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Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
„Gibt es irgendetwas, woran Sie sich erinnern können? Lassen Sie sich ruhig Zeit und denken nach“, sprach der Arzt zu Jörg.
Jörg, der sich nicht daran erinnern konnte, wie er hieß, dachte nach.
„Da war ein Mann“, erzählte er nach einem kurzen Schweigen.
„Ein Mann? Wissen Sie, wo? Können Sie ihn beschreiben?“, fragte der Arzt.
„Nun, er trug einen Kittel, einen weißen. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
„Einen Kittel? So, wie ich einen trage? War er vielleicht Arzt?“
„Möglicherweise. Vielleicht aber auch Laborant.“
„Können Sie sich vielleicht sonst noch an irgendetwas erinnern?“
„Nein, es tut mir leid.“
„Kein Problem. Ich würde vorschlagen, da Sie keine Personalien bei sich trugen und wir somit weder Ihren Namen noch Ihren Wohnsitz kennen, dass wir Sie erst einmal bei uns behalten. Die Polizei wird selbstverständlich weiter recherchieren, vielleicht hat Sie auch jemand bereits als vermisst gemeldet.“
Jörg war einverstanden. „Vielen Dank, Herr Doktor.“

Heute Morgen war er in nasser Kleidung am Strand aufgewacht und konnte sich absolut nicht mehr erinnern, was vorher passiert war. Er wusste weder, wie er hieß, noch wie alt er war, noch wo er lebte, er hatte absolut keine Ahnung, wer er war.

Er betrachtete sich im Spiegel. Wie alt er wohl sein mochte? Er schätzte sich auf Anfang 30, etwa 32 oder 33. Ob er wohl verheiratet war? Vielleicht hatte er auch Kinder? Wenn dem so war, würde ihn gewiss bald jemand als vermisst melden, eine Beschreibung von ihm abgeben, die die Polizei zu ihm führen würde. Vielleicht würde die Erinnerung in den nächsten Tagen auch schon wieder kommen. Der Arzt hatte ihm erklärt, dass eine Amnesie ein paar Tage dauern könnte, manchmal auch über einen längeren Zeitraum und dass in einigen Fällen die Erinnerung leider nie wieder eintrete. Ein wenig beunruhigte es ihn schon, aber er dachte positiv.

