härteren Befragungen. Gregory Bragas liegt aber bereits auf der Lauer. Lange wird Bragas das bestimmt nicht mehr so durchgehen lassen.

doska (04.05.2009)

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