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75 Seiten

Ritter Lokis

Romane/Serien · Spannendes
Ich saß in meinem verrauchten Büro, hatte die beschuhten Füße auf dem Schreibtisch, wiegte meine Billigzigarre mit den Fingern und überlegte, wie ich die nächste Monats-miete für mein Büro bezahlen sollte, in welchem ich zu allem Überfluss seit zwei Wochen auch wohnte. Zusammen mit Horatio, meiner deutschen Dogge.
Die Schulden wuchsen mir über den Kopf. Meine Insidertipps bei den Hunderennen waren soviel Wert wie die türkische Lira.
Ich hatte kaum noch Kunden. Und die, die ich hatte, wollten oder konnten mich nicht bezahlen.
Fortuna ist eine Hure. Doch um mein Bett hatte sie schon lange einen großen Bogen gemacht.
Meine letzten drei verbliebenen Freunde waren die Amerikaner Jack, Johnny und Jim.
Die Lage war aussichtslos. Nicht, das ich das nicht gewohnt war. Doch diesmal schien es wirklich auf den Nullpunkt hinauszulaufen. Ich stand kurz davor meine Detektei und damit meinen Lebensinhalt zu verlieren.

Durch die halb geöffneten Jalousien drang das letzte rötliche Licht der untergehenden Sonne in mein Büro.
Gerade wollte ich Jim aus der Schublade holen, um mir einen weiteren Schluck von dem Elixier zu gönnen, mit dem die Tränen nicht so bitter schmecken, als sie hereinkam.

Während die Sonne hinter mir unterging, ging sie vor mir auf.
Ich hatte nie zuvor eine solche Schönheit gesehen. Vor Erstaunen hätte ich fast den Halt verloren und wäre nach hinten vom Stuhl gekippt.
Zumindest meine Zigarre fiel mir aus der Hand und fügte dem Teppich ein weiteres Brandloch hinzu.

Es war unfassbar. Die Frau hätte mir den Tod meiner Mutter verkünden, meinen Hund erschießen und mir meinen eigenen Tod ankündigen können, ich hätte sie trotzdem geliebt.
In der Geschichte der Menschheit hatte wohl noch kein Mensch irgendwo so deplatziert gewirkt wie diese Königin, ach was sage ich, diese Göttin, in meiner kärglichen Hütte (um mir den Ausdruck „erbärmliches Drecksloch“ zu ersparen).
Sie trug ein schwarzes Kleid und ihr Gesicht war halb durch einen schwarzen Schleier verdeckt, der von ihrem Hut hing.
Schwarz war definitiv ihre Farbe.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht um wen sie trauerte. Doch ich dankte Gott auf Knien dafür, dass er ihn oder sie zu sich geholt hatte.
Ich war in Versuchung mir die Ohren zuzuhalten. Sollte ihre Stimme nämlich ebenso lieblich sein, wie ihr, durch die schwarze Kleidung kontrastiertes, helles, leuchtendes Gesicht, befürchtete ich, das mein Herz soviel Glück nicht verkraften könnte.

Selbst Horatio, der bis dahin in seiner Ecke gelegen und mit hängenden Ohren meine Melancholie geteilt hatte, selbst er schien nun völlig verändert. Er hatte die Ohren gespitzt und schaute sie an, als sei sie ein vom Himmel gesandter göttlicher Hundekuchen.

Sie trat direkt vor meinen Schreibtisch, beugte sich herunter und stützte sich mit beiden Händen darauf auf.
Ich hatte mittlerweile die Füße vom Tisch genommen. Weniger aus Höflichkeit, als vielmehr um die Zigarre auszutreten.
Sie sah mir tief in die Augen und sagte den klischeereichen Satz „Ich hörte Sie sollen der Beste sein.“.
Ich antwortete „Natürlich bin ich das.“. Dann zeigte ich mit beiden Händen auf meine kärgliche, billige Einrichtung und fügte hinzu „Könnte ich mir sonst diesen Palast leisten?“.
Ich biss mir direkt wegen meinem Sarkasmus selbst auf die Zunge. War lange her, dass ich mit einer attraktiven Frau gesprochen hatte.
Die Ironie war, ich war wirklich verdammt gut. Nur hatte ich meine Erfolge zu oft in geselliger Runde mit Jack, Johnny und Jim gefeiert.

„Der äußere Anschein trügt manchmal.“ sagte sie zu meiner Überraschung.
Ich fragte „Was genau kann ich für sie tun?“.
„Mein Name ist Marina von Haglund.“ antwortete sie.
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Hatte sie das eben wirklich gesagt?
„Sie haben richtig gehört.“ erklärte sie, als habe sie meine Gedanken gelesen.

Der alte von Haglund hatte eines der besten Rennpferd Gestüte des Landes. Kaum ein großes Rennen auf der Welt, in dem nicht wenigstens eins seiner Pferde am Start war.
Und oft genug gewannen diese dann auch.
Angeblich war hier und da Schiebung mit im Spiel. Allerdings, haben ist haben. Da fragt selten jemand nach dem Wie.

Zwei Wochen zuvor war er schwer vom Pferd gestürzt und vier Tage, vor dem Besuch seiner Tochter bei mir, erlag er seinen Verletzungen.
Laut Zeitung betrug sein Vermögen 1,3 Mrd. Euro. Eine hübsche Summe. Und die Alleinerbin stand vor mir, um mich um meine Dienste zu bitten.
Ich war schon neugierig als ich sie nur sah. Doch nun, nachdem ich wusste wer sie war, wollte ich um jeden Preis erfahren was sie zu mir trieb.
Wieder schien sie meine Gedanken zu erraten.
„Mein Vater wurde ermordet.“
Es war eine nüchterne, emotionslose Feststellung. Sie meinte was sie sagte.
Trotzdem stellte ich die Frage „Davon stand nichts in den Zeitungen. Wie kommen sie darauf?“.
„Ich weis es einfach. Von Ihnen will ich wissen, wer es, wie und warum getan hat.“
„Oho, das sind ja drei Dinge auf einmal. Spannung, Spiel und Schokolade.“
Wieder biss ich mir selbst auf die Zunge. Ich musste lernen meine Klienten ernst zu nehmen.
Doch sie schien nicht gekränkt zu sein. Falls sie es war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Ich zahle Ihnen das Dreifache Ihres üblichen Honorars und eine Erfolgsprämie von einer Million Euro. Nehmen Sie den Fall an?“
Da musste ich nicht lange überlegen und antwortete „Nun, ich habe noch andere wichtige Fälle. Die kann ich nicht einfach für Sie vernachlässigen. Ich müsste…“
„Lassen Sie das!“ unterbrach sie mich laut, aber mit einem höflichen Lächeln. „Nehmen Sie einfach an. Für Gefeilsche fehlen mir der Nerv und die Zeit. Außerdem weis ich sehr wohl, dass Sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Also lassen Sie die Spielchen.“
Verdammt. Die Frau war gut. Desto mehr ich von ihr sah und hörte, desto mehr liebte ich sie.
„In Ordnung. Aber Spesen gehen extra.“ Diesen Witz fand sie gar nicht komisch.
„Wenn Sie wissen, dass ich „Mit dem Rücken zur Wand“ stehe, wie Sie sagen, weshalb wollen Sie dann ausgerechnet mir den Fall geben?“
„Ganz einfach. Erstens, selbst wenn Sie auffliegen, kein Mensch würde meinen, dass ausgerechnet ich einen versoffenen Detektiv anheuere, der seine besten Tage schon hinter sich hat.“
Das hatte gesessen.
„Und zweitens.“ bei diesen Worten beugte sie sich tief zu mir herunter und sah mir direkt in die Augen. Sie holte einen verschlossenen Briefumschlag aus ihrer Handtasche, legte ihn auf meinen Tisch, schob ihn zu mir rüber und fuhr fort: „Zweitens, glaube ich, dass Sie trotz allem der Beste sind.“
Damit drehte sie sich um und verschwand aus meinem Büro.

Ich starrte noch gut zwei Minuten danach auf die geschlossene Tür. Ich weis nicht weshalb. Vielleicht hoffte ich, sie käme wieder.
Dann schaute ich auf den Umschlag, den sie mir dagelassen hatte.
Ich nahm ihn in beide Hände und wiegte ihn darin. Er war gut gefüllt. Ich holte mein Schnappmesser aus der Tasche, ließ es aufschnappen und öffnete den Umschlag.
Den gesamten Inhalt schüttete ich auf meinen Schreibtisch.

