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4 Seiten

Symphonie der Dunkelheit

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
»Nummer 3-4-6-2, bitte eintreten. «
Martin rutschte nervös auf seinem Sessel hin und her, von links nach rechts, von rechts nach links. Er selbst schien vergessen zu haben wie er in die Sache reingeraten war, ein Schutzmechanismus seines eigenen Verstandes wie er vermutete. Doch war er sich seiner Verantwortung wohl bewusst, dies war seine Aufgabe, daran bestand nicht der geringste Zweifel; die Leute kamen, sie kamen zu ihm und er war da für diese Menschen, die er nicht kannte, nicht kennen durfte, nicht kennen wollte.
Die Tür öffnete sich und eine junge Frau, vielleicht Mitte Zwanzig, betrat den Raum. Einfallendes Tageslicht wurde umgehend von dem weiß gekachelten Raum reflektiert und blendete Martin.
Wie lange war er hier gewesen?
Er glaubte es vergessen zu haben, zumal er momentan damit beschäftigt war nicht zu erblinden.
» Bitte, schließen Sie schnell die Tür.« bat er die junge Frau, die sich unsicher im Zimmer umsah, die Augen geweitet, den Mund leicht geöffnet.
»Na-, natürlich.« entgegnete sie unsicher, den Blick noch immer wie gebannt auf das sich ihr darbietende Szenario gerichtet. Der Boden war blank poliert, alles in weiß gehalten und in der Mitte des Raumes prangte ein riesiger, brauner und antik wirkender Schreibtisch, der denselben Farbton seiner Umgebung angenommen zu haben schien. Hinter der prächtigen Arbeitsplatte thronte ein kleiner Mann, der in seiner dunkelgrünen Cargo-Hose und mit dem ungepflegten 3-Tage-Bart überhaupt nicht in diese weiße Perfektion passen wollte.
Die junge Frau zögerte.
»Sind Sie derjenige, den ich suche?«
» Kommt darauf an wen bzw. WAS Sie suchen.« erwiderte Martin etwas schroff.
Hatte er eigentlich höflich zu sein?
» Entschuldigen Sie bitte«, flehte die junge Frau, ihre dünne Hand in Martins Richtung ausstreckend, >>ich bin so ein dummes, naives Wesen. Ich sollte Ihnen mit Respekt entgegen
treten. «
Sollte sie?
» Es ist nur so, wissen Sie, ich trage da etwas mit mir herum, das mir das Herz zuschnürt, das mein Innerstes wie ein heißes Schwert durchbohrt, meine Seele zu...«
» Lassen Sie doch diesen verkackten Pathos!« fuhr Martin ihr dazwischen. »Ich weiß was Sie wollen. Sie wissen was meine Aufgabe ist. Ende der Geschichte. Wenn Sie metaphorische Gesänge loswerden wollen, gehen Sie in den Theaterclub Ihrer Universität oder wo Sie auch immer hervor gekrochen sind. Nur bitte, verschwenden Sie nicht meine Zeit!«
Wie spät ist es? Welchen Monat haben wir? Mai? Dezember?
» Sie haben Recht, Sie haben Recht. Verzeihen Sie mir bitte! Nur noch dieses letzte Mal!«
Dieses junge Ding ekelte Martin an, was dachte sie denn was sie hier tat? Er hatte schon so viel gehört, zu viel gehört. Nichts, was jetzt auch kommen mochte, konnte ihn noch groß schocken, sein
Innerstes massiv berühren. Hatte er noch eine Über-Ich ähnliche Instanz in sich, ein "Innerstes"?
»Ist ja gut, hören Sie auf zu weinen.« riss sich Martin zusammen, den Wunsch verspürend vorher etwas taktvoller gewesen zu sein.
»Erzählen Sie einfach.«
Die Frau schluchzte, den Kopf noch immer voller Scham gesenkt, die blonden Haarsträhnen ins Gesicht baumelnd, ihren Hals wie ein Strick umspielend.
» Ich habe schlimme Dinge getan«, fuhr sie zögernd fort, »gesündigt. Ja, eine Sünde habe ich begangen, mehrfach sogar. Sie haben sich sozusagen in Ihrer Massivität multipliziert wenn Sie so wollen.<<
»Und weiter?«
Martin wurde ungeduldig, nicht weil er gespannt auf das war, was nun kommen mochte sondern weil er den theatralischen Rahmen von jedem Einzelnen, der diesen Raum betrat, nicht mehr ertragen konnte, ertragen wollte.
»Zunächst einmal...«, das junge Ding vor Martin zögerte weiter, rang anscheinend mit sich und ihren Gedanken, »ich hatte Sex. Mehrmals sogar und das, obwohl ich nicht mit diesen Männern verheiratet bin, verheiratet war. Doch das ist nicht das Schlimmste, obwohl schon schlimm genug, Gott möge mir verzeihen, ich hatte ungeschützten Sex; hatte doch keine Ahnung von dem was ich tat! Woher auch? Und ich wurde schwanger, mehrmals. Doch ich konnte diese Bastarde nicht gebären, meine Eltern hätten mir eigenhändig die Brut aus dem Leib geprügelt. Zu Recht. Also musste ich. wieder sündigen.«
Martin starrte abwesend an der jungen Frau vorbei, fixierte weit entfernt einen Riss in einer Kachel an der von ihm aus gesehenen rechten Wand.
»Und? Fahren Sie fort.«
Martins Gelassenheit, sein spürbares Desinteresse beängstigte sie; beängstigte sie, da sie ihm doch ihr Innerstes offenbarte, die Abgründe ihrer Seele wie einen Stapel Zeitschriften auf seinen verdammten Schreibtisch legte und er starrte an ihr vorbei ins Dunkle, hatte nicht einmal die Courage ihr ins Gesicht zu sehen. War er ein Monster?
Ist sie ein Monster?
» Ich habe dieses...Ding aus mir entfernt. Der Pater aus unserer Gemeinde war mir dabei behilflich, wusste er doch genau was auf dem Spiel stand. Mit Schlägen und Tritten haben wir es versucht. immer wieder, doch der Erfolg war eher mäßig. Natürlich hatte ich Schmerzen, doch es bedurfte anderer Mittel. Ich erinnerte mich an einen Film, den ich heimlich gesehen hatte als ich noch jünger war. Und ich probierte es aus, führte mir das Metall des Kleiderbügels ein, schrie vor Schmerzen, schrie vor Trauer, schrie den Hass und die Sünde aus mir heraus. Immer wieder stieß ich zu, das Blut, das austrat, schien mich innerlich zu reinigen, half mir das Begangene zu vergessen.«
Martin unterbrach den Redeschwall dieser.. .Person.
»Und das hast du überlebt? Mehrfach? Du bist ja eine gottverdammte...«
» Bitte urteilen Sie nicht über mich!« flehte sie mit Tränen in den Augen. » Wenn ich recht weiß dürfen Sie das gar nicht! So wurde es mir gesagt! «
Er DURFTE es nicht? Wer hat das zu sagen. wer hat zu bestimmen was er denkt, was er fühlt, was er sagt? Was tat er eigentlich hier? Mochte er dunkelgrüne Cargo-Hosen?
» Sie haben Recht.« Martin musste sich beruhigen.
Muss er?
» War das alles, was Sie auf dem Herzen haben?«
Die Frau nickte, sie schien nicht sonderlich gelöster, eher noch bedrückter.
Sollte sie auch!
Martin tat es plötzlich Leid, dass er seinen Job nicht gut gemacht hatte. War ihm das schon häufiger passiert?
Monster!
Er fragte sich, ob er hätte anders reagieren sollen, reagieren müssen. Martin lief plötzlich eine Träne über die rechte Wange.
Töte das Monster!
» Dann holen Sie bitte das vereinbarte Honorar ab, es liegt am Ausgang bereit.«
Das Mädchen erhob sich und schritt langsamen Ganges wieder in das grelle Licht, welches Martin erneut blendete.
Schlampe!
Martin sackte in seinem miefigen Sessel, der einen kleinen Seufzer ausstieß; kein Muskel in seinem Körper schien mehr gespannt zu sein.
Wie lange wollte er das hier noch mitmachen? Wieso verließ er nicht einfach diesen verdammten Raum und betrat das Leben dort draußen? Konnte er gehen?
Plötzlich fiel Martins Blick auf einen Zettel, der mitten auf seinem Schreibtisch lag. Er betrachtete ihn. Es gab keinen Zweifel, dies war seine Handschrift, er musste dies geschrieben haben.
Wann soll das gewesen sein?

