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6 Seiten

Sieben Jahre und eine Nacht

Romane/Serien · Nachdenkliches · Winter/Weihnachten/Silvester
Es war sein erster Tag in dieser Gegend. Er hatte sich ein kleines Haus an der Steilküste gekauft und sich damit in seinen nicht mehr jungen Jahren einen bedeutenden Wunsch erfüllt. Er war von allen Menschen, die ihn einst begleitet hatten, alleine übrig geblieben. Dieser Umstand, aber auch sein vorgerücktes Alter waren wohl der Grund für seine Nachdenklichkeit, die sich in den Frohsinn nicht hineinwagte, aber auch die Traurigkeit mied.

Er hatte nur so viele Sachen mitgebracht, wie sie in seine Kombi-Limousine und auf den kleinen Anhänger passten. Schon längst hatte er sich von dem materiellen Ballast seines Lebens getrennt. Seine Bücher und die Fotos bildeten davon eine Ausnahme.

Als er die wenigen Sachen im Haus untergebracht und sein schmales, hartes Bett und ein paar Regale zusammengeschraubt hatte, setzte er sich auf die kleine Veranda, rauchte eine Zigarre, nippte hin und wieder an dem irischen Whisky und war mehr als nur zufrieden. Sein Blick schweifte von hier oben weit über das Meer, dorthin, wo es sich mit dem grauen Himmel vermischte. Es war Heilig Abend. Gleich nach Einbruch der Dunkelheit würde er die Kerzen an dem Fichtenzweig anzünden, festliche Musik hören und dazu eine Languste essen, die man ihm bereits mit Beilagen in dem Fischgeschäft zubereitet hatte.

Zu weiteren Überlegungen kam er jedoch nicht. Denn um die Ecke des Hauses tauchte ein kleines, zierliches Mädchen auf, in deren schulterlangen, rötlichen Haaren der Wind spielte, und in deren Gesicht die Sommersprossen tanzten. Sie stellte sich vor der Veranda vor ihn hin und musterte ihn ernst und eindringlich.
„Von woher kommst Du?", wollte sie wissen.
„Von weit her“, gab er zur Antwort.
„Wohnst Du jetzt hier?“, forschte sie weiter.
„Ja“, sagte er knapp.
„Und für wie lange?“
„Nun, solange es geht", erwiderte er. „Und wer bist Du?", fragte er sie.
„Ich bin deine Nachbarin.“
„Aber wieso bist Du am Heiligen Abend nicht zu Hause?", wollte er wissen.
„Weil wir katholisch sind und erst morgen feiern", entgegnete sie.

Die Dämmerung hatte eingesetzt und er forderte sie auf, nach Hause zu gehen. Dabei dachte er, dass sie für ihr Alter sehr aufgeweckt war. Älter als 10 Jahre würde sie wohl kaum sein.
„Nun gut, ich komme morgen wieder.“ Bevor sie sich umdrehte und verschwand, sagte sie noch, dass sie heute Geburtstag habe. Den ihr hinterher gerufenen Glückwunsch hörte sie nicht mehr.

Er ging ins Haus, wo das Herdfeuer eine wohlige Wärme verstrahlte. Und dann verbrachte er seinen ersten Heiligen Abend hier in seiner neuen Umgebung ungestört und wie von ihm erwünscht. Bevor er zu Bett ging, entnahm er einem Regal ein mächtiges Buch und schrieb unter dem Datum dieses Tages die Tagesereignisse auf, wie er es seit Jahren Tag für Tag zu tun pflegte. Für diese Niederschrift wählte er ausnahmsweise eine Überschrift: „Ein neuer Abschnitt.“

Der nächste Tag begann sonnenklar. Die Winter an diesem Küstenabschnitt waren milde; übers Jahr herrschte fast ein subtropisches Klima. Nach dem Frühstück fuhr er mit dem Wagen in die nächste Ortschaft um einige Kleinigkeiten einzukaufen. Als er zurückkam, hatte jemand einen Mistelzweig oben an die Holztür genagelt. An ihm hing ein kleiner Zettel mit einer ungelenken Schrift: „Frohe Weihnachten“. Er musste lächeln. Hier war es Brauch, dass sich unter Mistelzweigen alle küssen durften. „Nein, nein“, was dachte er da.

