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16 Seiten

Point Hope - Teil 2

Romane/Serien · Spannendes
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„Ich kenne Nick Reining von früher.“
Carla ließ diese Erklärung etwas einsickern und dachte: Okay...? Wo liegt das Problem? Es ist vielleicht nicht üblich, sich in Alaska über den Weg zu laufen, wenn einer von beiden FBI Agent ist, aber das heißt doch nicht, dass ich mir wegen dir Sorgen machen muss. Oder?
„Sag mir bitte, dass es nichts mit seinem Job zu tun hat. Dass man dich irgendwo sucht.“ Sie versuchte einen gefassten Ton anzuschlagen, stellte aber fest, dass das gar nicht einfach war. Wenn sie zu sehr darüber nachdachte, was schon dieser Satz bedeuten konnte, bekam sie es mit der Angst zu tun.
„Es gibt ein paar Leute, die mich gerne in die Finger kriegen würden, aber es ist niemand hinter mir her. Ich hab mir nie was zu Schulden kommen lassen. Das einzige, was mir jetzt einfiele wäre, dass ich als Kind einem Mädchen das Pony erschreckt habe und sie ist mit dem bockenden Monster über das ganze Feld gejagt, aber ich hab nie etwas angestellt, um das sich das FBI hätte kümmern müssen. Ich bin hier nach Point Hope gekommen, um meine Ruhe zu haben, aber damit ist Schluss, wenn Reining irgendwas ausplaudert.“
„Was könnte er denn ausplaudern, Ian?“
„Was bringt das, wenn ich’s dir erzähle?“
Sie hatte Ian sehr oft wütend gesehen. Wenn eine Gefühlsregung spontan aus ihm herausbrechen konnte, dann war es Wut; aber sehr selten hatte sie ihn so verunsichert gesehen. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, fixierte einen Punkt an der Wand und schien sich mühsam daran festzuhalten.
„Du hast also nichts getan? Reining wird dich nicht mitnehmen?“
Egal, was er getan hat, dachte Carla, nehmt mir diesen Mann nicht weg.
„Es war nie gegen das Gesetz.“
Sein Blick wanderte zu ihr herüber, er versuchte ein Lächeln und es misslang gründlich.
„Nick Reining ist ein Freund von damals. Wir haben uns während seiner Arbeit kennen gelernt. Jetzt ist er wegen der Leiche hier und er wird auch wieder verschwinden und uns in Ruhe lassen.“
„Du weißt, weshalb ich hier bin, Ian. Wir haben alle etwas zu verlieren. Halten wir zusammen, Okay?“


Nick Reining hatte das Gefühl, sich eine Taktik zurechtlegen zu müssen, um Ian zu begegnen. Mit Sicherheit hatte er nie jemandem in diesem Eskimodorf von seinem Leben in Kansas und in Newark erzählt. Er schloss eine Wette mit sich ab, dass Ian alles abstreiten würde, solange Zeugen anwesend waren, was in irgendeiner Weise seine Vergangenheit berührte. Deshalb musste er ihn allein erwischen.
Gut, dachte er, dieses Spiel kann ich ohne Probleme mitspielen, ich will nur nicht, dass er wieder vor mir davonläuft.
Er traf Officer Svensson bei den Hydes, wo sie erst einen Kaffee tranken, dann gemeinsam zum Gemeindehaus hinübergingen.
„Ich hatte schon geplant, eine kleine Gemeindeversammlung zu veranstalten“, sagte Bo, „damit alle auf dem Laufenden sind und vielleicht melden sich ja doch noch ein paar Zeugen.“
„Sie meinen, unter den dreihundert Seelen könnte es doch eine geben, die den Eismann kannte?“
„Ich denke, dass die Tlingits, die weiter draußen leben, vielleicht noch gar nicht wissen, dass wir hier eine Leiche haben.“
„Ich kann einer solchen Versammlung nicht zustimmen, noch nicht. Erzählen sie mir lieber etwas von den Schiffen, die hier anlegen und dem Packeis.“
Später notierte er: Küste ist von Oktober bis August von Packeis umgeben, zu dieser Zeit laufen nur Eisbrecher ein. Monat September ist eisfrei, ebenso die Beringstraße nach Sibirien. Viele kleine Schiffe nutzen die Route nach Point Hope im September. Sollte John Doe im September gestorben sein, haben wir ein Problem. Und darunter notierte er ganz klein: Packeis heißt sarrik.
Officer Svensson hatte ihm auch erklärt, weshalb es schwierig war, den Weg der Schiffsbesatzungen zu folgen und warum niemand einen Seemann als vermisst meldete, nur weil er nicht mehr an Bord erschien. Sie hatten in seinen Logbüchern geblättert, dicke Bände voller handschriftlicher Zeilen, Schiffsnamen, Herkunftsländer, Ladungen, persönliche Kommentare.