Dort lagen nun:
Ein Bündel mit 100 Euro-Scheinen. Es waren genau hundert Stück, also 10.000 Euro.
Ein Siegelring mit den Initialen HH.
Ein Veranstaltungsblatt für ein Pferderennen in Frankfurt. Allerdings war das Rennen knapp drei Wochen zuvor gelaufen.
Ein Foto, welches den alten Heinrich von Haglund mit vier weiteren Männern zeigte. Einer der Männer war auffallend klein. Es musste sich um einen Jockey handeln. Von den anderen drei, waren zwei in von Haglunds Alter. Der dritte war rd. 30 Jahre alt.
Ein weiteres Foto in Schwarzweiß. Zwei kleine Jungs in Lederhosen, die gekünstelt für die Kamera posieren. Ich drehte das Bild um. Dort stand: Papa und Onkel Herrmann 1943. Ich vermutete, dass Marina von Haglund das Bild in ihrer Trauer versehentlich mit in den Umschlag gepackt hatte. Ich ignorierte es.
Ein Schreiben des Bestattungsinstituts. Die Beerdigung Haglunds würde in zwei Tagen stattfinden.
Und, eine Anstecknadel mit Zirkel und Winkelmaß. Das Zeichen der Freimaurer.

Ich fragte mich, was mir Marina von Haglund mit diesen Sachen sagen wollte. Ich wurde irgendwie das Gefühl nicht los, dass die schöne junge Frau mit mir spielte.
Ich beschloss, dem einzigen Hinweis nachzugehen, bei dem ich um diese Uhrzeit noch Fachpersonal finden konnte.



Bumm Bumm Bachmann war ein Mann mit Bauarbeiterstatue. Er war nicht unbedingt intelligent, aber gebildet und bauernschlau.
Seinen Spitznamen hatte er in seiner Jugend beim Eishockeyspiel erworben. Ganz einfach, weil er jeden Gegner in seinem Weg „bumm, bumm“ umhaute.
Heute war Bumm Bumm der einflussreichste Buchmacher der Stadt. Wenn irgendwo auf der Welt ein Rennen, ein Kampf, ein Spiel oder eine Wahl manipuliert war, Bumm Bumm wusste Bescheid.

Er residierte in einer alten Fabrikhalle. In der Halle selbst hatte er sein größtes Wettbüro eingerichtet. Am Ende der Halle konnte man unter der Decke eine Spiegelwand sehen.
Dahinter hatte Bumm Bumm sein Büro.
Ich betrat die Halle, ging an den Fernsehern mit Sportübertragungen aus aller Welt und den Tafeln mit den Quoten vorbei und kam zu der Treppe die zu Bumm Bumms Büro hoch führte.

Bewacht wurde die Treppe von Panzer.
Panzer war mal ein großes Talent im Schwergewichtsboxen. Bis herauskam, dass er unter seinen Handschuhen gelegentlich Schlagringe trug.
Seitdem schlug er sich mit Türsteherjobs durch. Angeblich hatte er mal mit einem Kollegen gewettet, er sei in der Lage jedem beliebigen Menschen das Rückrad zu brechen.
Um das zu beweisen, schnappte er sich die erstbeste arme Sau, die den beiden über den Weg lief, nahm ihn hoch und schmetterte ihn auf sein Knie. Und, um seinem Kollegen zu beweisen, dass er es wirklich kann, brach er ihm das Rückrad gleich an zwei Stellen.
Keine Ahnung ob die Geschichte wahr ist. Aber Bumm Bumm war so beeindruckt von der Story, dass er Panzer zu seinem Leibwächter machte.

Panzer war mehr Tier als Mensch. Er war 2,10 Meter groß und fast genauso breit. Er hatte sich schwer gehen lassen und war fett geworden. Aber unter all dem Fett steckten nach wie vor harte Muskeln.
Ich begrüßte ihn: „Hallo Panzer! Du solltest ein paar Pfund zulegen. Siehst so zerbrechlich aus.“
„Mach keine Witze Marc.“ Doch er grinste dabei. „Du weisst wie’s läuft. Die Knarre und das Messer bleiben hier.“
„Klar.“ sagte ich und legte beides auf die kleine Anrichte neben ihm. An der Leibesvisitation kam ich dennoch nicht vorbei.
Nachdem er mich durchsucht hatte, durfte ich zu Bachmann hochgehen.

Als ich das Büro betrat war Bumm Bumm gerade am telefonieren. Er nickte mir zu und winkte mich heran.

„Hör zu. Mir ist egal ob du für ein paar dreckige Motten die 40 Watt Birne bist.“ machte er seinem Gesprächspartner klar. „In dieser Stadt, in diesem Teil des Universums, bin ich eine gottverdammte Sonne! Um mich kreisen Planeten! Planeten! Verstehst du?“
Bachmann hatte schon immer einen merkwürdigen Hang zu Gleichnissen und dramatischen Auftritten.
Das dümmste Gleichnis, welches ich je von ihm gehört habe, dürfte wohl aus der Bibel stammen. Ich weis nicht mehr was er damit sagen wollte, aber seine Worte waren „Denn sehet die Teppiche. Sie weben nicht, sie streben nicht und dennoch, reichen sie von Wand zu Wand.“

„Du glaubst, du könntest mir Konkurrenz machen? Dann sag ich dir was. Bis morgen Abend bist du aus der Stadt verschwunden. Andernfalls sperr ich dich zusammen mit zwei Junkies und einem Lötkolben in dem dunkelsten Loch ein das ich finden kann. Morgen Abend!“ Damit knallte er den Hörer auf.
„Entschuldige Marc. Ich bin gleich für dich da.“
Er nahm den Hörer wieder auf und wählte eine dreistellige Nummer. Durch das Fenster (Die Spiegelfront, die man vom Wettbüro aus sehen konnte, waren nur verspiegelte Fenster. Bumm Bumm hatte immer alles im Blick) sah ich, wie Panzer zu dem Wandtelefon neben sich griff.
„Pass auf. Der Türke macht wieder Ärger. Diesmal hab ich ihm ein Ultimatum gestellt. Lass ihn beobachten. Wenn er bis morgen Abend nicht aus der Stadt verschwunden ist, sollen die Jungs ihn schnappen und zum alten Festungstunnel bringen.“
Ich sah, dass Panzer etwas sagte wie „Geht klar Boss!“.
„Und sag den Jungs, sie sollen sein wie Briefmarken.“
Schon wieder irgendein blödes Gleichnis.
„Nein!“ hörte ich Bachmann scharf sagen. „Ich meine nicht von einer Seite geleckt und von der anderen gestempelt!“
Ich grinste. Zumindest hatte Panzer Humor.
Bumm Bumm legte seine Hand auf die Sprechmuschel und meinte zu mir: „Es ist heute so schwer Personal zu finden, das vor dem Chef Respekt zeigt.“
Dann nahm er die Hand von der Muschel und sagte zu Panzer:
„Was ich mit dem Briefmarkengleichnis meine ist, sie sollen dranbleiben bis sie am Ziel sind!“
Wieder legte er auf und Panzer tat es ihm nach.

Ich ging näher zu Bumm Bumms Schreibtisch.
„Was führt dich zu mir Marc? Willst du dich für meine Tipps bei den Hunderennen bedanken?“ fragte er grinsend.
„Du weißt schon, weshalb du niemanden bewaffnet hier hoch lässt.“ antwortete ich kühl.
„Das musst du verstehen Marc.“ Wobei er entschuldigend mit den Schultern zuckte. „Das ist rein geschäftlich. Ich muss auf die Quoten achten.“
„Du kannst es wieder gut machen.“ Ich warf ihm das drei Wochen alte Veranstaltungsblatt des Pferderennens in Frankfurt auf den Schreibtisch.
„Weisst du, ob der alte von Haglund bei einem der Rennen an diesem Tag seine Finger im Spiel hatte?“
Bumm Bumm wurde angespannt und fragte „Hast du an dem Tag Geld verloren. Oder weshalb fragst du?“.
„Ein Fall.“ Klärte ich ihn auf.
„Hm. Ich hab nicht dran verdient, also kann ich es dir sagen. Aber was ist dir die Information wert?“
„Was soll das Bumm Bumm? Du schuldest mir was. Beim letzten Mal hast du mich mit falschen Tipps zu Hunderennen bezahlt. Es wird Zeit, mir mal ne echte Info zu geben.“
„Ich schulde dir einen Scheiss! Mein Universum, meine Regeln!“
„Ja, ich weis. Du bist die Sonne. Um dich kreisen Planeten. Aber das du bislang noch keine Supernova erlebt hast, verdankst du unter anderem auch mir. Also lass einfach die Info rüberwachsen.“
Bumm Bumm seufzte leicht.
„In Ordnung Marc. Weil du’s bist. Aber sag’s nicht weiter. Die Leute glauben sonst ich werde weich.“
Ich dachte an Panzers Auftrag. Der Tag, an dem irgendjemand glaubt, dass Bachmann weich wird, muss der Tag des jüngsten Gerichts sein.
Er fuhr fort: „Ich weis nix genaues, aber an dem Tag lief im 5. Rennen „Son of Luzifer“. Ein vierjähriger Wallach aus von Haglunds Stall. Das Rennen war für mich uninteressant. „Son of Luzifer“ war haushoher Favorit. In meinen Wettbüros waren die Wetteinsätze für das Rennen nicht ungewöhnlich hoch. Daher hatte ich vorher weder das Gefühl, es sei manipuliert, noch hatte ich einen Grund mich darüber zu informieren. Aber ich hab das Rennen gesehen. Es war offensichtlich, dass der Jockey das Pferd zurückgehalten hat. „Son of Luzifer“ ging absichtlich als Vierter durchs Ziel. Ich glaub allerdings nicht, dass es dabei um Wetteinsätze ging.“
„Irgend eine Theorie?“
„Hm, normalerweise würde ich auf einen Deal mit Krasser tippen. „Ponderosa“ wurde in dem Rennen erster. Das Pferd stammt aus Krassers „AKF-Stall“. Aber Krasser und der alte Haglund waren tief verfeindet.“
„AKF?“
„Steht für: Alfons Krasser Frankfurt.“

