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4 Seiten

Sandra Marias Geburtstag oder Eine Alltagsgeschichte

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Es ist der Geburtstag von Sandra Maria Lukas, als Samuel mich verlässt.

Nicht dass das für mich irgendeine Rolle spielen würde. Sandra Maria Lukas habe ich seit der Grundschule nicht mehr gesehen, und außer dem merkwürdigen Doppelnamen, auf dessen voller Nennung sie immer bestand, und ihrem Geburtsdatum habe ich kaum noch eine Erinnerung an sie.
Und dass ihr Geburtsdatum einmal eine so markante Bedeutung für mich haben sollte, ahnte ich in unserer gemeinsamen Grundschulzeit ganz bestimmt nicht.
Aber das ist ja nur einer dieser völlig irrelevanten Zufälle, die einem kurz durch die Gedanken blitzen, wenn man gerade die Tür hinter all seinen Träumen und Hoffnungen, verkörpert in einem einzigen Menschen, für immer geschlossen hat.

Als ich Samuel an der Tür verabschiede, ihm kaum in die Augen sehe, weil mein Gesicht von den vielen Tränen sowieso längst nicht mehr besonders ansehnlich ist, und weil ich seine wunderschönen Augen am liebsten gar nicht mehr sehen würde, tauchen in meinem Gedächtnis unweigerlich all die Momente auf, in denen ich ihn an genau dieser Tür begrüßt habe – anfangs noch voller Herzklopfen, mit einem Lächeln, das ich gar nicht unterdrücken konnte, wenn ich ihn sah. Dann die obligatorische freundschaftliche Umarmung, zu der sich später – nachdem wir es aufgegeben hatten, voreinander so zu tun, als seien wir wirklich nur Freunde – auch regelmäßig ein Kuss gesellte.
Überhaupt - unsere Küsse… Ich weiß, dass ich in der nächsten Zeit vieles vermissen werde, aber Samuels Küsse werden auf jeden Fall ziemlich weit oben auf der Liste stehen – vielleicht
knapp unter den Zukunftsträumereien, die zu zweit so viel schöner und rosiger wirkten als allein. Unsere Geschichte war klassisch romantisch wie aus dem Bilderbuch, und es war uns klar, dass wir füreinander bestimmt waren und für immer zusammen bleiben würden.

Zumindest dachten wir das, und bis zum Geburtstag von Sandra Maria (sie muss wohl inzwischen dreiundzwanzig sein) hatte ich daran nicht den geringsten Zweifel.
Natürlich habe ich gemerkt, dass etwas von dem verliebten Überschwang, der vorher Teil von Samuels Umgang mit mir gewesen war, im Laufe der Zeit verloren ging. Ich hatte es jedoch auf die normale Gewöhnungsphase geschoben, die – wie man mir gesagt hatte – in jeder Beziehung früher oder später auftritt.
Ganz kann ich das nun allerdings nicht mehr beurteilen, weil diese Gewöhnung bei mir niemals Wurzeln schlagen konnte. Viel zu faszinierend fand ich diesen außergewöhnlichen Mann, der all meine Träume und Wunschvorstellungen mehr erfüllte, als ich es je für möglich gehalten hätte, und der sich tatsächlich – und das war das allergrößte Wunder – in mich verliebt hatte! Ich hatte das Gefühl, dass ich ein ganzes Leben brauchen würde, um diesen Gedanken überhaupt zu fassen, geschweige denn mich daran gewöhnen zu können.
Dass seine anfangs so überwältigenden Gefühle für mich Schritt für Schritt völlig versanden könnten, hätte ich niemals vermutet.
Aber genau das ist es, was er mir sagt, während Sandra Maria noch fleißig damit beschäftigt ist, ihre Wohnung für die Party zu dekorieren.

Und als sie noch schnell den Nudelsalat umrührt und ein letztes Mal vor dem Spiegel an ihrem Outfit herumzupft, sitze ich bereits seit zwei Stunden heulend auf dem Teppich, ohne auch nur ein winziges bisschen besser zu begreifen, was heute Nachmittag passiert ist.

Noch ein kurzer prüfender Blick aufs Make-up, da klingelt es schon an ihrer Tür. Christoph und Svenja, sehr alte Freunde, mit einem Riesengeschenk in der Hand, umarmen sie stürmisch.

Umarmungen werde ich in den nächsten Tagen auch bekommen, das weiß ich – von mitfühlenden Freunden, die über unsere Trennung genauso fassungslos sind wie ich und mir nur sprachlos ihr Mitleid ausdrücken können.
Immerhin sind diese sprachlosen Umarmungen besser als das wohlmeinende „Du findest sicher jemanden anderen, du bist ja noch so jung.“, das mich mit Sicherheit auch aus einigen Mündern erwarten wird.
Ich will aber keinen anderen. Ich will meinen Samuel zurück.