„Die Walfänger sehen wir am häufigsten“, erklärte Svensson, „und die, die den meisten Ärger machen, selbst wenn sie nicht getankt haben. Sie haben die ganze Welt gegen sich und man braucht sie nur schief anzusehen, um sie auf die Palme zu bringen. Dabei würde sich kein Walschützer jemals zu uns verirren.“
„Wie lange führen sie diese Bücher schon?“
„Seit meinem ersten Tag hier“, sagte Bo Svensson, „an dem mir klar wurde, dass ich hier weder Verfolgungsjagden noch Autodiebstähle erleben werde.“ Er gluckste. „Kein Tlingit kommt zu mir und sagt: Officer, jemand ist in meinen Iglu eingebrochen und hat mir die Stereoanlage geklaut.“
„Sehen sie“, sagte Officer Svensson, “die Seemänner, die hier an Land gehen, heuern auf den Schiffen für einen bestimmten Zeitraum an oder auch nur für eine Route. Während dieser Zeit haben sie ihr festes Einkommen, so lange sie ihren Job gut erledigen. Aber auf den Schiffen gibt es oft Streit und es kommt vor, dass ein Matrose das Schiff im nächsten Hafen verlässt, weil er es satt hat. Solche Männer sind jederzeit ersetzbar, wir sprechen hier nicht von qualifizierten Facharbeitern. Der Schiffskapitän wird zusehen, dass er die Lücke in seiner Mannschaft schließt und folgt wieder seiner Route. Er würde nicht im Traum daran denken, einen verschwundenen Seemann als vermisst zu melden. Vielleicht werden wir nie erfahren, wer er war.“
Nick Reining notierte, dass er statt einer unübersichtlichen Versammlung lieber Portraitfotos aushängen würde, um die Einwohner von Point Hope in ihren Gedächtnissen wühlen zu lassen. Ganz nebenbei fragte er, ob auch notiert sei, als Ian nach Point Hope gekommen war. Svensson nickte, blätterte in seinen Journalen hin und her, fand die Seite und die Zeile, in der er die Ankunft eines Schiffes vermerkt hatte und die ergänzende Notiz, dass ein Ian McFadden von Bord gegangen sei und die Absicht habe, in Point Hope zu bleiben.
„Wissen sie, was er gesagt hat auf die Frage, was ihn nach Point Hope verschlagen hat?“
Reining konnte es sich fast denken. Er hatte Ian in Aktion erlebt und ebenso in der Zeit danach, in jeder Beziehung war Ian jemand, der an die Grenzen ging.
Hätte ihn noch vor drei Wochen jemand nach seiner Einschätzung zu Ians Verschwinden gefragt, hätte er voller Überzeugung geantwortet: Er wird sich umgebracht haben.
Eine Flucht nach Alaska oder in die Südsee hätte weiter hinten auf der Liste gestanden. Er war froh, dass er sich getäuscht hatte. Er sah den Officer erwartungsvoll an und der imitierte Ians Art zu sprechen ziemlich gut: „Weiter weg ging’s nicht, ohne sowjetischer Staatsbürger zu werden.“
Sie lachten, obwohl sie wussten, dass es nicht komisch war.
„Officer, ich hätte sie gerne als meinen Ansprechpartner in allen Dingen, es gibt noch so viele Besonderheiten, von denen ich keinen blassen Schimmer habe. Dann möchte ich, das sie als erstes die Fotos entwickeln lassen und das so schnell wie möglich und wenn sie einen Hundeschlitten nach Kotzebue schicken müssen. Die Laborproben von heute müssen mit dem nächsten Flieger rausgehen, mit Temperaturkontrolle. Können sie sich darum kümmern?“
Bo Svensson warf sich in die Brust, gab diese Pose aber schnell wieder auf, als er begriff, dass er sich lächerlich machte und erwiderte: „Sie können sich auf mich verlassen, Sir.“

Er fand Ian vor dem Schuppen der Hafenanlage, wo er an einem Schneemobil herumreparierte.
Was hat er nach der Untersuchung in Newark gemacht? dachte er.
Er hatte es sich bereits gewöhnt, beim überqueren der Schotterweg nach rechts und links zu sehen, aber auf dem Weg in den Hafen hinüber wäre er trotzdem fast überfahren worden. Trotz der dick besohlten Stiefel rutschte er noch immer über den harschen Schnee und über die Eisflächen und achtete nicht auf herannahende Geräusche in seinem Rücken. Sein Blick war nur auf Ian gerichtet, während er seine Arme leicht zu den Seiten wegstreckte, um das Gleichgewicht zu halten, sicher ist sicher. Etwas sauste an seiner linken Seite vorbei, streifte ihn in Kniehöhe und da erst hörte er etwas, was sich vielleicht wie ein kindlicher Warnschrei anhören mochte; was da hechelnd und schlitternd an ihm vorbeijagte war ein Kind auf einem Holzschlitten. Langes schwarzes Haar flog unter einer bunten Mütze im Fahrtwind, ebenso wie ein Paar Fäustlinge an einer Schnur, perfekt dazu geeignet, sich um den Hals zu wickeln und die kleine Trägerin zu erdrosseln. Vor dem Schlitten lief ein weißer Hund, lief eigentlich nicht, er hetzte. Nick hatte keine Ahnung, wie man so einen rasenden Hund lenken geschweige denn anhalten konnte, bevor Kind, Schlitten und Hund verunglückten.
Er blieb stehen und starrte dem Schlitten hinterher, fand nur den Vergleich zu den irren Kids auf ihren Skateboards, die sich hinten an die fahrenden Autos hängten. Das Kind auf dem Schlitten verschwand hinter dem letzten Haus, in der Kurve kippten sie etwas zur Seite, kratzten über ein Stück Schotter, jagten ungebremst weiter.
Wie fängt man so ein Kind wieder ein? dachte er, mit einem Lasso?
Neben Ian dudelte ein Kassettenrecorder, er pfiff durch die Zähne zu einer Melodie. Ein uralter Song aus den Siebzigern, aus der guten alten Zeit, wie Reining spontan dachte und er wartete einen Moment, bis er Ian ansprach, obwohl sie bereits einen kurzen Blick gewechselt hatten.