Er ging in den Aufenthaltsraum. Dort gab es einen Fernseher, vielleicht würde er ja eine Serie wieder erkennen oder einen Schauspieler.
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig durch die Programme schalte“, fragte er die Frau, die sich ebenfalls in dem Raum befand. Sie war etwa 30 und schien sehr nett zu sein.
„Nein, nein, sehen Sie sich ruhig an, was Sie möchten. Ich bin nur zum Rauchen hier“, lächelte sie. „Möchten Sie auch eine Zigarette oder rauchen Sie nicht“, fragte sie dann.
„Nun ja, ich weiß es nicht“, antwortete er, während er ein wenig verschämt lächelte.
„Sie wissen nicht, ob sie rauchen oder nicht?“, harkte sie nach und musste lachen. Anscheinend dachte sie, es sei ein Scherz von ihm.
„Ich weiß leider gar nichts im Moment. Ich habe mein Gedächtnis verloren“, erklärte er dann.
„Oh, das tut mir leid.“
„Das macht nichts, das konnten Sie ja nicht wissen. Und warum sind Sie hier, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin manisch depressiv. Sagt Ihnen das etwas?“
„Nein, nicht wirklich. Vielleicht weiß ich es schon, aber kann mich nur nicht daran erinnern.“
„Tja, das ist so, ich bekomme zwischendurch immer so Phasen, wo ich nicht richtig ticke und mich merkwürdig verhalte. Meist, wenn ich Ärger habe oder mich irgendetwas belastet, komme ich kurz darauf in so eine Phase. Und dann muss ich immer für ein paar Wochen ins Krankenhaus, wo ich behandelt werde, bis alles wieder in Ordnung ist. Diesmal war es so, dass ich Möbel aus dem Fenster geschmissen habe, weil sie mir nicht mehr gefallen haben“, berichtete sie und musste, als sie das von den Möbeln erzählte, ein wenig lachen.
„Echt? Das ist ja wirklich heftig“, fand er, musste aber auch lachen. „Entschuldigen Sie, dass ich lache.“
„Macht nichts, ich lache ja selbst hinterher manchmal über mich“, lachte sie weiter.
„Und das kommt immer wieder?“
„Ja, dauerhaft heilen kann man es leider nicht. Es passiert auch immer in unregelmäßigen Abständen. Dieses Mal hatte ich über zwei Jahre Ruhe, meist passiert es immer einmal im Jahr etwa.“
„Also führen Sie ansonsten ein normales Leben?“
„Ja, Gott sei Dank. Und Sie? Können Sie sich an gar nichts erinnern?“
„Leider nein. Ich hatte dummerweise keine Papiere bei mir, so dass nicht mal mein Name festgestellt werden konnte.“
„Das muss schlimm sein, dann wissen Sie auch nicht, wo Sie wohnen?“
„Nein, ich bleibe jetzt erst einmal hier. Vielleicht kommt mein Gedächtnis ja die nächsten Tage wieder.“
„Das hoffe ich“, meinte sie. „Ich bin übrigens Tanja“, stellte sie sich dann vor und reichte ihm die Hand.
„Freut mich“, erwiderte er und gab ihr ebenfalls die Hand. „Meinen Namen kann ich dir leider nicht sagen“, lachte er dann.
„Ach, das macht nichts.“
„Nenn mich einfach Jens, vorübergehend, so lange mir mein Name nicht einfällt“, schlug er dann vor.
„Okay Jens“, lächelte sie.

Die beiden verbrachten noch den gesamten Abend miteinander und führten eine nette Unterhaltung. Gesprächstoff hatten sie genug, obwohl er aus seinem Leben nichts erzählen konnte. Aber über sie erfuhr er eine ganze Menge.
Abends sahen sie auch einen Film. Leider half es Jörg nicht weiter, es kam ihm nichts ansatzweise bekannt vor. Dennoch fühlte er sich gut, er war sehr über seine neue Bekanntschaft erfreut.

Auch in den nächsten Tagen machte sein Gedächtnis keinen einzigen Fortschritt, er tappte nach wie vor im Dunkeln. Dafür verbrachte er viel Zeit mit Tanja. Ihr Freund hatte sie aufgrund ihrer manischen Depression verlassen. Ihre Eltern lebten in Nürnberg, so dass diese sie aufgrund der Entfernung nicht besuchen konnten. Aber zwischendurch bekam sie Besuch von Freunden.
Einen Tag, an dem sie Ausgang hatten, machten sie einen Ausflug in die Stadt. Jörg hoffte, dass er dort irgendetwas sah, was ihm bekannt vorkam. Aber leider war auch dieser Ausflug ohne Erfolg. Es war, als sei er zum ersten Mal in dieser Stadt.
Täglich führte er ein Gespräch mit Dr. Gebinger, dem für ihn zuständigen Arzt.

Nach drei Wochen wurde Tanja entlassen. Jörg litt noch immer unter vollständiger Amnesie. Auch die Polizei war in ihren Recherchen noch keinen Schritt weiter gekommen. Unter den zahlreichen Vermisstenmeldungen befand sich keine einzige, die auf ihn zutraf. Offensichtlich hatte er keine Angehörigen, was die ganze Sache noch schwieriger machte. Die einzige Hoffnung war, dass sein Gedächtnis doch eines Tages wieder zurückkehren würde. Aber er glaubte nicht mehr daran.
Zwischen ihm und Tanja hatte sich in den vergangenen Wochen ein sehr vertrautes Verhältnis aufgebaut, was ihn sehr glücklich machte. Sie schlug vor, ihn mit in ihre Wohnung aufzunehmen. Die Ärzte hatten nichts dagegen, dass er die Klinik verließ, da sie sowieso momentan nichts für ihn tun konnten.