Ich kramte das Bild raus, welches Haglund und vier andere Männer zeigte und warf es zu dem Rennprogramm auf Bumm Bumms Tisch.
„Kennst du außer von Haglund noch einen der Männer?“
Er schaute sich das Bild kurz an und sagte dann nickend: „Ja. Der Jockey heisst John Hammill. Brite. Er hat vor drei Wochen „Son of Luzifer“ geritten.“
Dann zeigte er auf einen alten Mann mit Schnauzer, der links neben von Haglund stand.
„Und der heisst Rudolf Kippler. Er ist der Stallchef in Haglunds Gestüt. Die andern beiden kenn ich nicht.“
Ich nahm das Foto und das Rennprogramm wieder an mich.
„Danke Bumm Bumm. Das hilft mir weiter.“

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ fragte er gönnerhaft, während er sich eine dicke Havanna, aus dem Humidor auf seinem Schreibtisch, anzündete. Dabei schien er meinen neidischen Blick zu genießen.
„Wenn du mich so fragst.“ antwortete ich „Tausend Euro darauf das Ratzinger der neue Papst wird.“
Bachmann lächelte verschmitzt. „Nein. Keine Chance. Das Konklave hat bereits begonnen. Rien ne va plus.“
„Warum? Kein Mensch, außer den Kardinälen, weis, wie es derzeit da drinnen zugeht. Also, was soll’s?“
Sein Lächeln wurde breiter.
„In Ordnung Marc. Du darfst auf die Papstwahl setzen. Aber nicht auf Ratzinger. Die anderen Kandidaten haben doch eh viel bessere Quoten.“
„Willst du damit sagen, du weißt wie die Papstwahl ausgeht?!“ Das konnte nie und nimmer wahr sein.
„Lass es mich so sagen.“ Bumm Bumm kam langsam zum Höhepunkt seiner Selbstgefälligkeit. „Frag dich morgen Abend mal ob Benedikt ein guter Papstname ist.“

Diese Nummer nahm ich ihm nicht ab. Ich verzichtete auf eine Wette und verabschiedete mich. Ich wusste nun was ich wissen wollte.



Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich in einem anderen Wettbüro auf Ratzinger setzen sollte. Beschloss dann aber doch, den Abend direkt in der nächst besten Bar ausklingen zu lassen. Dank Marina von Haglund war ich ja wieder flüssig.

Die nächste Bar war das „Pick Up“. Ich setzte mich an die Theke und bestellte eine Flasche Jackie D. und ein Glas.
Irgendwie musste ich meine Gehirnwindungen in Gang bringen.
Konnte ich Marina von Haglund trauen? Was hatte es mit dem manipulierten Rennen auf sich? Warum sollte Haglund einem Konkurrenten und Erzfeind helfen? Doch am wichtigsten, konnte es wirklich sein, das Bumm Bumm weis wie die Papstwahl ausgeht?!
Während ich über all das nachdachte und stöhnend mein viertes Glas Billig-Whisky leerte, wurde ich von der Seite angesprochen. Eine Frauenstimme fragte: „Harten Tag gehabt?“
„Geht so. Aber etwas Scheisse fühl ich mich schon.“
„Beschissen.“ Gab sie zurück.
„Wie bitte?“
„Beschissen. Du fühlst dich beschissen. Scheisse ist ein Substantiv. Wenn du beschreiben willst wie du dich fühlst, musst du ein Adverb benutzen.“
Ich starrte sie fassungslos an. Die hatte mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt.
„Sorry“ sagte sie. „Ich hab grad meine klugscheisserischen 5 Minuten. Normalerweise bin ich erträglicher.“
„Das beruhigt mich. Und wie gesagt, ich fühl mich nur ein wenig beschissen.“
„Oje.“ Sie schaute auf meine Flasche Jackie. „Was hättest du bestellt, wenn du dich richtig beschissen fühlen würdest?“
Für einen kurzen Moment stellte ich mir diese Frage selbst. Aber ich beruhigte mich.
Mir standen ja noch zwei weitere langjährige, treue und Leid erprobte Freunde zur Verfügung. Nämlich Johnny und Jim.
Ich antwortete ihr: „Das willst du gar nicht wissen.“
Sie warf mir einen Blick zu, als wollte sie sagen „Was für eine Art Mensch bist du eigentlich?“
Aber was sie wirklich sagte war: „Du bist kompliziert.“
Das hatte nun wirklich noch niemand zu mir gesagt. Nur weil ich mir in ner Bar eine ganze Flasche Whisky hinter die Binde kippte, sollte ich kompliziert sein?
„Ich bin nicht kompliziert. Ich bin ganz einfach.“
„Das glaube ich nicht.“ Blieb sie hart.
„In Ordnung. Dann bin ich also kompliziert. Hat das für mich irgendwelche Konsequenzen?“
„Nun“ sagte sie mit zuckersüßem Lächeln „Es macht dich interessant.“
Erst jetzt fiel mir ihr Herzbutton mit der Nummer 37 auf, den sie an der Brust trug.

Das „Pick Up“ war relativ neu. An diesem Tag war ich zum ersten Mal dort. Doch ich hatte schon davon gehört.
Das Geschäftsmodell war schon ein wenig genial. Die Zielgruppe waren Singles die auf einen One-Night-Stand aus waren. Man konnte sich an der Bar im Computer registrieren lassen und bekam dafür eine Nummer.
Bevor man dann mit dem Partner seiner Wahl ging, gab man beim Türsteher, welcher ebenfalls neben einem Computer stand, beide Nummern an.
Am nächsten Morgen bekam dann die Frau einen Anruf aus der Bar. Man wünschte ihr einen guten Morgen und fragte wie’s ihr geht.
Durch diesen Kontrollanruf war die Bar der ideale Platz für Frauen welche Spaß suchen und dabei abgesichert sein wollen. Zumal ihr Begleiter ja auch erfasst war.

Ich überlegte kurz. Dann fragte ich sie: „Soll ich ein zweites Glas bestellen, oder kann ich dir etwas anderes anbieten?“
Ihr Blick glitt abschätzend an mir herab, bevor sie antwortete:
„Warum schenken wir uns nicht das Vorspiel und gehen direkt zu mir?“ antwortete sie.
Ich zeigte auf meine Brust und sagte: „Keine Nummer. Bin nicht registriert.“
„Oho!“ erwiderte sie kokett „Der Hund trägt keine Marke. Schon gut. Ich vertrau dir.“
„Verrätst du mir vorher wenigstens noch deinen Namen? Oder soll ich dich Nummer 37 nennen?“
„Was sind schon Namen. Denk dir einen aus.“
„In Ordnung. Was dagegen wenn ich dich Marina nenne?“
„Nein. Wenn ich für dich eine Marina bin, dann nenn mich so. Dich nenn ich Rüdiger.“
Mit dem Namen war ich zwar alles andere als glücklich. Aber ich bin nun mal ein Mann.
Der Zweck heiligt die Mittel.



Wie sich herausstellte wohnte „Marina“ in dem alten Industriegebiet, in dem Bumm Bumm sein Hauptquartier hatte.
Ihre Wohnung war ein Loft. Es war modern, stilvoll und ziemlich teuer eingerichtet.
Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie eine Art Hausbesetzerin war.
Die Wohnung lag in einer stillgelegten Fabrik. Außer ihr wohnte wohl im Umkreis von fast zwei Kilometern kein Mensch.
Eine interessante Lebensart. Zumindest wusste ich nun, wer von uns beiden der komplizierte Mensch war.

„Marina“ hatte nichts dem Zufall überlassen. Die Nacht schien von vornherein geplant zu sein.
Obwohl sie an mir hing, mich umklammerte und mich küsste während ich sie über die Schwelle trug, schaffte sie es, sich im Vorbeigehen die Fernbedienung für ihre Stereoanlage zu schnappen und ich hörte plötzlich Sade von Liebe singen.
Für einen Moment erwartete ich, dass sie auch die zahlreichen Kerzen und die Räucherstäbchen mit einer Fernbedienung anknipst.
Stattdessen löste sie unsere enge Umarmung und verschwand mit den Worten „Ich will mich noch mal etwas frisch machen. Sei so gut und zünde die Kerzen und zwei Räucherstäbchen an.“ ins Badezimmer.
Ich tat also was sie mir aufgetragen hatte und warf dann einen Blick in den kleinen Kühlschrank, den sie praktischerweise neben dem Bett stehen hatte.
Dort fanden sich alle möglichen Getränke, darunter auch zwei Flaschen Piccolo, sowie Schokosirup und Streusel, Honig, Sprühsahne usw.
Die Frau wurde mir langsam richtig sympathisch.
Außerdem hatte sie auf ihrem Nachttisch offen eine Jumbopackung Kondome stehen.