„Hey“, sagte er, nahm auf einer Holzkiste Platz, die an dem Schuppen stand. Ian unterbrach das Pfeifen, sah auf, murmelte ein müdes „Hey“ zurück und schaltete mit einem harten Klaps auf den Recorder die Musik aus.
„Du stehst noch immer auf diese alten Songs.“
„Was willst du?“
„Ian, versuchen wir hier miteinander auszukommen? Ich untersuche den Tod des Seemanns, mehr nicht. Glaub mir, dass ich ebenso überrascht bin wie du, dass wir hier zusammentreffen.“
Ich schäle hier mal wieder ein rohes Ei, dachte er.
„Okay“, meinte Ian, „kommen wir miteinander aus.“
Er sah müde aus, nicht nur körperlich müde, was Reining an die Zeit in Newark denken ließ und an die letzten Begegnungen mit ihm, nachdem die Untersuchungen der Banksache abgeschlossen gewesen waren. Er konnte sich noch an die grüne Fliegerjacke erinnern, an den lose flatternden Ärmel, weil Ians rechter Arm in einer Schlinge gelegen hatte. Sein Haar war kurz geschoren gewesen, fertig zur Buße, und er hatte es geschickt rausgehabt, sich Zigaretten mit einer Hand aus der Schachtel zu angeln und sie anzustecken.
„Niemand wird von mir erfahren, was damals passiert ist.“
Mit dem Werkzeug, was er gerade in der Hand hielt, einem Schraubenzieher, deutete Ian auf Reining, wippte ihn auf und ab und sagte mit seiner seltsam verhaltenen Stimme, die immer den Eindruck erweckte, er schwebe irgendwo unter Wasser: „Gut, dass du das gerade ansprichst, Nick. Wenn du auch nur ein einziges Sterbenswörtchen zu irgendjemandem sagst, dann verschnüre ich dich zu einem Rollbraten, wie ihn die gute alte Mrs. McFadden machen konnte und packe dich in den nächsten Eisbrecher, der den Hafen verlässt. Mit Ziel unbekannt. Klar?“
„Das würdest du tun?“ Agent Reining beging nicht den Fehler, diese Drohung ins Lächerliche zu ziehen. Ian war darauf konditioniert worden, seine Identität zu wahren, mit allen Mitteln.
„Du kannst mich ja auf die Probe stellen.“
„Ich werde den Teufel tun. Ich gebe dir mein Wort, dass ich dicht halte, wenn dir mein Wort reicht.“
Der Schraubenzieher blieb bewegungslos in der Luft hängen, bis Ian ihn in die offene Werkzeugtasche fallen ließ, die zu seinen Füßen stand. Er brauchte nicht zu antworten, nicht mit Worten; er machte eine kleine vertraute Geste mit der linken Hand. Alles in Ordnung.
Diesen Wink hatte Nick auch aus dem Wagenfenster heraus gesehen, an dem Abend, als Ian sagte, er wolle nach Hause fahren und nur noch schlafen. Sie hatten ein paar Biere zusammen gekippt. Ian hatte ihm vieles von dem erzählt, was nicht in den Akten stand, das aus gutem Grund, und obwohl Nick ihn beruhigt nach Hause fahren ließ, war Ian nach diesem Abend verschwunden.
„Kann ich dir wegen John Doe ein paar Fragen stellen?“
„Klar, wenn’s sein muss.“
Der pfeifende Wind, der niemals zu erlahmen schien, riss Schnee- und Eispartikel und Abfallfetzen mit sich. Sie sprachen über den Eismann, aber sie kamen schnell vom Thema ab.
„Ich kann mir sowas wie Mitternachtssonne nicht vorstellen“, gestand Nick, „ich würde es gerne sehen, aber gleichzeitig hoffe ich, dass ich nicht so lange hier bleiben werde.“
Ian ließ den Motor des Schlittens an, war zufrieden mit der Leistung und schaltete ihn wieder aus. Er trug nur einen Sweater unter der offenen Jacke, eine alte abgeschabte Baseballkappe hielt ihm das Haar aus dem Gesicht, er war unrasiert, kratzte sich immer wieder das Kinn, während er seine Sachen zusammenpackte.
„Als hätte Gott vergessen das Licht auszumachen“, erklärte Ian, „man gewöhnt sich dran.“

***
In Sergejs Hütte hatte er nicht lange Ruhe, nachdem er mit Ian gesprochen hatte. Helen Hyde brachte ihm das Mittagessen in Tupperware, mit den munteren Worten, dass er es sich nur noch aufzuwärmen brauche und mit einem Blick argwöhnte, ob der Mann aus der Großstadt wohl mit einem Gasofen umgehen konnte. Reining fand kaum Zeit, seine eilig hingeschmierten Notizen durchzusehen. Zum Essen gönnte er sich ein Bier aus der Dose, stellte fest, dass Helen Hyde wirklich eine gute Köchin war. Das Fleisch hatte einen seltsamen Nachgeschmack und erst, als er fertig war, stellte er die Überlegung an, was er da gerade gegessen haben mochte.
Karibu? Elch? Robbe? Wal?
Eines war klar – er würde nicht gezielt danach fragen und sich dadurch den Appetit verderben. Kein Burger King hinter dem nächsten Iglu.
Ian hatte den Toten gesehen, aber er kannte ihn nicht, wusste auch von keinem Schiff, auf dem es Streit gegeben haben könnte.
