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6 Seiten

Schizophren

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Der erste nach langen Wochen in denen der Regen und die Düsternis regierten. Die Sonne wärmt mich und spiegelt sich in den vielen Pfützen, die sie versucht zu beseitigen. Es ist an der Zeit sich durchzusetzen.
Auch ich genieße ihre wohlig wärmenden Strahlen und setze mich auf eine Bank im Park um die mitgebrachte Zeitung zu lesen. Je länger ich mich in sie vertiefe, umso mehr frage ich mich, ob es noch zeitgemäß ist, Pazifist zu sein.

Eine Stimme fragt, ob der Platz neben mir noch frei sei. Ohne meinen Blick von der Zeitung zu lösen bejahe ich. Du setzt Dich zu mir und sagst nach einer Weile:

„Alter, lasse uns die Alte da drüben aufreißen.“

Verwundert schaue ich in die angegebene Richtung. Das besagte Mädchen ist höchstens 16 Jahre alt. Ich mustere Dich, der Du diese Worte von Dir gegeben hast, und schaue in das hagere Antlitz eines kleines, schmächtigen Kerlchens, etwa 20 Jahre alt, die Zigarette hängt lässig im Mundwinkel.

“Kennst Du sie?“
„Nein.“
„Dann lasse sie in Ruhe.“

Du stellst schnell fest, dass Du nicht meine Gewichtsklasse bist, schaust mich verwundert an und fügst Dich. Ich lese Dir Deine ungestellte Frage aus den Augen und versuche zu erklären, dass man von der Haarlänge eines Menschen nicht unbedingt Schlussfolgerungen auf seine Intelligenz ziehen sollte. Und schon gar nicht auf seine Gesinnung. Du lächelst cool und legst Deinen Fuß auf Dein Knie.

Ich vertiefe mich wieder in meine Zeitung. Du liest mit. Während ich den Sportteil inhaliere schaust Du auf die barbusige Blondine und machst dumme Bemerkungen.
Der Sportteil ist interessant aber auch grausam. Ein Autorennfahrer liegt schwerverletzt im Krankenhaus, ein Boxer hat das Koma nicht überlebt. Du meinst, dass es denen recht geschehe; letzten Endes verdienen sie ja genug und wüssten vorher auf welches Risiko sie sich dabei einlassen. Die Menschen sehen nur zu, um zu sehen, ob so etwas passiert.
Ich überlege, ob Du vielleicht doch irgendwo recht hast und versuche mich mit dem Gedanken einigermaßen anzufreunden. Allerdings vergeblich, obwohl Churchill den Satz prägte „Sport ist Mord.“

Ich lese weiter. Allein von den Schlagzeilen wird mir übel. Alte Menschen werden überfallen, zusammengeschlagen, ausgeraubt. Von Jüngeren und Stärkeren, wegen ein paar Euros.

„Gut so“ höre ich von Dir „der Stärkere setzt sich durch. Die werden eh nicht mehr gebraucht, sollen abkratzen, deren Rente könnte für uns mit verwendet werden.“

Befremdet schaue ich Dich an uns sage:

„Hoffentlich wirst Du mal mit 59 Jahren erschlagen.“
Etwas irritiert über meinen Zynismus sehe ich Dir in die Augen. Du schaust verwirrt, aber ich kann nicht erkennen ob Du wirklich das Zeug dazu hast, über meinen Satz nachzudenken.

Ich denke nach und überlege laut, in welch kranker Welt wir eigentlich leben. Kinder bekommen Kinder, werden geprügelt, vergewaltigt, misshandelt oder zu Arbeiten gezwungen, die ihre kleinen Körper zerbrechen.

„Das ist viel billiger, und wegen des Profites“ klärst Du mich auf. Und schließlich gäbe es ja eh zu viele von den kleinen Rackern. Ich muss schlucken und frage, ob Du auch die Folgen bedenkst.

Der Gedanke ans Geld vernebelt die meisten Hirne. Warum eigentlich? Ist überhaupt Besserung in Sicht? Nein, im Gegenteil. Verschlimmbesserung. Junge Mädchen werden von ihren Eltern zur Prostitution gezwungen.

„Das ist okay, denn die Freier wollen es so“ bemerkst Du lapidar.