Ich war immer noch über den Kühlschrank gebeugt, als sich „Marinas“ Finger in meinen Hintern krallten.
„Was Gutes gefunden, Rüdiger?“
Zwar sträubte sich alles in mir gegen diesen Namen, aber ansonsten wusste die Frau, welche Knöpfe man drücken muss.
Ich drehte mich um und antwortete ihr „Ja. Ich hab was Gutes gefunden. Die Erkenntnis, dass das eine verdammt heisse Nacht wird.“
„Versprochen!“ damit zog sie mich auf ihr Bett.

In dieser Nacht schlief ich nicht viel. Und als ich mich morgens aus dem Bett stehlen wollte, wurde ich zurückgehalten, mit den Worten „Ich bin noch nicht fertig mit dir!“
Irgendwann war sie dann aber doch mit mir fertig und ich schleppte mich völlig übermüdet zu meinem Büro, um dort Horatio Gassi zu führen. Da war es allerdings schon Mittag.



Mir graute vor meinem vollen Tagesprogramm.
Ich musste zu den Ställen von Alfons Krasser und Heinrich von Haglund. Außerdem die örtlichen Freimaurerlogen abklappern und überall ein paar Fragen stellen.
Ach ja, eine schwarze Krawatte für die Beerdigung am nächsten Tag brauchte ich auch noch.

Als erstes schaute ich nach, welche Freimaurerlogen es in der Stadt gab. Es waren Gott sei dank nur zwei.
Auf dem Weg zu den „Salomonischen Tempelbauern“ besorgte ich mir die Krawatte. Bei den Brüdern dort hatte ich allerdings keinen Erfolg. Haglund war kein Mitglied.
Also ging meine Reise weiter zu den „Freunden des flammenden Schwerts“. Auch da wusste keiner etwas von einer Mitgliedschaft von Haglunds bei den Freimaurern.
Ich ließ auch die Großlogen eine Mitgliedschaft von Haglunds prüfen. Nichts.
Die Anstecknadel mit Zirkel und Winkelmaß gehörte also entweder nicht dem alten Haglund, oder er war Mitglied in einer irregulären Loge.
Ich beschloss die Spur erstmal ruhen zu lassen. Der Tag war schon fast vorbei und ich wollte wenigstens noch in Krassers Stall vorbeischauen.



Krassers Anwesen war ziemlich groß. Krasser selbst war nicht da. Aber ich fand schnell seinen Stallchef, Igor Jokic. Er stammte wohl aus dem ehemaligen Jugoslawien und sprach einen leichten Dialekt. Er war klein, dick, trug eine Halbglatze und war vom Typ her der ewig lustige Dicke.
Ich behauptete von einer Lokalzeitung zu sein und über Pferde generell zu schreiben. Ich stellte Jokic in Aussicht, ihn und den Hof namentlich zu erwähnen. Er war sofort einverstanden mich etwas herumzuführen, sagte aber auch, dass er das nur tue, weil Krasser nicht hier sei. Der Alte, wie er ihn nannte, wäre sehr misstrauisch gegenüber allen Fremden.
Schön, das der gutgläubige Igor hier ist, dachte ich bei mir.

In einem kleinen Nebenraum in einem der Ställe war auch ein Bild von Krasser zu sehen, wie er neben einem seiner Siegerpferde posiert.
Bei jedem Pferd, das halbwegs nach einem Rennpferd aussah fragte ich nach dem Namen, dem Geschlecht, besonderen Merkmalen und so weiter.
Jokic beantwortete mir alle Fragen bereitwillig. Irgendwann fragte ich bei einem braunen Wallach nach dem Namen und erhielt als Antwort „Ponderosa“.
Ich sagte „Oh, hat der nicht vor drei Wochen in Frankfurt ein Rennen gewonnen?“
„Ja, ja!“ sagte Jokic stolz „Im fünften Rennen. Der Sieg kam für uns alle überraschend. Eigentlich war „Son of Luzifer“ aus dem Stall von Haglunds der Favorit. Aber der lief irgendwie kein gutes Rennen.“
Wenn Igor von der Manipulation wusste, konnte er sich sehr gut dumm stellen. Aber das traute ich ihm nicht zu.
„Wo Sie das grade sagen.“ hakte ich nach „Stimmt es, dass Ihr Chef und von Haglund verfeindet waren?“
„Oh ja. Man konnte den Namen Heinrich von Haglund nicht mal aussprechen, ohne, dass sich auf der Stirn vom Alten Zornesfalten bildeten.“
„Wissen Sie weshalb? Das war doch kein normaler Konkurrenzkampf.“
„Nein, das hab ich nie herausgefunden. Doch dieser Krieg herrschte erst seit rd. 17 Jahren. Davor waren die beiden sehr gut befreundet.“
„Ach, wirklich?!“
„Die beiden waren unzertrennlich. Aber irgendetwas muss zwischen ihnen passiert sein. Ich würde Ihnen zwar gern noch mehr zeigen, aber so ein Stall managt sich nicht von alleine. Viel Glück mit Ihrem Artikel.“
„Danke. Sie haben mir sehr geholfen.“



Ich hatte noch etwas Zeit und fuhr deshalb auch noch bei den Ställen von Haglunds vorbei.
Weder Marina von Haglund, noch der Stallchef Rudolf Kippler waren da. Ich tischte dem Hauspersonal dieselbe Geschichte auf, die ich auch dem gutmütigen Igor erzählt hatte.
Zwar wurde ich argwöhnisch beäugt, doch durfte ich mich frei auf dem Anwesen bewegen.
Die Ställe gaben mir nicht besonders viel Aufschluss über den Fall.
In dem Privatstall Marina von Haglunds stand ein gerahmtes Bild mit einem 7 oder 8 jährigen Mädchen, dem alten Heinrich von Haglund in etwas jüngeren Jahren, einem prachtvollen Pferd und einer wunderschönen jungen Frau.
Ich drehte das Bild herum. Neben dem Datum stand „Ich, Karla, Marina und Luna“.
Das Bild war wohl vom alten Heinrich von Haglund aufgestellt worden und zeigte ihn, mit seiner Frau, seiner Tochter und dem damaligen Pferd von Marina.
Ich nahm an, dass Karla der Name der Frau und Luna der des Pferdes war.
Die Frau von Haglunds war früh gestorben. Soviel wusste ich. Ich hatte den leisen Verdacht, das auch hinter ihrem Tod mehr stand, als man auf den ersten Blick sehen konnte.



Es wurde Zeit, auch diesen Tag ausklingen zu lassen.
Ich landete in einer dreckigen Eckkneipe. Sie war von der Sorte, in der kleine Angestellte und Arbeiter sich einen antranken, bevor sie zu ihrer herrischen Frau oder in ihre leere, deprimierende Wohnung zurückkehrten.
Ich suchte mal wieder Gesellschaft und ich fand sie. Diesmal war es mein alter Freund Johnny.

Nachdem mich gestern „Marina“ aus meinen Whisky getränkten, tiefgründigen Überlegungen gerissen hatte, konnte ich in dieser Atmosphäre in Ruhe über alles nachdenken.
Ich wusste immer noch nicht, ob ich Marina von Haglund trauen konnte. Oder was ich von dem manipulierten Rennen halten sollte. Nur die Frage, ob Bumm Bumm wusste wie die Papstwahl ausgeht, schien sich zu beantworten.

Im Fernsehen lief eine Übertragung vom Vatikan. Man sah Ratzinger auf dem Balkon stehen. Sprechchöre sangen „Benedidetto“.
Ich hörte Bumm Bumms Worte in meinem Gedächtnis widerhallen „Frag dich morgen Abend mal ob Benedikt ein guter Papstname ist.“. Der Mann war zweifellos ein Riesenarschloch. Doch als Buchmacher war er ein Gott. Da war er wirklich eine Sonne.

Eine Frage war damit beantwortet. Aber wie bei einer Hydra, wuchsen dafür zwei Fragen nach.
Weshalb hatten sich Haglund und Kessler zerstritten und die letzten Jahre gegenseitig gehasst?
Und was hatte es mit dieser Anstecknadel der Freimaurer auf sich, wo von Haglund doch offenbar kein Mitglied war?

An diesem Abend war Johnny keine wirkliche Hilfe. So sehr ich seine Gesellschaft auch schätzte, kam ich auch mit ihm nicht auf die Lösung all dieser Fragen. Ich musste tiefer bohren. Vielleicht würde ich auf der Beerdigung am nächsten Tag mehr erfahren.



Ich schleppte mich wieder heim. Also in mein Büro. Dabei stützte ich mich auf die halb volle Flasche mit meinem flüssigen Freund.
An meiner Bürotür, mit der Milchglasscheibe in der oberen Hälfte, angekommen, hatte ich Probleme den Schlüssel ins Loch zu bekommen. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ich auch mit Horatio noch mal los musste.