„Du bist doch nur hier, weil die befürchten, es könnte ein Russe sein“, hatte er gesagt. Dem hatte Nick zugestimmt und zugegeben, dass es nach einem Scheißjob roch.
Er spülte das Geschirr, rauchte eine Zigarette. Er würde sich besser fühlen, wenn er nicht für jedes Telefonat zu Officer Svensson laufen müsste und selbst da war die Verbindung häufig so schlecht, dass sie als nicht existent eingestuft werden konnte. Reining hatte ein Satellitentelefon angefordert, war aber nicht sicher, ob es im nächsten Flieger sein würde. Das alles hieß, dass die Uhren hier langsamer liefen. Endlich sortierte er seine Notizen und beschloss, die noch immer jungfräuliche Flasche Whiskey zu einer kleinen Party einzuladen, als es wieder klopfte. Diesmal war es jemand, den er nicht kannte.
„Sind sie der Mann vom FBI?“
„Schuldig. Und wer sind sie?“
„Die meisten behaupten, ich wäre etwas verrückt, aber das ist so eine Sache, denn ein bisschen verrückt gibt es ebenso wenig wie ein bisschen schwanger oder ein bisschen Schnee. Die Leute sagen ständig solche Dinge über mich. Albie Newton. Mein Vater war ein forschender Kanadier oder ein kanadischer Forscher und meine Mutter war eine Haida mit den Ausmaßen eines Walrosses. Wenn sie die Arme ausbreitete, konnte sie den ganzen Horizont umarmen.“
„Trinken sie einen mit mir, Albie Newton?“
Dieser Mann hatte etwas Hypnotisches an sich. Er hatte das breite flächige Gesicht und die Augen eines Inuit, aber das Halbblut war ihm deutlich anzusehen. Seine Haut war kalkweiß, sein seliger Vater musste ein Kerl von einem wahren Wikinger gewesen sein – blass, rothaarig und blauäugig.
Diese Mischung ließ Albie wahrhaftig etwas verrückt aussehen, als er freudig grinsend den ersten Whiskey entgegennahm, entblößte er die perfekt aneinandergereihten Zähne eines Gebisses.
Man wird ohne Zähne geboren und ohne Zähne fährt man in die Grube, dachte Nick, zumindest gilt das für den Teil der Bevölkerung, der fünf Flugstunden vom nächsten Zahnarzt entfernt lebt.
In der bestuhlten Kochnische war es gemütlich und warm genug für sie, und sie hatten beide schon den zweiten Whiskey intus, als Reining endlich selbst zu Wort kam und fragen konnte, was Albie von ihm wollte.
„Was ich von ihnen will?“
„Sie sind rein gekommen und wollten wissen, ob ich vom FBI bin. Also wollten sie doch irgendwas von mir.“
„Nicht wirklich“, erwiderte Albie zufrieden, „oder vielleicht doch?“
„Dann möchte ich ihnen was erzählen, Albie. Vor einem halben Jahr hat sich meine Frau von mir scheiden lassen und mein Sohn denkt, ich bin nur noch der Daddy, der ihm Geschenke kauft und ihm Geld zusteckt. Die Frage, bei wem er leben würde, stellte sich erst gar nicht. Ich bin jetzt zweiundvierzig und dachte, ich hätte genug gesehen, um von nichts mehr überrascht zu werden. Die erste Überraschung war, dass mein Boss mich wegen eines Leichenfundes nach Alaska schickt und die zweite, dass ich immer dachte, ich könnte nur bei Lärm in der Stadt schlafen. Hier höre ich nur das Ticken der Uhr und schlafe wie ein Baby. Sie leben hier, Albie. Beseitigen hier die Leute auch ihre Konflikte, indem sie aufeinander schießen?“
„Jeder von uns hat ’ne Waffe zu Hause, fast jeder kann gut damit umgehen, aber wir ballern uns nicht wahllos über den Haufen. Viele gehen jagen, weil das gekaufte Fleisch zu teuer ist und weil es falsches Fleisch ist. Haben sie schon an eine verirrte Kugel gedacht?“
„Ich habe schon so ziemlich alles in Erwägung gezogen.“
Die verirrte Kugel eines Eisbärenjägers, die dem unglücklichen Seemann das Licht ausgepustet hatte. Dieses Ende könnte er begrüßen, sollte sich nicht irgendeine Eifersuchtsgeschichte oder Raub herausstellen. Er schlug Albie vor, ihm etwas über Schlittenhunde zu erzählen, die ein zehnjähriges Kind durch das ganze Dorf ziehen konnten. Und kam zu dem Schluss, dass Albie nur hereingeschneit war, um seine Langeweile zu vertreiben.

Am frühen Morgen packte Ian ein paar Sachen zusammen, die in einen Rucksack passten und verließ Point Hope, noch bevor das Leben in den Häusern erwacht war. Der Himmel zeigte eine dunkelblaue leuchtende Farbe, dünne Wolkenfetzen jagten im heftigen Wind davon, dass man leicht das Gleichgewicht verlor, wenn man stehen blieb und sie beobachtete. Die Weite des Horizonts war mit nichts zu vergleichen, selbst nicht mit den Ebenen des mittleren Westens, wo er aufgewachsen war. In den ersten Monaten in Alaska hatte ihm nicht etwa das Fehlen der Sonne mürbe gemacht, sondern diese endlose weiße Weite ohne Fixpunkte, wenn man einmal die menschliche Siedlung verlassen hatte. Die Polarlichter waren auch nur dazu da, die Sinne zu verwirren. Die Hunde kannten den Weg nach Hause, aber am Anfang hatte Ian noch keine Hunde gehabt und war in ständiger Panik, dort draußen die Orientierung zu verlieren und zu sterben. Nach fünf Jahren war er noch immer wachsam und vorsichtig, aber die Angst war verschwunden. Er mochte die Einsamkeit und die Stille, in der nur der Wind auf dem Eis herrschte. Mit dem Ski-doo brauchte er fast eine Stunde, um George Koonook zu treffen, der bei seinem Iglu bereits auf ihn wartete.