Angeekelt blättere ich um und lese wie einem Raucher das Bein amputiert wurde. Als bekennender Nikotinverächter scheint meine Stunde gekommen zu sein. Ich bündele all meinen Sarkasmus und halte Dir das Foto unter die Nase.

„Recht so“ sage ich, „sollen sie an ihren Sargnägeln verrecken.“

Meine Worte verfehlen die gewünschte Wirkung. Du ziehst lächelnd genüsslich weiter an Deiner Zigarette. Ich bekomme eine Gänsehaut, kann nicht glauben, was ich da lese. Drogendealer verschenken vor Kindergärten ihre präparierten Bonbons. Ich muss an meinen Sohn denken und daran, dass ich Pazifist bin. Was aber würde ich mit dem Dealer tun?

„Der Lauf der Welt“ sagst Du.

Ich lese von Babys die keine Chance haben. Die einen waren von aidskranken Müttern, die anderen sterben, weil sie nichts zu essen haben.

„Das ist in Ordnung“ sagst Du – „Alte, Kranke und Krüppel sollen abkratzen. Sie sind überflüssig und kosten uns zuviel Geld.“

Ich überlege, ob die Welt kaputt ist, oder die Menschen, die auf ihr leben. Wie kann so ein Kerlchen wie Du so etwas von sich geben? Du hast noch keine Lebenserfahrung. Was ist da schief gelaufen in Deinem Leben, in Deiner Erziehung? Ich schaue Dich sehr nachdenklich an.

Ich lese von Kinderschändern, Kindermördern, von Verbrechern, die trotz Unzurechnungsfähigkeit Freigang bekommen, diesen zur Flucht nutzen und weitermorden.

„Jeder hat eine zweite Chance verdient“ erfahre ich von Dir.

Ich lese von einem kleinen Ausländerjungen der von einer Meute besoffener Skins brutal zusammengeschlagen wurde.

„Ein geiler Kick, die Kanaken sollen sich nach Hause scheren“ höre ich von Dir.

Ich frage Dich, wo Du das letzte Mal im Urlaub warst.

„In der Türkei, ein schönes Land und nette Leute“ sagst Du und merkst nicht, dass Du meine Frage gar nicht begriffen hast.

Eine junge Frau wurde am hellichten Tage im Park vergewaltigt. Passanten sahen zu oder gingen weiter. Aus Angst.

„Ihre gerechte Strafe, wenn sie sich so geil auftakelt, will sie das“ meinst Du.

Ich frage mich, nach dem Sinn des Wortes Zivilcourage. Und wann es endlich aus dem deutschen Wortschatz gestrichen wird.

Ich lese von korrupten Politikern, von Machtmissbrauch, Diätenerhöhung. Von Skandalen, Intrigen, Verleumdungen. Wem kann man überhaupt noch trauen, wen soll man wählen.

„Jeder ist sich selbst der Nächste, Karrieremenschen gehen über Leichen“ höre ich Dich sagen.

Mir kommt das Kotzen, Deine Kommentare machen mich krank. Ich lege die Zeitung weg und frage Dich nach Deinem Beruf. Du seist arbeitslos und lebst nicht schlecht von der Stütze und bei Muttern. Ich erzähle Dir, dass in einer Annonce Müllmänner gesucht werden.

„Das sollen die Ausländer machen, so was ist keine Arbeit für mich“ erfahre ich.

Der Versuch, Dir eine Brücke zu bauen „man muss sie ja nicht mögen aber man sollte zumindest versuchen, mit ihnen auszukommen“ scheitert.

Ich schaue mir Deine bunten Tattoos auf den Armen an und erkenne buddhistische Symbole, ein afrikanisches Stammeszeichen aber auch Helden der nordischen Mythologie. Bewusst sage ich nichts dazu, da Du es sowieso nicht begreifst.

Ich falte meine Zeitung zusammen und werfe sie in den Papierkorb. Ich stehe auf und möchte gehen, Du tust dasselbe, springst ein Weilchen neben mir her, erinnerst an eine Klette.

„Ich hole mir erstmal etwas Kohle von der Alten.“

Ich traue meinen Augen nicht, erspähe weit und breit nur eine achtzigjährige Frau. Du willst los, ich halte Dich zurück. Du baust Dich vor mir auf, schaust mich an und sagst ich solle Dich vorbei lassen und bei dem Spaß zuschauen. Ich bitte Dich höflich dies zu unterlassen und zur Seite zu treten. Du sagst okay und versuchst erneut Deinen Plan zu verwirklichen. Ich ziehe Dich zurück und schaue Dir tief in die Augen. Ich beschließe, dass Pazifismus nicht mehr modern ist.