Endlich hatte ich die Tür auf, als ich einen schweren Schlag auf den Hinterkopf bekam.
Ich muss einige Sekunden weg gewesen sein. Als ich aufwachte, hörte ich Horatio knurren.
Ich griff nach meiner Pistole und zielte auf die verschwommene Gestallt, die sich umdrehte und sich beeilte aus meinem Büro zu verschwinden. Er oder sie konnte entkommen. Ich war noch zu benommen um aufzustehen, geschweige denn jemanden zu verfolgen.

Mein guter Horatio. Ohne ihn wäre das nicht so glimpflich ausgegangen.
Irgendwie musste dieser Überfall mit dem Haglund-Fall zusammenhängen. Das spürte ich.
Doch bislang dürfte eigentlich nur Marina von Haglund von meinem Auftrag wissen. Bumm Bumm konnte es allenfalls ahnen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Besuche bei den Freimaurern und in Krassers Stall für allzu viel Aufmerksamkeit gesorgt hatten.
Also, wer könnte es auf mich abgesehen haben? Statt Fragen zu lösen hatten der Tag und der Abend nur neue Fragen aufgeworfen.

Horatio wimmerte. Nicht das er sich Sorgen um mich gemacht hätte. Er musste einfach nur ein Geschäft erledigen.
Ich ging mit ihm zum Aufzug, ließ ihn dort allein und drückte die 8.
Das ist der Vorteil, wenn man die Nacht in einem Bürohochhaus verbringt. Wenn ich zu faul zum Gassi gehen war, schickte ich Horatio mit dem Aufzug in den 8. Stock.
Die Etage gehörte komplett den Zeugen Jehovas. Dort konnte er sich eine Stelle suchen und sein Geschäft verrichten. Wie er den Aufzug ruft und wo er mit der Pfote treffen muss, um wieder zu mir in den 4. Stock zu kommen, hatte ich ihm beigebracht.
Es war das perfekte Verbrechen.

Ich warf mich auf die Couch in meinem Büro. Die Bürotür hatte ich offen gelassen. Für Horatio.
Einen Moment dachte ich daran Marius nach meinem Angreifer zu fragen.
Marius war unser Nachtwächter. Er war Rentner und verdiente sich hier ein Zubrot. Er war ein furchtbar netter alter Mann. Nur war er etwas senil und so taub wie er blind war.
Von ihm hatte ich wohl keine Hilfe zu erwarten.
Deshalb sparte ich mir auch später jede Frage, ob er einen Fremden bemerkt hatte.

Ich döste ein. Mein Schlaf war unruhig. Ich träumte von Pferden, vom deutschen Papst, von Marina und „Marina“ und zählte statt Schäfchen, Leute denen von Panzer das Rückrad gebrochen wird.
Als ich aufwachte bemerkte ich direkt eine Gestalt auf meinem Schreibtischstuhl sitzen.
Ich sprang auf und war kampfbereit. Doch dort saß kein Angreifer. Dort saß Marina von Haglund.
Horatio hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt und ließ sich genüsslich graulen.
Glücklicher Hund!
„Guten Morgen!“ sagte sie lächelnd.
Sie trug noch immer Trauer. Verständlich. Die Beerdigung ihres Vaters war schließlich heute.
„Ich wollte vor der Beerdigung noch mal mit Ihnen sprechen. Ich wollte wissen, was Sie herausbekommen haben.“
„Mhm.“ antwortete ich matt.
„Was ist nun? Was haben Ihre Ermittlungen ergeben.“
Ich war zu müde und abgekämpft für dieses Frage-Antwort-Spiel.
„Wenn Sie schon auf meinem Stuhl sitzen, machen Sie doch bitte mal die Schublade auf der rechten Seite auf.“
Sie öffnete die Schublade und meinte „Ein paar Handschellen, ein Revolver, einige Patronen, ein elektrischer Rasierer, ein kleines Brecheisen und eine schwarze Wollmütze. Wie soll mir das helfen?“
„Die Schublade darunter.“ klärte ich sie auf.
Sie öffnete also die andere Schublade und gab auch deren Inhalt bekannt.
„Einige Flaschen billiger Whisky.“
„Ja. Das bringt uns weiter. Werfen Sie mir eine Flasche Jackie rüber.“
Zum ersten Mal bemerkte ich einen gewissen Ekel auf ihrem Gesicht. Doch sie warf mir die Flasche zu und ich nahm einen kräftigen Schluck.
„Sie haben einen Sinn für Rätsel Frau von Haglund. Einen netten Umschlag haben Sie mir dagelassen. Ich hab als erstes den Renntag überprüft für den Sie mir das Veranstaltungsblatt gegeben haben. Das 5. Rennen war getürkt. „Son of Luzifer“ hat absichtlich verloren.“
„Danke. Ich hab das Rennen gesehen. Deshalb habe ich Ihnen das Veranstaltungsblatt gegeben. Ich bezahl Sie nicht, damit Sie mir Dinge sagen, die ich schon weis. Wissen Sie auch weshalb John das Pferd zurückgehalten hat?“
„John?“
„Der Jockey! John Hammill. Er hat an dem Tag „Son of Luzifer“ geritten. Haben Sie denn so wenig über das Rennen erfahren?!“
„Ja. Nein. Was ich meine ist, ich wusste wer John Hammill ist. Aber der Tag ist noch jung und die Nacht war anstrengend.“
„Und was war der Grund für den Betrug?“ fragte Sie ungeduldig.
„Daran arbeite ich noch. Laut Buchmachern war es jedenfalls kein Wettbetrug. Momentan überprüf ich, ob Ihr Vater Alfons Krasser einen Gefallen tun wollte.“
„Krasser?!“ rief sie wütend, wobei sie aufsprang und damit Horatio verjagte. „Mein Vater hätte Krasser niemals geholfen! Egal wobei!“
„Soviel weis ich mittlerweile auch. Können Sie mir vielleicht verraten, weshalb die beiden so verfeindet waren?“
„Der einzige Mensch der noch lebt und das weis ist Krasser.“
„Die Fehde lief seit 17 Jahren. Damals waren Sie 12 Jahre alt. Was für ein Verhältnis hatten sie vorher zu Krasser?“
„Er war eine Art Onkel für mich. Aber das hat mit dem Fall nichts zu tun.“ Damit schien das Thema für sie erledigt.
„Onkel Alfons? In Ordnung. Ich habe auch die örtlichen Freimaurerlogen abgeklappert. Ihr Vater war nirgends Mitglied. Können Sie sich einen Reim darauf machen?“
„Zum einen. Mein Vater verschwand regelmäßig zu Logentreffen. Aber ich weis auch nicht von welcher Loge er sprach. Zum anderen. Haben Sie sich auch mal die Rückseite der Anstecknadel angesehen?“
Ich kramte die Anstecknadel mit dem Zirkel und Winkelmaß heraus und schaute auf die Rückseite. Dort stand nur ein Wort.
„Loki? Wer oder was soll das sein?“ So wirklich brachte mich das Wort nicht weiter.
Marina antwortete abfällig „Schon klar. Germanische Mythologie steht in Deutschland nicht auf dem Lehrplan. Loki ist die germanische Version des Teufels.“
Ich blickte sie fragend an. Wie sollte mir das weiterhelfen?
Sie schien mal wieder meine Gedanken zu lesen. Nun klang Marina von Haglund leicht gereizt. „Warum Loki auf der Anstecknadel steht, sollen Sie herausfinden. Ich kann schließlich nicht die ganze Arbeit für Sie machen.“
Sie atmete tief durch und fuhr dann etwas besänftigt fort: „Machen Sie sich fertig. Ich nehme Sie mit zur Beerdigung.“



Marina von Haglund hatte mich kurz vor dem Friedhof aus ihrem Porsche geworfen.
Niemand sollte uns zusammen sehen.
Die Trauerfeier fand direkt am Grab statt.
Als ich dort ankam, waren bereits einige Trauergäste vor Ort. Marinas Mutter war früh gestorben. Sie war die einzige Verwandte von Haglunds.
Unter den Trauergästen entdeckte ich den Jockey John Hammill und Rudolf Kippler, den Stallchef. Die beiden kannte ich ja von dem Foto. Aber die anderen beiden Männer von dem Foto konnte ich nirgends entdecken.
Ein Autokorso mit Limousinen kam auf den Friedhofsparkplatz gefahren. Die Männer, die aus den Wagen stiegen, waren alle fein gekleidet, trugen Zylinder und weiße Handschuhe.
Kein Zweifel, es handelte sich um Freimaurer.
Sie kamen in einer feierlichen Prozession zum Grab geschritten. Unter ihnen entdeckte ich den zweiten älteren Mann von dem Foto. Doch was mich völlig überraschte und aus der Fassung brachte, einer der Männer war Alfons Krasser.
War die Feindschaft nur Fassade? Oder konnten die beiden ihren Streit in der Loge beiseite legen?
Dieser Fall wurde immer mysteriöser.
Krasser gab sich alle Mühe von Marina von Haglund nicht erkannt zu werden und seine Logenbrüder stellten sich geschickt so, dass Marinas Sicht auf Krasser stets verdeckt war.
Der fremde Mann von dem Foto ging auf Marina zu und richtete ihr wohl im Namen der Loge sein Beileid aus. Außerdem gab er ihr ein paar weiße Handschuhe. Das dürften die Ihres Vaters gewesen sein.
John Hammill schien auch von Krasser abgeschirmt zu werden. Doch Rudolf Kippler hatte freie Sicht auf Krasser und schien nicht im Geringsten überrascht.
Dieses Begräbnis vergrößerte die Zahl meiner Fragen, ohne wirklich Antworten zu liefern.