Das Jagen auf der südlichen Seite von Point Hope entsprach der Tradition und richtete sich auch nach der Beschaffenheit des Eises, auf dem sie sich bewegen konnten. Auf der Südseite lebten mehr Tiere, aber das tuvaq, das feste begehbare Eis, war sicherer auf der Nordseite. George hatte ihn zu seiner ersten Jagd mitgenommen, als es nur darum ging, sich die Zeit zu vertreiben und seitdem gingen sie regelmäßig Karibus und Robben jagen.
Von Ian sagte George: „Er ist der einzige weiße Mann, der zu uns gekommen ist und der in seinem Inneren ein Raubtier ist. Er ist wie ein großer alter Eisbär. Die meiste Zeit liegt er friedlich herum und tut nichts, aber wenn er Hunger bekommt, geht er auf die Jagd.“
„Hi, George“, rief Ian, hielt das Schneemobil an und zog die dicken Fellhandschuhe aus, indem er mit den Handgelenken schlenkerte.
Die Hunde waren in der Nähe des Iglus angepflockt und warteten ungeduldig; warteten auf eine Mahlzeit oder darauf, dass es endlich wieder losging. Die drei Huskies gehörten Ian, aber George trainierte sie vor seinem Schlitten, weil ohne Duke der Leithund fehlte und Ian keine Zeit hatte.
„Wir haben gutes Wetter.“
Für die Jagd auf Karibus würden sie in einer kleinen Gruppe mit den Hunden losziehen und danach bis in den Morgen feiern; auf Robbenjagd ging man zu zwei wie jetzt, aber niemals zog ein Mann allein los. Das Fleisch wurde stets unter allen Familien aufgeteilt, es war richtiges Fleisch – niqipiaq – nicht das importierte Zeug, das man bei Hydes kaufte und das nur den Weißen richtig schmeckte. Mit Ian brauchte man über so etwas nicht zu diskutieren, er akzeptierte die Regeln, ganz im Gegensatz zu den Forschern ein paar Meilen voraus an der Küste, die die Jagd am liebsten ganz unterbinden würden. Unter den Forschern waren einige komische Gestalten mit verqueren Ansichten, die das uralte geregelte Leben der Tlingits niemals begreifen würden.
Die Regeln der Jagd waren einfach und doch komplex, denn alles änderte sich mit dem Eis und dem Wind und George war dankbar für seinen geduldigen Schüler, der erste Schüler seit zwanzig Jahren, der ein besseres Auge hatte und besser schießen konnte als selbst und der nur noch mehr vom Leben auf dem Eis lernen musste. Ian wurde nie müde die Lektionen zu wiederholen.
Die Hunde ließen sie zu Hause, anders als bei der Karibujagd würden sie nicht über weite Strecken verfolgen sondern an einem festen Punkt lauern und warten. Nur während des Fußmarsches wechselten sie ein paar Worte. Ganz in der Art der Inuit antwortete George auf Fragen erst nach einige Zeit des Nachdenkens.
„Die Kinder haben mir erzählt, dass ein FBI Agent in Point Hope ist.“
„Er untersucht den Eismann. Nick Reining. Er wird alles durcheinander bringen und das schlimmste ist, dass ich ihn von früher kenne.“
„Aus Kansas?“
„Newark. Das war später. Da geht man ans Ende der Welt und was passiert? Sie kriegen dich überall.“
Der verbitterte Ton in Ians Stimme ließ George aufhorchen, er blieb stehen und sah lange über den Horizont hinweg. Er brauchte keinen Kompass, um sich zurechtzufinden.
„Wir folgen heute der langen Route, das Wetter ist gut genug. Bist du bereit für die weite Strecke?“
„Sicher“, sagte Ian.
„Du weißt, dass die Welt zum davonlaufen zu klein ist.“
Ian war froh über die weite Strecke; je länger er von Point Hope weg war, desto besser und George war eine ausgesprochen angenehme Gesellschaft.
„Der Dreck landet an jeder Küste“, sagte er ergeben.
Nach zehn Stunden erlegten sie eine große fette Robbe an ihrem allu, Atemloch, sprachen dann von der bevorstehenden Zeremonie der Tlingits, mit der sie das Ende der dunklen Jahreszeit feierten. Sie versuchten, die Riten ihrer Vorfahren am Leben zu erhalten, aber tatsächlich würde es wieder auf ein großes kolossales Massenbesäufnis hinauslaufen.
Ian war als einziger Weißer dazu eingeladen, weil er die Tätowierung der Tlingits trug. Es war eine Quälerei gewesen mit Holzasche, einem scharfen Messer und einem kleinen Hammer, aber körperliche Schmerzen waren nicht das Problem.
Erst am späten Mittag des nächsten Tages war Ian zurück, erlebte gerade noch mit, wie die Maschine der Bering Air abhob und davonflog.
Hoffentlich nicht noch mehr Agenten, dachte Ian verdrossen.
Das Stück Robbenfleisch brachte er Carla, bevor er sich mit müden Schritten zu seiner Hütte mühte. Er sah Albie Newton auf der anderen Straßenseite, hob die Hand und ging weiter.