Unvermittelt trifft Dich meine Faust mit vollster Wucht mitten im Gesicht.

„WARUM?“

Du schaust mich verwundert an und torkelst drei Schritte zurück, kannst Dich nicht auf den Beinen halten. Rückwärts fällst Du in eine morastige Pfütze und stellst fest, dass Du stark aus Mund und Nase blutest. Du hältst Dir die Hand vor Dein schmerzverzerrtes Gesicht. Zynisch erkläre ich Dir, dass Du das richtige Alter hast um das zu ertragen. Du schreist mich im Liegen an, ich lächle überlegen zurück.

“Lustig siehst Du aus, aber Deine Designerklamotten kannst Du vergessen.“

Ich gehe meiner Wege und lasse Dich im Dreck liegen.

„Wer wird sich denn wegen so einer Lappalie aufregen? Da gibt es weit schlimmere Dinge, die jeden Tag auf der Welt passieren.“

Zufrieden mit mir drehe ich mich nach einer Weile um und schüttele verwundert mit dem Kopf. Die alte Dame hilft Dir auf die Beine und fuchtelt mir wild gestikulierend mit ihrem Regenschirm hinterher. Du blutest immer noch, bedankst Dich artig bei ihr für ihre Hilfe. Nebenbei stellst Du laut fluchend fest, dass Dein Handy nicht mehr funktionsfähig ist. Aber das wäre sowieso etwas schwierig geworden. Es dauert bestimmt eine Weile, ehe man sich daran gewöhnt keine Schneidezähne und eine gebrochene Nase zu haben.


Wochen später sehen wir uns wieder. Du mit Deinem Anwalt, ich auf der Anklagebank. Ich finde, Dein entstelltes Gesicht passt besser zu Deinem Typ. Durch Dein breites Grinsen blitzen die künstlichen Zähne noch heller. Deine gebrochene Nase ist verheilt. Aber die Kunst der Ärzte hat irgendwo ihre Grenzen.

Der Richter sagt etwas von zehn Monaten ohne Bewährung. Ich hatte versucht, ihm alles zu erklären. Vergebens. Aber ich höre ihm nur halb zu, denke für mich wo leben wir denn
und füge mich anstandslos in mein Schicksal. Du lächelst mich an. Ich schaue Dich an und denke so bei mir, dass Du mir wenigstens in dieser Zeit nicht über den Weg läufst. Gut so.

Ich habe festgestellt, dass es nicht immer angebracht ist, Pazifist zu sein. Du bist es nicht wert, dass man Dich in der Kategorie Mensch einordnet. Ich habe ein reines Gewissen und auch keinen Fehler begangen. Gegen Unbelehrbare hilft leider kein Reden. Sie verstehen nur ein anderes Mittel der Kommunikation. Du bist weniger wert als das, was mein Körper täglich ausscheidet.

Leider hat der Richter mein Lächeln beim Verlassen des Saales missverstanden. Auch mein Kopfschütteln hat er sicherlich falsch gedeutet.


In den nächsten Monaten hatte ich oft das Bild vor mir, wie Du der alten Frau zuzwinkertest, die als Zeugin an Deiner Seite auftrat. Du sahst tatsächlich so aus, als könntest Du kein Wässerchen trüben. Irgendwo war Dein Schauspiel beeindruckend, aber auch lächerlich.

Ich hatte nun genügend Zeit, über meine „Untat“ nachzudenken. Und ich kam dabei immer wieder auf dasselbe Ergebnis. Ich würde es jederzeit wieder tun, bei Typen wie Dir.

Auch wenn es mich meinen Job gekostet hat.
Auch wenn meine Familie sich verabschiedet hat.
Und auch wenn meine Wohnung schon längst neu vermietet ist.


Auch die schlimmste Zeit geht vorbei. Ich darf wieder unter Menschen. Als endlich die großen schweren Eisentüren hinter mir zufallen, schließe ich die Augen und atme die klare reine Luft tief ein. Freiheit ist schön aber nicht jeder darf frei sein.