Hammill verabschiedete sich früh. Ich folgte ihm auf den Parkplatz und tippte ihm von hinten auf die Schulter.
„Mr. Hammill?“
„Wer sind Sie?“ fragte er gereizt.
„Mein Name ist Rüdiger Herrmann von der Allgemeinen Zeitung.“ Der Name Rüdiger hatte sich in mein Gehirn gebrannt. Die einzig negative Erinnerung an den Abend mit „Marina“.
„Und was wollen Sie?“
„Ich hab vor etwas über drei Wochen das 5. Rennen in Frankfurt gesehen. Weshalb haben Sie „Son of Luzifer“ zurückgehalten?“ fragte ich direkt und möglichst aggressiv. Sollte doch kein Problem sein, einen kleinen zierlichen Jockey einzuschüchtern.
„Ich weis nicht wovon Sie sprechen!“ gab er mir laut zu verstehen.
„Das wissen Sie ganz genau!“ brüllte ich ihn an, wobei ich ihn an beiden Schulten rüttelte.
Plötzlich wurde ich rechts und links von je zwei starken Armen gepackt und von John Hammill weggezogen.
„Werden Sie von diesem Mann belästigt?“ fragte einer der beiden Gorillas den Jockey.
„Ja. Schafft ihn mir aus den Augen!“ antwortete dieser.
Die beiden Bodyguards warfen mich in hohem Bogen vom Friedhofsgelände.

Ich bekam Kopfschmerzen. Das lag an all diesen ungelösten Problemen. Ich sah einfach kein Land.
Und die Tatsache, dass ich von Johns Leibwächtern mit dem Kopf voran gegen einen Laternenpfahl geschleudert worden war, hat meinem Kopf bestimmt auch nicht gut getan.



Da es ein ländlicher Friedhof war, war ich mehr oder weniger gestrandet. Aber ein Mann mit mindestens einem gesunden Daumen kommt überall hin. Ich hatte sogar zwei gesunde Daumen.
Es dauerte nicht lange, dann hielt ein alter VW-Bus neben mir.
Der Fahrer war ein Schwarzer mit Rastalocken, der auf alles im besten Jamaica-Stil mit „Yamman, Yamman!“ antwortete. Sein Name war schlicht Carl.
Außerdem war der verrauchte Innenraum von drei weiteren Raggae-Anhängern bevölkert.
Ein langhaariges blondes Mädchen stellte sich als Anne vor. Sie schien am weitesten abgedriftet zu sein. Immer wieder meinte sie zu mir „Du bist aber ein süßes Gummibärchen“.
Dann war da Michael, ein ebenfalls langhaariger junger Mann mit einem deplatziert wirkenden Schnauzer. Damit wirkte er ein wenig wie ein Siebziger-Jahre-Pornostar. Er klärte jeden über das pure Böse in Form des Kapitalismus auf. Egal ob man das wollte oder nicht.
Und ein bärtiger Althippie der meinte „Ich heisse eigentlich Hans-Dieter. Aber nenn mich Nuwanda.“
Sein einziges Thema waren Verschwörungstheorien und unsere „faschistische“ Regierung.
Es war eine tolle Truppe.
Der Dialog auf der Fahrt zu meinem Büro, hörte sich in etwa so an:
Michael: „Die Maschinerie des Kapitalismus ist mit dem Blut, dem Schweiss und den Tränen der Arbeiter geölt.“
Carl: „Yamman, Yamman!“
Anne (an mich gewandt): „Du bist aber ein süßes Gummibärchen.“
Irgendjemand fing an zu lachen.
Nuwanda: „Wusstest du, dass dieses faschistische System dir Peilsender einbaut, wenn du zum Zahnarzt gehst?“
Seinem Gebiss nach zu urteilen, hatte er diese Theorie schon länger und sich erfolgreich gegen den Angriff der Faschisten gewehrt.
Carl: „Yamman, Yamman!“
Anne (völlig begeistert mit der Hand über meine Wange streifend): „Du bist aber ein süßes Gummibärchen.“
Da war wieder das Lachen. Nur etwas lauter als zuvor.
Michael: „Der Kampf gegen unsere Konsumgesellschaft muss unser erstes Ziel sein!“
Carl: „Yamman, Yamman!“
Anne (nachdem sie mich auf die Stirn geküsst hatte): „Du bist aber ein süßes Gummibärchen.“
Schon wieder lachte irgendwer, ohne das ich hätte sagen können, woher das Lachen kam.
Nuwanda: „Die Faschisten wollen die totale Überwachung. Krieg gegen den Terror. Das ich nicht lache. Man will uns nur kontrollieren!“
Carl: „Yamman, Yamman!“
Anne (mich mittlerweile fest umklammernd): „Du bist aber ein süßes Gummibärchen.“
Diesmal war das Lachen fast hysterisch. Ich wusste nun auch von wem es kam. Es kam von mir.

Wir erreichten das Bürohochhaus mit meiner Detektei.
Ich hatte mich wieder beruhigt und mit dem Lachen aufgehört.
Jeder bekam eine meiner Visitenkarten und ich verabschiedete mich von jedem einzeln.
Nuwanda meinte zu mir: „Hüte dich vor den Faschisten.“
Michael forderte mich auf: „Schwimm nicht mit dem Strom. Die Kapitalisten wollen willenlose Konsumzombies.“
Anne schaute mich traurig an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie fragte mit erstickender Stimme: „Gummibärchen?“
Ich lächelte sie an, gab ihr einen Kuss und sagte beim Aussteigen: „Mach’s gut Carl.“
Ich hörte ihn noch „Yamman, Yamman!“ rufen, bevor sich der VW-Bus wieder in Bewegung setzte.



Im Büro versorgte ich Horatio und überlegte, was ich als nächstes tun sollte.

Ich musste herausfinden, was es mit Loki und den Freimaurern auf sich hatte.
Also besuchte ich Enzo Valentino. Er war ein ehemaliger Mitbewohner von mir und beschäftigte sich mit allem Mythischen. Es war ein Schuss ins Blaue, allerdings einen Versuch Wert.
Eigentlich hieß Enzo nicht Enzo, sondern Dennis Schmidt. Aber irgendwann ließ er sich von jedem nur noch Enzo Valentino nennen. Er hoffte, seinen Marktwert bei Frauen zu steigern, wenn man ihn für einen Italiener hielt. Ob das funktioniert hat? Ja, ich glaube schon.
Enzo war mittlerweile Motivationstrainer.
Ich war vor allem froh mal das Pferdethema loszuwerden. Damals galoppierten Pferde regelmäßig durch meine Albträume, so sehr beschäftigte mich das manipulierte Rennen, von Haglunds Tod und alles was damit zusammenhing.
Als ich in den Raum kam, in dem Enzo seine Kurse abhielt, stand er gerade vor einer bunten Gruppe aus Managern, Hausfrauen und Rentnern. Er schrie immer denselben Satz:
„Was machst du, wenn du vom Pferd fällst?“
Und die Gruppe antwortete im Chor:
„Ich steige wieder auf.“
„Was machst du, wenn du vom Pferd fällst?“
„Ich steige wieder auf!“
„Was machst du, wenn du vom Pferd fällst?“
„Ich steige wieder auf!“
„Was machst du, wenn du vom Pferd fällst?“
„Ich erschieß das scheiss Vieh!“ rief ich gereizt.
Alles schaute mich an. Auch Enzo. Er schüttelte den Kopf, sah auf seine Uhr und sagte:
„In Ordnung Leute. Es ist ohnehin schon spät. Machen wir Schluss für heute.“