Nur noch schlafen und an nichts mehr denken müssen, einmal wieder durchschlafen ohne hochzuschrecken und dann keine Ruhe mehr zu finden.

Die Maschine brachte neben bestellten Gerätschaften, Lebensmitteln, der Post und dem lang ersehnten Satellitentelefon noch jemanden, mit dem Nick Reining nicht gerechnet hatte. Er war wütend. Anscheinend traute man ihm in Atlanta schon nicht mehr zu, einen Mordfall allein aufzuklären, ohne die kompetente Unterstützung eines Kollegen, den man einfach abkommandiert hatte, ohne nach seiner Meinung zu fragen. Und dass sich dieser Kollege auch noch als Gregory Bragas entpuppte, der gut gelaunt grinsend aus dem Flieger stieg, machte es Nick fast unmöglich, ihn höflich zu begrüßen. Bragas war ein Arschloch wie es im Buche stand und mit dieser Meinung stand Reining nicht allein. Bei einigen Gelegenheiten hatte er bewiesen, dass er von Teamgeist nichts hielt, dass er den Erfolg und entsprechenden Lob gern für sich allein beanspruchte und alle anderen als dumme Idioten abtat, die sich diese Behandlung von ihm gefallen ließen.
Reining war gemeinsam mit Svensson zur Landebahn gefahren, um das Satellitentelefon abzuholen.
„Hat hier eigentlich jeder mindestens zwei von den Schlittenhunden, die hier überall rumlaufen?“ Er dachte noch immer an den rasanten Ein-Hund-Schlitten.
„Huskies sind keine Schosshündchen, die haben hier ihre Aufgaben. Sie ziehen Schlitten, warnen vor Eisbären. Eigentlich dürften sie nicht frei herumlaufen, aber sie büxen immer mal wieder aus. Haben sie Lust am Schlittenfahren bekommen?“
„Das weiß ich noch nicht so genau.“
Seine gute Laune war wie weggeblasen, als er Agent Bragas erkannte, der neben der Maschine stand, die gerade von Hand entladen wurde, und sich in dem rauen Wind eine Zigarette anzuzünden versuchte, natürlich vergeblich. Anders als Reining hatte er sich schon in Anchorage arktisgerecht eingekleidet und schaffte es, in diesen neuen Klamotten, an denen er gerade erst die Preisschilder abgeschnitten hatte, ärgerlich stilecht auszusehen.
„Verstärkung?“ fragte Svensson blinzelnd und Reining erwiderte: „Bei jedem anderen hätte ich ja gesagt.“

Nach dem Unterricht blieb Carla an ihrem Pult sitzen, sortierte die Zeichnungen der Kinder, die sie in der letzten Stunde eingesammelt hatte. Sie ließ die Kinder oft zeichnen und malen, gab ihnen ein Thema vor (was ich letzte Woche erlebt habe; meine Familie; so stelle ich mir England vor) und die schönsten Bilder wurden unter Glas gerahmt und auf den Fluren des Gemeindehauses aufgehängt. Sogar Ian war irgendwo verewigt, in einer kleinen Bundstiftzeichnung „Auf der Jagd“, die zwei dick ummantelte Männer in der weißen Landschaft des leeren Papiers zeigten. Carla hatte mit Schmunzeln festgestellt, dass es offensichtlich war, welcher der Männer Ian und welcher George sein sollte. Ian hatte kugelrunde Augen und keinen Mund. Nicht einmal einen kurzen Strich, um die Lippen anzudeuten, während George Koonook ein breites Lächeln inklusive sorgfältig gemalter Zähne in seinem Gesicht hatte. Die kleine Salvy Iyagak, von der das Bild stammte, verwandelte sich in ein konzentriertes ernstes Kind, wenn sie zeichnete, ansonsten hatte sie nur Unfug im Kopf. Sie war im gleichen Alter wie der arme Jimmy Myers, der den toten Seemann gefunden hatte, im Dezember wurde sie zehn. Carla wunderte es nicht, dass Jimmy noch immer Köpfe malte, die aus Schnee herausschauten. Seine Eltern hatten Carla erzählt, dass er nicht mehr in seinem weißen Bettzeug schlafen wollte, weil er dann genauso aussähe wie der tote Mann. Sie vermuteten, dass er nach der Entdeckung des Toten unter die Plane gesehen hatte, als der Schnee bereits halb weg geschmolzen war.
Unter dem Fenster hörte sie einen Motorschlitten, stand auf und trat an die kleine beschlagene Scheibe. Es war Ian, aber er sah nicht zu ihr hinauf, knatterte weiter, ruhelos wie immer. Kam er von einer langen Jagd zurück, versuchte er meist zu schlafen, aber es war offensichtlich, das daraus wieder nichts geworden war. Carla hatte ihn etwas schroff behandelt, als er mit dem Robbenfleisch zu ihr gekommen war; sie hatte erwartet, er würde endlich mehr erzählen von seiner Bekanntschaft mit Reining, aber das war er wieder perfekt übergangen.
Mit den Fingerspitzen der rechten Hand wischte sie gedankenverloren über das kalte Glas der Fensterscheibe, zeichnete ein in sich verschlungenes Muster und wischte es dann mit der geschlossenen Faust wieder aus. Jeder hatte mal einen schlechten Tag, davon konnte sich niemand freisprechen. Sich mit Ian zu streiten war entweder so, als würde man mit aller Kraft in einen Gummiball treten, oder sie verausgabten sich total in zweisamen Gemetzel.