Viel bewusster als vorher nehme ich alles wahr und registriere es. 10 Monate sind eine lange Zeit, nicht nur um nachzudenken.

Ich kaufe mir eine Zeitung und schlendere Richtung Park. Beim Überfliegen der Schlagzeilen stelle ich schnell fest, dass es inhaltlich dieselben sind wie vor Jahresfrist. Nichts hat sich zum Positiven geändert, im Gegenteil.

Ich gehe durch die Straßen und traue meinen Augen nicht. Zwei große Augen sehen mich völlig entsetzt an. Tatsächlich, Du bist es mit einer jungen hübschen Frau Hand in Hand. Du schiebst einen Kinderwagen vor Dir her. Scheu beschleunigst Du Deine Schritte, ziehst Deine Freundin am Arm hinter Dir her. Die verheilte Nase ist schief, ein lustiges Bild. Ich schaue anerkennend auf meine geballte Faust und nicke. Mir wird schlecht, ich weiß nicht ob ich lachen oder weinen soll. Nachdenklich, kopfschüttelnd, wort- und grußlos gehe ich meiner Wege.



Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Der erste nach langen Wochen in denen der Regen und die Düsternis regierten. Die Sonne wärmt mich und spiegelt sich in den vielen Pfützen, die sie versucht zu beseitigen. Es ist an der Zeit sich durchzusetzen.
Auch ich genieße ihre wohlig wärmenden Strahlen und setze mich auf eine Bank im Park um die mitgebrachte Zeitung zu lesen. Je länger ich mich in sie vertiefe, umso mehr frage ich mich ob es noch zeitgemäß ist, Pazifist zu sein.

Eine alte Frau setzt sich zu mir und erzählt, dass früher alles besser war und heute alles zu schnelllebig ist. Und dass die Menschen zu schnell vergessen. Ich schaue sie an, schaue ihr tief in die wachen Augen. Ihr Gesicht ist mir wohlbekannt. Aber sie erkennt mich nicht. Meine Haare sind zu kurz. Und ich bin schlanker geworden.


Es stimmt, früher war alles besser, heute alles zu schnelllebig. Und die Menschen vergessen schnell. Sehr schnell. Zu schnell ...
 
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Kommentare  

Schöne Geschichte, lässt sich sehr gut und flüssig lesen, nur bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich sie verstanden habe. Weil sich nicht so recht herauskristallisiert, was er sich eingebildet hat (ich nehme an, dass Prota der Schizophrene ist?).
Nichtsdestotrotz ist wirklich etwas zuviel "Politik und Weltschmerz" drin, man wird müßig, das zu lesen.

Außerdem ist mir beim Lesen einiges in diesem Abschnitt aufgefallen:
"
Du schaust mich verwundert an und torkelst drei Schritte zurück, kannst Dich nicht auf den Beinen halten. Rückwärts fällst Du in eine morastige Pfütze und stellst fest, dass Du stark aus Mund und Nase blutest. Du hältst Dir die Hand vor Dein schmerzverzerrtes Gesicht. Zynisch erkläre ich Dir, dass Du das richtige Alter hast um das zu ertragen. Du schreist mich im Liegen an, ich lächle überlegen zurück.
"

Er kriegt eins auf die Fresse, guckt verwundert und torkelt dann? Und dann fällt er um?
Ich weiß nicht, ob dir so was schon mal passiert ist, aber du torkelst (wenn überhaupt) erst, fällst dann um und hast dann eventuelle Zeit, um verwundert zu gucken. Normalerweise bist du dann auch erstmal im Schock (außer so was passiert dir ständig und du hast dich sozusagen konditioniert) und achtest nicht auf blutende Dinge, merkst sie nichtmal.
Ach würde er erstmal aus der Pfütze rollen, weil kalt und so.
Ja und die indirekte Rede könnte ausgebaut, sprich in eine direkte Auseinandersetzung übertragen werden, das würde in diesem Fall besser "rüberkommen", die Situation echter machen.


Freiheit (19.02.2005)

Mir ist in der Geschichte zu viel Politik und Weltenschmerz. Ich denke, ein Schizophrener hat mehr eng kreisende Gedanken und weniger konkret, wenn auch die Meinhaftigkeit durch den Stil ganz gut herüberkommt.

hatte@ich auch mal.de (16.01.2005)

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