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Klopstock

Nachdenkliches · Experimentelles
Werther ging nicht sonderlich gerne auf Feiern. Es ging nicht darum, dass er ein besonders introvertierter oder missmutiger Typ gewesen wäre, allein die Atmosphäre auf solchen Veranstaltungen erschien ihm immer irgendwie falsch. Alle lachten, tranken, aßen, sauften, kifften, fickten und kotzten gemeinsam; jeder mochte jeden, jeder achtete jeden, jeder lachte mit jedem. Allerdings nur wenige Minuten, manchmal gar nur Sekunden, dann war alles wieder vergessen und die Freundin von eben war wieder die Schlampe von einst.
Dennoch war Werther auf Lottes Feier gekommen, den Grund dafür kannte er, nun einige Martinis später, selbst nicht mehr genau. Er saß auf dem nach Hundepisse und Pizza stinkenden Ledersofa, beobachtete die Leute um ihn herum und fühlte sich in seinem Denken bestätigt. Hier und da grüsste ihn ein unbekanntes Gesicht, die meisten davon gehörten seinen Bekannten, um im nächsten Moment wieder in der grauen Masse einzutauchen, die man Spass nennt.
"Amüsierst du dich?", fragte eine weibliche, wohl bekannte und sehr schrill erklingende Stimme, die Werthers Trommelfell zum vibrieren brachte.
"Na ja." zögerte Werther. "Was nicht ist, kann ja noch werden."
Lotte reagierte gar nicht, sie war zu sehr damit beschäftigt, ihr Hinterteil in die Richtung von Albert Heinze zu strecken, um endgültig das Vorurteil zu widerlegen, dass Unterwäsche ein unerlässliches Kleidungsstück war.
"Das freut mich!" rief Lotte voller Inbrunst, nahm einen Schluck von Werthers Martini und zog wieder von dannen, dem Ziel verschrieben, Albert den Unterschied zwischen Blasen und Lecken näher zu bringen.
Werther lächelte. Es war spät geworden. "Klopstock!"
Er zog seinen Revolver und schoss Lotte von hinten in den Kopf. Blut spritzte an das Plastikmobiliar und das unsanfte Aufklatschen Lottes versetzte die Partygesellschaft in eine gewisse Unruhe. Hysterische Schreie vermischten sich mit panischem Gebrüll und schierer Angst.
Werther grinste.
Unerbittlich schoss er auf alles was sich bewegte, zielte vorzugsweise auf die Köpfe seiner Opfer. Seine blutunterlaufenen Augen glänzten im Mündungsfeuer seiner Waffe, alles ging so einfach, ohne Probleme, ohne Widerworte.
Werther lachte lauthals, bis die letzte Kugel des Magazins aufgebraucht war und sich der Geruch von Alkohol, Blut und Erbrochenem zu einer letzten homogenen Masse vereint hatte.
Danach ließ er den Revolver auf dem blutverschmierten Wohnzimmertisch zurück und trat langsamen Ganges in den Garten. Dort setzte er sich auf das feuchte Gras und nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft, schmeckte die Kühle, genoss die Klarheit.
"Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße." rief Werther voller Passion. "Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine."
Stille folgte diesem Bekenntnis. Werther blickte zurück, blickte in die Blutlachen der Toten, blickte in die angstverzerrten Gesichter der Überlebenden. Er sackte, den Blick immer noch auf die Szenerie gerichtet, nun vollends ins Gras; er spürte jeden einzelnen Halm, vermochte jedes noch so kleine, pulsierende Leben um ihn herum zu vernehmen und brach in Tränen aus. Er weinte immer heftiger, schluchzte und blickte in die Gesichter dieser Fremden, seiner Freunde.
"Klopstock...", stammelte er, "Klopstock."
 
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niedrig...einfach nur niedrig..

anonym (20.09.2008)

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