Carla war ursprünglich aus Los Angeles, vermisste es nicht, weder Klima noch Menschen; sie musste nur immer wieder auf der Hut sein, wenn sie Gefahr lief, zu sehr über die Kehrtwendungen in ihrem Leben nachzudenken.
Das ist doch ein schönes Thema für die letzte Stunde morgen, dachte sie und packte endlich ihre Sachen zusammen, nahm den Schlüsselbund in die Rechte, damit sie nicht vergaß, die Türen hinter sich abzuschließen, was wäre wenn.
Vielleicht würde Jimmy einen lebendigen Seemann malen statt eines toten.
Was wäre wenn.
Sie schlüpfte in ihren Mantel, hängte sich die Tasche um und verließ das Gebäude, noch immer den Schlüssel in der Hand. Auf dem Weg ins Hydes traf sie Susannah, sie blieben zwischen den Häusern stehen und unterhielten sich über den neuesten Klatsch und Tratsch.
„In drei Wochen flieg ich rüber nach Fairbanks. Komm doch einfach mit, wir machen uns ein schönes Wochenende mit Friseur und Schaufensterbummel. Was sagst du dazu?“
Susannah hatte zwei Kinder, die nicht mehr zu Schule gingen und einen arbeitslosen Mann, der ausgezogen war, aber sonst lief alles blendend. Ihrem ersten Ehemann war sie davongelaufen, weil er ihr die Augen blau geprügelt hatte und seit sie in Alaska war, war ihr Leben chaotisch und glücklich zugleich. Carla machte eine zappelige Bewegung und seufzte: „Verdammt, ich würde so gerne mitkommen, aber ich weiß nicht. Ich komme darauf zurück, Su, auf jeden Fall.“
„Kommst du noch mit zu mir?“
„Ich muss noch shoppen gehen.“
Shoppen im Hydes hieß nichts anderes als in Katalogen zu blättern, die Bestellscheine auszufüllen und das meiste davon einen Monat später wieder zurückzuschicken. Das machten alle so.
Sie trennten sich, warfen sich über die Distanz Kusshändchen zu, was sie nicht einmal sehr albern fanden.
Im Hydes legte Carla ihre Tasche ab, versuchte ihren Mantel auszuziehen, aber ihre geballte Faust blieb im Ärmel stecken, kam weder vor noch zurück, bis sie fallen ließ, was sie festgehalten hatte. Ihr Schlüsselbund, Schlüssel zu den Räumen des Gemeindehauses und ein dicker Minnie-Mouse-Anhänger. Beim rasselnden Geräusch der Schlüssel auf den Fliesen kam Percy um die Ecke geschlurft und sah sie fragend an, aber noch immer mit so viel Humor, dass Carla die Augen verdrehte.
„Hängst du mir einen Kräuterteebeutel in die Tasse?“
„Für dich, meine Schönste“, erwiderte Percy, „lasse ich sogar noch heißes Wasser darüber laufen.“
Für Carlas Tee gab es eine spezielle geblümte Porzellantasse, weil sie es nicht mochte aus den Styroporbechern zu trinken. Sie setzte sich an die Theke, rührte in ihrem Kräutertee, beobachtete Percy dabei, wie er umständlich unter dem Tisch herumkramte, auf dem die Bonbongläser mit Drehverschlüssen standen. Immer wieder bewies der alte Mann eine Engelsgeduld, wenn es darum ging, dass ein Haufen gieriger Kinder mit Kleingeld in den Fäusten ein paar von den jelly beans haben wollten oder auch genau zwanzig Stück Lakritze, weil man mit der kleinen Schwester gerecht teilen musste.
„Percy“, rief Carla, stützte den Kopf in die Handfläche, „wenn du den neuen Katalog nicht findest, gib mir doch den vom letzten Jahr.“
„Ich hätte schwören können, dass ich ihn hier hingelegt habe.“
Unter den Bonbons stapelten sich die Kataloge der Versandhäuser.
Die Blümchentasse erinnerte Carla immer wieder an ihre Zeit im Internat, die schon so lange zurück lag, dass sie sich an die Namen der Mitschülerinnen und Nonnen kaum noch erinnerte, obwohl sie gerade Mitte zwanzig war. Aus solchen Tassen hatten sie und ihre vergessenen Freundinnen Tee getrunken, manchmal auch „Tee verfeinert“, womit sie sich gewaltigen Ärger einhandeln konnten. Percy kratzte sich den Schädel, unterbrach seine Suche, um Carla Zucker und fettarme Milch hinzustellen. Draußen vor dem Laden knatterte ein Snowmobil vorbei, eine wütende Stimme überschrie den Motor und es klang ganz wie eine böse Verwünschung, die da jemand ausstieß. Außerdem raste ein Husky hinter dem Skidoo her, gepackt vom Jagdfieber, bemüht in die Beine des Fahrers zu beißen, der trotz des freundlichen Wetters vermummt war wie ein Bankräuber. Nur hatte ihm vermutlich noch niemand gesagt, dass er für die nächste Bank bis nach Kotzebue fahren musste. Der Mann versuchte den Hund abzuwehren, den er auch noch am Hacken hatte, nachdem er abgestiegen war und marschierte noch immer fluchend in Richtung Arztpraxis hinunter.