„Sie mögen Tanja gern, nicht wahr“, fragte Dr. Gebinger, der inzwischen eine Art väterlicher Freund für ihn geworden war, im Entlassungsgespräch.
„Ja, sie ist wunderbar.“
„Nun, dann wünsche ich Ihnen beiden viel Glück.“
„Vielen Dank Dr. Gebinger. Und auch noch einmal vielen Dank für Ihre Betreuung.“
Die beiden reichten sich zum Abschied die Hände.
„Passen Sie auf sich auf. Und lassen Sie sich hier zwischendurch mal sehen.“
„Das werde ich“, erwiderte Jörg.

Dr. Gebinger sah ihnen aus dem Fenster nach, als Jörg und Tanja das Gebäude der Klinik verließen. Sie sahen sehr glücklich aus. Lächelnd sah er ihnen noch so lange nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Er freute sich für die beiden.

Eine Woche später meldete die Polizei sich bei ihm.
„Wir haben Neuigkeiten bezüglich Ihres Amnesiepatienten. Wir haben herausgefunden, um wen es sich handelt. Sein Name ist Jörg Brehmer, 34 Jahre alt. Seine Frau hatte kurz vor seinem Gedächtnisverlust einen tödlichen Unfall. Wahrscheinlich hat er versucht sich das Leben zu nehmen.“
Dr. Gebinger fragte nicht, wie die Polizei es herausgefunden hatte. „Was ist mit Angehörigen?“, fragte er.
„Negativ. Seine Eltern starben ebenfalls durch einen Verkehrsunfall, das war vor sieben Jahren. Er hat keine Geschwister oder sonstige Angehörige. Seine Schwiegereltern befanden sich in demselben Fahrzeug wie seine Frau, auch sie überlebten den Unfall nicht.“
„Vielen Dank.“

Lange dachte er nach. Schließlich sprach er mit Prof. Schrebber, dem Chefarzt und berichtete die Neuigkeiten.
„Das ist ein hartes Schicksal“, stellte der Professor fest.
Der Doktor nickte.
„Haben Sie sich schon bei ihm gemeldet“, fragte Prof. Schrebber.
„Ich habe lange nachgedacht. Wissen Sie, er war die vergangenen Wochen so fröhlich. Nun lebt er bei Frau Lettmann. Sie scheinen beide sehr glücklich zu sein, es ist, als hätten sie sich gesucht und gefunden. Verstehen Sie, was ich meine?“
Der Professor schwieg für einen Moment. Dann nickte er. „Ich verstehe. Sie möchten nicht, dass er erfährt, wer er ist.“
„Ja, ich habe die ganze Zeit gehofft, dass sein Gedächtnis zurückkehrt. Aber jetzt hoffe ich für ihn, für die beiden, dass er sich nie mehr erinnern wird."
 
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Kommentare  

Endlich mal jemand, der nicht nur im Negativen badet, wenn es um das Thema Psychiatrie geht, denn so kann ja auch ausgehen. Ich habe nicht selten davon gehört, dass sich Patienten ineinander verlieben und gegenseitig Mut geben. Du hast ganz bewusst darauf verzichtet, die Leiden der Kranken gründlicher auszumalen, denn das war nicht dein Ziel. Viele Menschen scheuen sich ja bereits vor einem Gang zum Therapeuten und erst recht prallen sie vor der - oft als "grausig" beschriebenen - Psychiatrie zurück. Es mag früher mal so gewesen sein, dass Menschen einfach weggesperrt wurden, heute sieht wirklich anders aus. Du hast ganz bewusst nur das Positive hervor gehoben. Gute Geschichte, flüssig geschrieben und absolut nicht langweilig.

doska (14.03.2009)

Wenn es im Leben manchmal so einfach wäre... Happy End, würde ich sagen. So hat es auch einmal etwas Gutes, wenn man das Gedächtnis verliert. Lg Sabine

Sabine Müller (13.06.2007)

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