Nach dem Mittagessen zündete er sich eine Zigarre an und ging gut gelaunt auf die Veranda, wo sein Schaukelstuhl bereits von ihr besetzt war.
„Wollte Dich nicht stören", begrüßte sie ihn.
„Nein, bleib sitzen, ich hole mir einen Stuhl“, sagte er etwas unbeholfen.
Sie blieb nicht lange. Ihr Gespräch war etwas holprig und hatte bei beiden nicht ihre Neugier befriedigt.
Am nächsten Tag kam sie etwas früher, sagte „hey“, und machte sich daran den Abwasch zu tätigen. Als er protestieren wollte, winkte sie mit den Worten ab „Mache ich gerne“.
So kam sie regelmäßig jeden Tag zu ihm. Sie hatte Schulferien. Er begann sich an ihre Besuche zu gewöhnen. Und wenn sie einmal fernblieb, schaute er öfter als gewöhnlich aus dem Fenster.

Im Sommer drängte sie ihn so lange, mit ihr an den Strand zu gehen, bis er nachgab. Auf dem Weg dorthin schob sich dann irgendwann ihre kleine, schmale Hand in die seine. Für gewöhnlich schaute er ihr beim Baden zu. Danach lief sie oft auf ihn zu und schüttelte die Wassertropfen aus ihren Haaren über ihm aus. Worauf sie erwartete, dass er ärgerlich wurde, oder zumindest so tat. Doch er lachte nur.

Am kommenden Weihnachtsabend, dem zweiten, hatte sie sich ein hübsches Kleidchen angezogen und die Haare hochgesteckt, wodurch sie älter erschien. Nachdem er ihr zum Geburtstag gratuliert und sie ihm die Wange zum Kuss hingehalten hatte, fragte er sie, ob sich ihre Eltern keine Sorgen machten, wo sie sich rumtreibe. Aber sie habe keine Eltern mehr; diese seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie wohne bei ihrem alten, mürrischen Onkel und seiner Frau, erwiderte sie leichthin. Die beiden würden sich wenig um sie kümmern und sie im Übrigen zu Beginn des neuen Jahres ins Internat schicken, so dass sie ihn nur noch in den Ferien besuchen könne. Dann stand sie auf, ging ins Haus und zündete die Kerzen an dem Fichtenzweig an. Als sie auf die Veranda zurückkam, die schon im Halbdunkel lag, reckte sie sich an ihm hoch, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und deutete auf den Mistelzweig an der Tür. „Warte“, sagte er und kramte ein kleines Päckchen mit einem schmalen silbernen Armreif für sie aus seiner Tasche. Sie bedankte sich und war verschwunden. Als er dann spät abends zu Bett ging, fand er ein Päckchen auf seinem Kopfkissen mit einer dicken Zigarre darin. Nachdenklich schlief er ein. In dieser Nacht träumte er, wie er von einer Brücke stürzte.
Bis Anfang des neuen Jahres sahen sie sich weiterhin täglich und die Stimmung zwischen ihnen wurde von Tag zu Tag verhaltener. Jeder verbarg seine Traurigkeit auf seine Weise.

Er besorgte sich Angelzeug und verbrachte viele Stunden mit Angeln an einem nahen See. Ihm schien, als habe sich die Zeit gegen ihn verschworen. Aber dann kamen die Sommerferien doch noch. Sie stürmte durch die Tür und schlang die Arme um seinen Hals. „Da bin ich.“ Und er konnte nur erwidern „Ja, Kleine, da bist Du.“ Sie gingen wieder an den Strand und ihre kleine, schlanke Hand suchte schon wie selbstverständlich die seine. Auch saßen sie oftmals schweigsam beim Angeln nebeneinander. Einmal fragte er sie, ob sie keine Freunde habe. Und sie antwortete: „Warum, Du bist mein Freund.“ Er strich ihr übers Haar. So vergingen für ihn und für sie die Sommerferien wie im Fluge.

Und ähnlich verliefen die nächsten Jahre. In irgendwelchen Sommerferien, als er wieder am Strand saß, und sie wieder ihre nun länger gewachsenen Haare auf ihm ausschüttelte, sah er zum ersten Mal, dass ihr Bikini keine Attrappe mehr war, sondern begann, seine Aufgabe auszufüllen. Auch ihre Wangenküsse waren nicht mehr so flüchtig. Und als er sie daraufhin fragend anschaute, sagte sie in ihrer gewohnt knappen Art „Ich liebe Dich“. Er hob daraufhin abwehrend die Hände: „Bitte bedenke doch.“ Aber sie rief „Da gibt es nichts zu bedenken“, drehte sich um und lief den Hang hinauf, ohne auf ihn zu warten. Am kommenden Tag, ihrem letzten Ferientag, ließ sie sich nicht bei ihm sehen, so dass er bis Weihnachten auf ein Wiedersehen warten musste. Es war sein sechstes Weihnachtsfest in dieser Gegend.