„Diese fettarme Milch“, bemerkte Carla gerade, „ist der größte Witz überhaupt.“
Ian kam herein, mit seinem üblichen abwesenden Gesichtsausdruck, ging hinüber zu den Bonbongläsern und nahm sich eine handvoll Lakritz. Neben Carla blieb er stehen, aber er schien sie nicht richtig wahrzunehmen – wahrscheinlich war er noch immer auf dem Eis in seinen Gedanken. Immerhin legte er einen Arm um ihre Schultern. Nach und nach steckte er sich die Lakritze in den Mund, dass Percy Hyde keine Gelegenheit hatte, sie ihm zu berechnen. Er nahm das nicht so genau – allerdings vergaß er solche Kleinigkeiten auch nicht und würde sie Ian bei passender Gelegenheit unter die Nase reiben.
Wie viel Lakritz passt noch mal in deine Hand, Ian?
Agent Reining tauchte offensichtlich nicht nur dort auf, um einen Kaffee zu trinken. Sie alle sahen ihn an, dass er miserable Laune hatte, darin waren sie sich einige, nur die Gründe dafür gingen in ihren Überlegungen auseinander. Ian erwachte aus seinem Halbschlaf, Lakritze kauend beobachtete er den FBI Mann, aber er rührte sich nicht von Carlas Seite.
„Alles in Ordnung, Agent Reining?“ Helen Hydes Stimme klang durch den Raum, erreichte den letzten hinteren Winkel, dass jeder der Anwesenden erst zu ihr und dann zu Agent Nick Reining hinübersah, der vor dem Regal mit dem Elektrokleinkram stehengeblieben war, obwohl er nichts von dem Kram benötigte.
„Ja, natürlich“, gab er automatisch zurück und Ian murmelte sofort ein „Bullshit.“
„Was ist?“
„Gar nichts ist in Ordnung, wenn er so ein Gesicht macht“, sagte Ian an Carla gewandt, mit gesenkter Stimme und unbeteiligten Ausdruck. Die Aufmerksamkeit der Anwesenden lag noch immer auf Reining, der sich aber nicht weiter äußerte. Als die Stille in dem Laden unangenehm zu werden drohte, rief Percy mit einem triumphierenden Schrei: „Gottverdammt, natürlich!“
Der Bann war gebrochen, jeder ging wieder seiner ursprünglichen Beschäftigung nach, suchte Schrauben, blätterte in einer Zeitung, suchte nach seinen Lieblingskonserven, wühlte nach Kleingeld zum Bezahlen. Helen warf ihrem alten Gatten einen bösen Blick zu, der mit dem aktuellen Katalog von der Toilette wiederkam, unter dem Arm geklemmt wie eine Fernsehzeitschrift. Mit einem Lächeln überreichte er Carla den Katalog.
Nick Reining kaufte ein Thermometer, obwohl er damit nicht wirklich etwas anfangen konnte, denn der Radiosender in Kotzebue brachte halbstündlich Berichte zu Temperaturen, Schneefall, Windgeschwindigkeiten, wie in anderen Gegenden Staumeldungen verlesen wurden. Nick blieb bei Ian stehen, wie zufällig.
Er sah auf, als Ian relativ laut sagte: „Ich wette, du hast gerade erfahren, dass du noch ein paar Wochen hier bleiben musst, hab ich recht?“
„Vielleicht bekomme ich noch die Gelegenheit, in einem Hundeschlitten zu fahren“, sagte Reining, „oder einen Eisbären zu sehen, aber für den Moment ist mein Sattelitentelefon angekommen. Das heißt, dass ich nicht mehr für jedes Telefonat zu Svensson laufen muss.“
Carla sah von der Seite mit der Markenkosmetik auf, trank den letzten Schluck Tee. Eine Sekunde lang geriet sie in Panik, weil sie nicht wusste, wo sie den Schlüssel hingelegt hatte, dann aber sah sie Minnies Gummifüße unter dem Katalog herausschauen. Ihr Herz beruhigte sich wieder. Wenn sie sehr müde oder abgelenkt war, konnte es passieren, dass sie vor ihrer Hütte stand und panisch nach ihrem Schlüssel suchte, bis ihr dann wieder einfiel, dass die Tür nie abgeschlossen war.
„Ich hätte nicht damit gerechnet, dass man mir ohne Vorwarnung Verstärkung herschickt.“
„Noch einer aus der Truppe“, kommentierte Ian recht abfällig. Carla wollte dagegen wissen, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
„Wenn ich das wüsste. Mein neuer Kollege meinte, die Laborergebnisse seien unzureichend, deshalb habe man ihn rübergeschickt.“ Reining klopfte mit dem Fingernagel gegen die Quecksilbersäule. „Aber es ärgert mich, dass man mich nicht gefragt hat, wen ich gern hier gehabt hätte. Für den einen oder anderen Rookie wäre es ganz interessant gewesen. Was soll’s. Wie war die Jagd, Ian?“
„Erfolgreich.“
„Robbenfleisch wird roh gegessen, hab ich gehört.“
„Wer hat dir das erzählt?“
„Ich hatte Besuch von Albie Newton.“
 
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Kommentare  

Ich muss Petra Recht geben. Sehr spannend. Ian scheint vor Leuten auf der Flucht zu sein, die ihm an den Kragen wollen. Könnte der Tote damit etwas zu tun haben?

doska (01.05.2009)

Und noch immer weiß man nicht, was es mit diesem toten Matrosen im Eis auf sich hat.Ian und Nick scheinen nicht gerade froh darüber zu sein, sich hier in Alaska zu begegnen. Was verbirgt Ian? Es bleibt weiterhin spannend.

Petra (01.05.2009)

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