Und so schluchze ich weiter vor mich hin, während sich Sandra Marias Wohnzimmer langsam füllt. Es sind viele Gäste da – Sandra Maria war schon immer sehr kontaktfreudig.
So begegnen sich hier alle möglichen Leute aus ihrem Bekanntenkreis, auch ein paar alte Schulfreunde aus Sandra Marias Heimatdorf sind da, in dem auch ich aufgewachsen bin. Einige dieser alten Schulfreunde würde ich wahrscheinlich auch wieder erkennen, wenn ich auf der Party wäre.
Bin ich aber nicht. Stattdessen wähle ich zum dritten Mal die Nummer meiner besten Freundin, die fünf Autostunden entfernt in Berlin wohnt. Mit jedem Klingelton warte ich angespannt darauf, dass sie abhebt. Aber auch beim dritten Anruf meldet sich nur der Anrufbeantworter. Zeit für eine neue Packung Taschentücher.

Die Stimmung auf Sandra Marias Party steigt derweil weiter stetig an. Es kann dem geneigten Beobachter nicht entgehen, dass die Luft zwischen Sandra Maria und ihrem Kommilitonen Andreas, den sie erst vor kurzem in einem Seminar kennen gelernt hat, erheblich zu knistern beginnt.
Es entgeht auch Simon nicht, Sandra Marias Exfreund, mit dem sie bis vor einem halben Jahr zusammen war und der sich in seiner Verzweiflung darüber, sie verloren zu haben, auf ihr Angebot einer platonischen Freundschaft eingelassen hat. Dass er darunter inzwischen mehr leidet als unter der Trennung selbst, ist ihm deutlich anzusehen, während er von einer Zimmerecke aus jeden der Blicke verfolgt, die sich Sandra Maria und Andreas zuwerfen.
Er steht auf und geht in die Küche, um sich noch ein Bier zu holen.

Auch ich stehe inzwischen in meiner Küche. Obwohl es ein warmer Spätsommerabend ist, ist mir kalt und schlecht, und ich mache mir einen Pfefferminztee. Auf dem Küchenstuhl, auf dem Samuel immer gesessen hat, kann ich noch förmlich seinen Schatten sehen. Wie um mich zu verhöhnen, scheint die ganze Wohnung seinen Namen zu atmen.

Währenddessen hat Simon beschlossen, sich abzulenken, und so erzählt er Sandra Marias Kusine bei ein paar Bacardi-Colas von den Fällen, die er vor kurzem in seinem Praktikum für das Jurastudium erlebt hat. Sandra Marias Kusine interessiert sich nicht wirklich für Jura, aber das wiederum interessiert Simon herzlich wenig, der ihr mit immer ausschweifenderen Bewegungen jedes Detail bis ins kleinste erläutert und dabei Stück für Stück näher an sie heranrückt.
Von seiner Alkoholfahne umweht, weicht sie jedoch immer weiter zurück und lässt ihn schließlich mit seinen diversen Getränken alleine. Inzwischen macht ihm das nichts mehr aus, und er widmet sich umso hingebungsvoller seinem Glas.

Ich mache mich langsam fertig, um ins Bett zu gehen. Ich glaube zwar nicht daran, dass ich schlafen können werde, aber wenigstens dieses bisschen Routine soll dem Tag noch einen Hauch von Normalität verleihen.

Auch Sandra Marias Gäste verabschieden sich nach und nach. Es ist spät geworden, und außer Andreas, der noch nicht gehen will, und Simon, der nicht mehr gerade gehen kann, verlässt einer nach dem anderen Sandra Marias Wohnung.

Ich weine auch im Bett noch weiter vor mich hin. Inzwischen würde ich gerne damit aufhören, aber dieser Dammbruch ist nicht so leicht zu stoppen.

Als es halb vier ist, liegen Sandra Maria und Andreas eng umschlungen auf der Couch, Simon kotzt unglücklich auf ihren Teppich, und ich schlafe endlich ein.
 
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Kommentare  

Klasse. Diese Art von dir zu schreiben, mag ich wirklich. Einerseits völlig nüchtern und banal. Trotzdem tiefgehen und mit nem gewissen Witz und Charme. Find ich schön und traurig und überhaupt. Darum: 5 Punkte!

Nina (20.10.2003)

die Idee, einmal in der Wohnung von Sandra Maria und in "Deiner" zu sein finde ich sehr gelungen. Schreibst du noch weiter?
Ich gebe dir fünf Punkte für diese liebenswerten Romanfiguren. Sonja-Sonne


Sonja (30.09.2003)

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