,,Erkenntnisse. Was sind schon Erkenntnisse? Erkenntnisse über mich, über uns, über euch. Nichts, gar nichts, ein Moment des Verweilens, ein Moment des Zu-sich-selbst-Kommens; im Resultat dieselbe Dunkelheit wie zuvor, am Ende wieder dort wie zu Beginn, nur schlimmer, dunkler.
Die Quintessenz, die Moral wenn man so will? Wenn ich sie kennen würde, schriebe ich dann dies, reflektierte ich dann oder stürbe ich mit der Gewissheit. selbige erlangt zu haben? Wäre ich dann glücklicher oder endgültig Teil des Dunkels?
Wieso weine ich beim Schreiben dieser Zeilen? Ist es Angst, Erkenntnis oder beides? Möchte die Menschen um mich herum umarmen, meinen Schmerz der Erkenntnis mit ihnen teilen, sie sollen Teil meiner Erkenntnisse werden; sagen, dass es so ist; sagen, dass es nicht so ist.
Alles um mich herum künstlich. ein Kunstwerk, ein Meisterwerk der Gedanken, genial, zerstörerisch. zerstörbar. Pop-Art, Barock, Teenies, Mädels, Sex. Sturm und Drang, Trends, Geburt, Impressionismus, Fotografie, Hole Shopping, Expressionismus, Tod. Ich lächle, ich weine, ich
schreie, ich schweige.
Es ist albern aber notwendig, es ist sinnlos aber doch voller Sinn, sinnvoller als alles andere. Denn es führt mich zum Endpunkt, zum Anfang des Zirkels; zur Erkenntnis, zur Verzweiflung, zu einer neuen Reise. Ins Dunkel."

Martin lächelte. Er verstand nun. Er verstand, warum er sich in diesem Raum befand, er verstand, warum er diese Aufgabe hatte, haben musste und immer haben wird Und trotz des Lächelns auf seinem Gesicht begann Martin erneut zu weinen, den Blick wieder auf den Riss an der rechten Wand gerichtet. Er schien größer geworden zu sein.
 
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