Als er Heilig Abend spät nachmittags vom Angeln zurückkam, lief sie ihm entgegen und warf ihre Arme um seinen Hals. Er umfasste ihre schmale Taille und hob sie ein wenig zu sich hoch. Doch dann setzte er sie sofort wieder ab mit den Worten: „Du wirst Dich in Deinem dünnen Kleidchen hier draußen erkälten.“ Sie erfasste seine klobige Hand und zog ihn mit sich ins Haus. Als er die brennenden Kerzen und den festlich geschmückten Tisch bemerkte, bemächtigte sich seiner ein wohliges Gefühl der Geborgenheit, das er schon längst vergessen hatte. Sie tauschten kleine Geschenke aus, wobei sie beim Anblick des kleinen Herzens aus Gold, das an einer goldenen Kette hing, kichern musste. „Aber eigentlich bin ich dazu doch schon zu groß.“ „Bist Du das?“, stellte er unsicher und weniger im Frageton fest.
Als er seinen Whisky ausgetrunken und nach dem Essen seine Zigarre geraucht hatte, schwiegen sie eine geraume Zeit. In dieser Stille vernahm er von weit her ihre Worte: „Ich könnte heute Nacht auch hier schlafen.“
„Nein, das könntest Du nicht“, und fügte dann etwas zu unwirsch hinzu „vielleicht ein anderes Mal.“ Sie stand vom Tisch auf, legte sich ihre Jacke um die Schultern und verließ, ihm eine gute Nacht wünschend, das Haus, ohne ihm beim Aufräumen geholfen zu haben.
Während der Tage, in denen sie sich noch bis zum Jahresbeginn trafen, lag etwas seltsam Schweres zwischen ihnen, das nicht fassbar war.
Aber die kommenden Sommerferien verbrachten beide in gewohnt ungezwungener Atmosphäre. Und als er anlässlich eines Strandbesuches wie nebenbei bemerkte, dass ihr Bikini etwas knapp werde, hörte sie daraus durchaus mehr als nur die sachlich feststellende Bedeutung dieser wenigen Worte.

Als sie einige Tage später wieder zum Strand liefen, forderte sie ihn dort auf, sich umzudrehen. Sie zog ihre Bluse und ihren Rock aus und stand dann in einem feuerroten Bikini vor ihm, der zwar nicht so recht zu ihren rötlichen Haaren passte, aber dafür in Farbe und Form ihre voll erblühte Weiblichkeit umso mehr betonte. Ihm verschlug es die Sprache. Sie erschien ihm nackter als nackt. Sie war nun luftige sieben Jahre seit ihrer ersten Begegnung älter geworden und er schwergewichtige sieben Jahre. Dies kam ihm in diesem Augenblick in den Sinn, und es tat weh. Er drehte sich um und ging zurück. Ihre frauliche Intuition erkannte seine Situation, und sie folgte ihm nicht. Sie lief ins Wasser und rief laut gegen den Wind und die Wellen an: „Er liebt mich, er liebt mich!“ Auf ihrem Heimweg dachte sie, dass sie ihm dabei helfen werde, seine Scheu vor ihrer unberührten Jugend zu überwinden. „Oh ja, das will ich tun“, sprach sie leise vor sich hin.
Am letzten Ferientag stellte sie ihm einen Strauß wilder Feldblumen auf den Tisch. Zum ersten Mal nahm er sie zum Abschied fest in seine Arme, so dass er ihre jungen Brüste spüren konnte. Beide zählten sodann die Tage bis Weihnachten, das siebte gemeinsame Weihnachten.