Die Rentner, Manager und Hausfrauen verließen nach und nach den Raum.
Enzo kam zu mir und wollte wissen:
„Du magst wohl keine Tiere?“
„Doch. Am liebsten heiss und fettig.“
„Wofür hasst du mich so?“
„Nur so.“ gab ich zurück.
„Also, was willst du?“
„Ich brauche deine Hilfe.“ Dieser Satz an Enzo gerichtet, irritierte mich fast so sehr wie ihn.
„Du brauchst meine Hilfe?! War das nicht sonst immer umgekehrt?“
Ich kramte die Anstecknadel der Freimaurer heraus, gab sie ihm und fragte „Kannst du dir darauf einen Reim machen?“
Er warf einen kurzen Blick darauf und meinte gelangweilt „Zirkel und Winkelmaß ohne sonstige Symbole. Eine ganz normale Anstecknadel wie sie Freimaurer tragen.“
„Sieh dir die Rückseite an.“
Enzo drehte die Nadel um und starrte mich danach mit großen Augen an.
„Wo um alles in der Welt hast du das Ding her?“ fragte er mit einer Mischung aus Begeisterung und Bestürzung.
„Du weißt was das bedeutet?“ Offenbar war mein Schuss ins Blaue ein Treffer.
„Vielleicht. Aber das ist nur eine Theorie.“
„Ich höre.“
„Wie viel weist du über Loki?“
„Nur das er der germanische Teufel ist.“
„Da weist du ja nicht viel. Und das was du weist, stimmt nur im Ansatz. Loki ist nicht einfach der Teufel. Loki ist halb Ase, also germanischer Gott und halb Riese. Er gilt als schön und der schlauste aller Götter. Außerdem ist er sehr fruchtbar. Er hat zahlreiche Kinder. Darunter drei Erzfeinde der Asen.
Erstens: Die Midgardschlange. Sie tötet Thor beim Weltenende.
Zweitens: Die Todesgöttin Hel
Drittens: Den Wolf Fenrir. Er verschlingt Odin während des Ragnarök.
Und er zeugt nicht nur Kinder, er trägt sie auch aus. Z.B. bringt er in Gestalt einer Stute Sleipnir zur Welt.“
„Moment, Moment!“ Das war mir ein wenig zuviel Information auf einmal. „Nochmal ganz langsam. Was ist Ränga..., äh Ragna…, wie nanntest du das?“
„Ragnarök. Das germanische Weltenende.“
„Und was hat es mit diesem Schleipdingens auf sich?“
„Sleipnir. Das achtbeinige Pferd Odins. Mann, du weist ja gar nix. Ich leb jetzt schon so viele Jahre in Hessen, aber euer Bildungssystem schockt mich immer wieder aufs Neue. Kein Wunder, dass eure Nachbarländer so viele hessische Schulasylanten aufnehmen müssen.“
„Kannst du vielleicht mal zum Punkt kommen!? Was ist jetzt mit der Anstecknadel?!“
„In Ordnung. Der Name Loki bedeutet entweder Feuerbringer, Luftgott oder Lügengott. Je nach Lesart. Jetzt kommt dein Punkt. Loki wird teilweise auch Loge geschrieben. Das ist der erste auffallende Zusammenhang mit den Freimaurern.“
„Sind die Freimaurer nicht christlich?“
„Jein. Mein ehemaliger Geschichtsprofessor Joachim Mahlberg, hatte dazu seine eigene Theorie. Demnach hatten die Germanen einen idealen Weg gefunden, sich mit dem Christentum zu arrangieren, ohne behaupten zu müssen, dass alles woran ihre Vorfahren geglaubt hatten falsch war. Man sagte einfach, jetzt ist Ragnarök. Die Götter sind gestorben und die Menschen sind als neues, christliches Menschengeschlecht zurückgekehrt.
Mahlbergs Theorie zufolge gab es allerdings eine germanische Kaste, die dieser Erklärung nur bedingt folgte. Nach deren Auffassung, hatte Ragnarök zwar stattgefunden, aber Loki hatte als einziger germanischer Gott überlebt. In der germanischen Mythologie heisst es, Loki und Heimdall würden sich während des Ragnarök gegenseitig töten. Doch die Loki-Anhänger glauben, Loki konnte seinem vorbestimmten Schicksal entgehen und hätte eine Art Deal mit dem Christengott. Schließlich löste er Ragnarök quasi aus und machte mit der Vernichtung der alten Götter den Weg für das Christentum frei.
Mahlberg nannte diese Leute: Ritter Lokis. Angeblich existieren sie heute noch. Sie sind zwar Christen, verehren aber auch nach wie vor Loki.“
„OK.“ Meine Kopfschmerzen meldeten sich wieder zu Wort. Das war zuviel für meine grauen Zellen. „Wo kommen dabei die Freimaurer ins Spiel?“
„Glaubt man Mahlberg, dann verstecken sich die Ritter Lokis hinter einigen weltlichen und geistigen Institutionen und Vereinen. Auch eigene Freimaurerlogen sollen darunter sein.“
„Kann ich mit diesem Mahlberg mal sprechen?“
„Das dürfte schwierig werden. Er kam vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben. Komischerweise ereignete sich dieser „Unfall“ nur zwei Tage nach Mahlbergs Ankündigung ein Buch über seine Theorie zu veröffentlichen. Unnötig zu erwähnen, dass man in seinem Nachlass weder das Buch, noch irgendwelche Aufzeichnungen zu dem Thema fand.“
„Scheint ja ein netter Verein zu sein.“
„Ehrlich gesagt, bis du mit dieser Anstecknadel aufgetaucht bist, hielt ich meinen alten Prof einfach für verrückt.“
„Tja. Bis heute hielt ich dich für einen unnützen Idioten. Sieht aus als hätten wir uns beide geirrt.“
Enzo warf mir seinen „Am liebsten würde ich dir die Eier abschneiden und im Einmachglas an deine Mutter schicken“ Blick zu.
Ich sagte „Den Blick kenn ich. Spar dir das Einmachglas und beruhig dich. So wie’s aussieht gibt’s diese Ritter Lokis wirklich. Ne Idee wie ich deren Loge finden kann?“
Enzo fasste diese Frage noch mal für mich zusammen:
„Damit ich das richtig verstehe. Du tauchst hier auf, ruinierst meine Motivationsstunde, stellst viele Fragen, beleidigst mich und forderst mich dazu auf, dir beim Finden einer radikalen Freimaurerloge zu helfen, wodurch du mich höchstwahrscheinlich in Lebensgefahr bringst. Stimmt das soweit?“
Ich nickte und meinte „Ja. So ist es. Du hast nur vergessen zu erwähnen, dass du dafür von mir keinen müden Cent zu sehen bekommst.“
Enzo seufzte leicht, grinste mich verschmitzt an und antwortete: „Klar helf ich dir. Komm mit zu mir. Dann geb ich dir meine Aufzeichnungen von Joachim Mahlbergs Vorlesungen.“
„Gut. Aber wir müssen vorher in meinem Büro vorbei. Ich muss Horatio mitnehmen. Er hatte zuletzt wenig Auslauf.“
„Warum ist er nicht in deiner Wohnung?“
Ich lächelte gequält. „Welche Wohnung?“



Ich ging allein in das Bürohochhaus. Marius schlief hinter seinem Panzerglas den Schlaf der Gerechten.
Ich fuhr in den 4. Stock und ging zu meinem Büro. Die Tür stand offen. Wie konnte das sein? Mit gezogener Waffe spähte ich in das Büro. Leer. Nicht mal Horatio war da.
Während ich noch in der Tür stand, hörte ich am anderen Ende des Flurs den Aufzug kommen. Der Lauf meiner Waffe zielte auf die Aufzugstür, als diese sich öffnete. Mein Finger am Abzug zitterte leicht.
Dann kam durch die geöffnete Tür Horatio glücklich auf mich zu.

Zwar wusste ich immer noch nicht, weshalb meine Bürotür auf war, doch ich verdächtigte Horatio. Dieser Hund überraschte mich immer wieder mit seiner Intelligenz.



Mit Horatio im Schlepptau fuhren ich und Enzo zu seiner WG.

Enzo lebte mit drei anderen Männern zusammen.
Die Tür zum ersten Zimmer der Wohnung stand offen als wir vorbeikamen.
Ein junger Mann mit Brille saß grübelnd über einer Bibel.
„Das ist Holger. Er studiert vergleichende Religionswissenschaften.“
Holger bemerkte uns gar nicht.

Die zweite Tür an der wir vorbeikamen war zu. Dahinter hörte man ein Baby schreien und eine Männerstimme verzweifelt sagen „Was hast du nur. Um Himmels Willen, was hast du?“
Enzo klärte mich auf „Daniel. Philosophie. Seine Ex-Freundin brachte letzte Woche das kleine Mädchen vorbei. Sie sagte nur, es sei seins und sie würde mit ihrem neuen Freund nach Argentinien auswandern. Das Kind bringt ordentlich Action in unsere WG.“

Auch die dritte Tür war geschlossen. Dahinter hörte man eine Frau lustvoll stöhnen und die Bates sangen:

I don’t love you
I just wanna have some fun
I don’t love you
I just wanna have some fun

Auf meinen fragenden Blick erklärte Enzo: „Frank. BWL. Hält sich für den Größten. Die Frauen teilen wohl diese Meinung. Das Lied ist seine Art von Humor.“

I don’t love you
Can’t you get it?
I realy want your body
Can’t you understand it?
Don’t cry
Don’t cry-y-y

„Frank scheint sich gut zu amüsieren.“ bemerkte ich.
„Der amüsiert sich nicht einfach. Der muss aufpassen, dass er sich nicht wundamüsiert.“
„Interessante Mitbewohner hast du.“
„Ja. Dafür hatte ich schon immer ein Gespür. Wir beide haben schließlich auch schon unter einem Dach gelebt.“

Wir kamen zu Enzos Zimmer.