Am Tag von Heilig Abend ging er zum Angeln, denn das gehörte dazu. Doch er wählte dafür den frühen Morgen und nicht wie gewöhnlich den Nachmittag. Er wollte ihr Kommen in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda erwarten. Die Zeit bis zu ihrem Erscheinen schleppte sich mühsam dahin. Zeit war ja keine absolute Größe. So war es auch gut möglich, dass ihn die Zeit nur foppen wollte. Er dachte über sich und seine Situation in allen Variationen, rückwärts und vorwärts nach. Es kam nichts dabei heraus. Die Sehnsucht schob sich immer wieder zwischen seine Gedanken und hinderte ihren freien Fluss. Gewiss, er war vergleichsweise steinalt. Und dieses Alter durfte er ihr unmöglich antun. Aber sein Herz war doch plötzlich so jung, zum Zerspringen jung. Und da kam sie angerannt. Ihre langen Haare flatterten ihr hinterher. Ihre Wangen waren so errötet, dass die Sommersprossen dabei zu kurz kamen.
Sie umarmten sich, und sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, der nach Lippenstift schmeckte. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, rief er ihn nach, als sie schon im Haus verschwunden war, wo sie ihren Mantel auszog, aber trotz der großen Wärme die Strickjacke anbehielt. Sie bereitete den Tisch für die Abendmahlzeit vor. Und er zündete verschwenderisch überall Kerzen an. Als sie sich sodann nach dieser Betriebsamkeit am Tisch gegenübersaßen, erkundigte er sich bei ihr nach eher belanglosen Dingen der vergangenen Monate, worauf sie nur knapp und unbeteiligt antwortete. Zum späten Essen gab es Ente, die sie mitgebracht hatte. Auf seine Frage, woher sie diese Ente habe, antwortete sie, dass es eine Ente ihres Onkels gewesen sei, die sie in Abwesenheit Ihres Onkels und seiner Frau mit einem Kleinkalibergewehr erschossen, von ihren Federn befreit und sodann ausgenommen habe. „Und was sagt Dein Onkel dazu", fragte er teils belustigt, teils stirnrunzelnd. „Nun, der wird dies einem Fuchs anlasten", entgegnete sie vergnügt. Beim Essen wollte er wissen, warum sie bei der Hitze nicht ihre Strickjacke ausziehen wolle. Aber sie zog nur die Schultern hoch. Nach dem Essen räumten beide hastig und zerstreut auf und wuschen ab. Dann saßen sie sich wieder am Tisch gegenüber. Er kramte aus seiner Tasche ein kleines Päckchen und überreichte es ihr. Es enthielt einen mit Brillanten besetzten schmalen Ring, den er ihr mit den Worten auf den Ringfinger der linken Hand streifte: „Das ist neben der Erinnerung alles, was von meiner Ehefrau übrig geblieben ist. Du scheinst ihn nun tragen zu sollen." „Danke", flüsterte sie, beugte sich über den Tisch und küsste ihn. „Ich kann Dir heute nur mich schenken“, sagte sie mit unsicherer Stimme. Dabei zog sie ihre Strickjacke aus. Zum Vorschein kam eine hauchdünne, durchsichtige, weiße Bluse mit weiten Ärmeln, die mehr preisgab, als verhüllte. „Habe ich aus einer Gardine genäht." Doch das hörte er gar nicht. Mechanisch goss er sich einen Whisky ein. Sie holte aus einem Regal ein zweites Glas und hielt es ihm hin. „Aber Du hast doch schon Rotwein getrunken", meinte er zerstreut. „Bitte", erwiderte sie.
Es war kurz vor Mitternacht, als sie abrupt aufstand, sich vor seinem Bett auszog und sich wortlos hineinlegte. Er verharrte noch eine Weile am Tisch und legte sich dann zu ihr. In dieser Nacht schenkte sie ihm stürmisch ihre junge Unberührtheit und er ihr seine behutsame, wissende Zärtlichkeit.

Er lag bis zum Morgengrauen wach, als er ihr Schluchzen vernahm. „Aber warum weinst Du?“, wollte er wissen. „Weil ich Dich so sehr liebe“, entgegnete sie nach einer Weile. „Und deshalb muss man weinen?“, fragte er und strich ihr dabei die Haare aus ihrem Gesicht. „Ich will Dir nicht wehtun.“ „Aber Du tust mir doch gar nicht weh“, erwiderte er. „Nein, nicht jetzt, aber wahrscheinlich später“, murmelte sie. Sie entwand sich seiner Umarmung, küsste ihn, zog sich an und verließ das Haus mit den Worten: „Denke daran, dass ich Dich liebe und davon nie ablassen werde.“

Er bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen, denn ein vor langer Zeit verdrängter Schmerz ergriff wieder Besitz von ihm. Und er wußte, daß er ihn dieses Mal zu akzeptieren hatte.

Er kannte ihren Namen nicht - nach sieben Jahren und einer Nacht.


14.IX. 2005
 
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Kommentare  

Deine Psyche re-agiert logisch, aber etwas Abstand zu diesen Realitäten wäre angebracht

Jojo (21.10.2005)

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