Es bestand im Wesentlichen aus einer auf dem Boden liegenden Matratze, einem gut gefüllten CD-Regal, einer Anlage, einem Bücherregal, einem Kleiderschrank und einem Ess/Schreib/Ablagetisch.
Enzo kramte vom Boden seines Kleiderschranks einen Ordner hervor.
„Mahlbergs Vorlesungen waren oft chaotisch. So sehen auch die Aufzeichnungen aus.“
„Klar. Dein eigener Hang zum Chaos hat damit nix zu tun.“
Enzo überging meine spitze Bemerkung.
„Ganz ehrlich. Ich glaube nicht, dass wir über meine Aufzeichnungen deinen Rittern Lokis näher kommen. Mahlberg hat nie Namen genannt.“
„Irgendwelche Vorschläge?“ fragte ich.
„Einer meiner Kommilitonen hat Mahlberg bei seinen Expeditionen manchmal begleitet. Vielleicht weis er mehr.“
„In Ordnung. Zapf ihn an. Ich werde versuchen näher an die Freimaurer ranzukommen, indem ich einen von Ihnen verfolge.“

In diesem Moment trat ein nackter Mann in Enzos Türrahmen.
„Hallo. Ich bin Frank.“ stellte er sich vor.
„Marc.“ sagte ich knapp.
„Sorry.“ meinte Frank zu Enzo. „Ich wollte dich nicht eifersüchtig machen.“
Sofort flog ihm einer von Enzos Schuhen entgegen und verfehlte ihn nur knapp.
„Das war die ersten paar Mal witzig! Aber du machst den Witz nach jeder Nummer die du schiebst!“ rief Enzo wütend.
Frank verschwand lachend.

„Muss ich das verstehen?“ fragte ich Enzo.
„Ich und Frank haben eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft.“
Und gerade hatte ich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen.
„Seit wann bist du schwul? Hab ich irgendwas verpasst?“
Enzo sah mir tief in die Augen, nahm meine rechte Hand in beide Hände und sagte „Marc, ich habe dich immer geliebt! Seit du ausgezogen bist, habe ich jede Nacht an dich gedacht. Wahre Liebe gibt es doch nur unter Männern!“
Das schlimme war, ich kaufte ihm das ab.
Während ich mit offenem Mund geschockt vor ihm saß, bekam Enzo plötzlich einen Lachanfall und erklärte „Du warst schon mal schwerer zu verarschen. Wir beide haben geheiratet weil wir um den Bund rumkommen wollten. Verheiratete werden freigestellt.“
„Du hast deinen Mitbewohner geheiratet um dich vorm Grundwehrdienst zu drücken?“
Bevor Enzo etwas antworten konnte, antwortete ich mir selbst.
„Oh, richtig. Ich hatte für einen kurzen Moment vergessen mit wem ich spreche.
Ich werd mich wieder auf die Socken machen. Kann ich dich noch um einen weiteren Gefallen bitten?“
„Du kannst mich um alles bitten. Ob ich’s mache steht aber auf einem anderen Blatt.“
„Kann ich dir Horatio für einen, vielleicht zwei Tage dalassen?“
„Erst ein Kleinkind, jetzt ein Hund. So langsam kommt Leben in unsere WG.“



Da sich Enzo um Horatio und die Ritter Lokis kümmerte, hatte ich die Zeit, mich noch mal mit dem manipulierten Rennen zu befassen.
Ich musste herausbekommen, was John Hammill wusste.
Allerdings waren seine beiden Schatten im Kleiderschrankformat eine Nummer zu groß für mich.
Doch ich wusste, wer das nötige „Feingefühl“ für solche Fälle hatte.

Als ich in Bumm Bumms Wettbüro an der Treppe zu seinem Arbeitszimmer ankam, war Panzer nicht auf seinem Posten.
Ich ging also ohne Leibesvisitation zu Bachmann hoch.
Nachdem ich sein Büro betreten hatte, sah ich ihn mit einer jungen Frau auf dem Schoß an seinem Schreibtisch sitzen.
„Hallo Marc!“ begrüßte Bumm Bumm mich gutgelaunt.
„Hi Rüdiger!“ sagte die Frau. Es war „Marina“.
Ich war baff. sagte aber trotzdem irgendetwas Geistreiches. „Pfft“ oder so ähnlich.
„Sorry Marc. Aber die Ratzinger-Nummer war mein bislang größtes Ding und ich hatte dir ein bisschen viel verraten. Deshalb habe ich dir Anke geschickt. Sie sollte dich auf andere Gedanken bringen.“
„Mission erfüllt.“ meinte ich anerkennend.
Bumm Bumm scheuchte Anke alias „Marina“ auf, gab ihr einen Klaps auf den Po und meinte „Lass uns ein wenig allein Süße. Marc ist bestimmt nicht zum Spaß hier.“
„Naja.“ sagte ich wehmütig. „Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich auch zum Spaß hergekommen.“
Anke kicherte, ging mit einem Augenzwinkern an mir vorbei und verließ das Büro.

„Was führt dich diesmal zu mir?“
„Eigentlich wollte ich zu Panzer.“
„Warum? Willst du ihm hinter meinem Rücken einen Auftrag geben?!“
Bumm Bumm war nicht begeistert. Doch wenn es ums Geschäft ging, hielt auch er sich an die Regeln. Deshalb sagte ich gelassen:
„Panzer ist nur ein freier Mitarbeiter von dir. Wenn du ihn nicht gerade als Türsteher, Aufpasser, Bodyguard oder für „Spezialaufträge“ bezahlst, kann er arbeiten für wen er will. Sag mir einfach wo er ist.“
Bumm Bumm schnaufte. „Du reizt dein Blatt ganz schön aus. Gut. Panzer hat heute seinen freien Tag. Ich kann ihn für dich anrufen.“
„Ich bitte darum.“
Bachmann nahm den Hörer ab und wählte Panzers Handy-Nummer.

Währenddessen fiel mir ein neuer Wandschmuck in seinem Büro auf. Er hatte die Bildzeitung gerahmt, die stolz verkündete „Wir sind Papst“.

„Hallo Panzer. Marc sucht dich.“ … „Du musst dich auch um Vladimir kümmern.“ … „Nein. Er hat rd. 5.000 € Wetteinnahmen unterschlagen.“ … „Ja. Standardprogramm. Aber leg diesmal Frischhaltefolie aus. Ich will nicht wieder so eine Sauerei sehen wie bei dem Türken.“ … „OK. Ich sag Marc wo er dich findet.“
Bumm Bumm legte auf.

„Vladimir?“ fragte ich.
„Einer meiner Leute. Hat mich beschissen. Es ist heutzutage so schwer ehrliches Personal zu finden.“
„Tja. Ich bin sicher, der bescheisst dich nie wieder.“
„Ganz sicher!“
„In Ordnung. Wo finde ich Panzer?“



Das „Eichenlaub“ war ein Billardsalon. Dort traf sich alles, was in der rechten Szene einen Namen hatte. Oder zumindest einen Namen haben wollte.
Panzer war nicht Rechtsradikal. Die meisten seiner Freunde kamen aus der Türsteherszene und waren Ausländer.
Doch er schien hin und wieder die Atmosphäre bei den Rechten zu genießen. Außerdem fiel ab und an ein lukrativer Auftrag für ihn ab.
Als ich den Salon betrat, hörte ich die Onkelz singen.

Du weißt was es heisst
Du kennst den Preis
In diesem Spiel das Leben heisst

Panzer war nicht zu übersehen. Er spielte gegen einen schmächtigen, kränklich aussehenden kleinen Glatzkopf Billard.
Wenn ich eins über Panzer wusste, dann, dass man ihn nie stören sollte, wenn er beschäftigt ist.
Deshalb setzte ich mich an die Bar um bis zum Ende seines Spiels zu warten.

Du hast den Dreck
Von der Gosse geleckt
Du weist wie Scheisse schmeckt
Du hast die Straßen gesehen
Wie Freunde untergehen

Panzer spielte schlecht. Doch sein kränklicher Gegner gab sich alle Mühe noch schlechter zu sein. Er wusste warum.

Nie wieder
Nie wieder
Nie wieder Letzter sein
Nie wieder
Nie wieder
Nie wieder ganz unten sein

Diese Weisheit der Böhsen Onkelz kam eindeutig nicht bei Panzers Gegenüber an. Er sah zu, dass er unten blieb. Einfach um zu überleben.

Kurze Zeit später betrat ein Muskelpaket den Billardsalon, der fast Panzers Format hatte.
Er rempelte im Vorbeigehen einige Leute an und sagte zu einem, der ihn mit „Hallo Stiernacken!“ grüßte: „Wenn mir heute einer dumm kommt, mach ich ihn alle! Ich komm grad vom Antiaggressionstraining. Ich bin stocksauer!“
Wieder ein Beispiel für verschwendete Steuergelder, dachte ich mir.

Panzer war gerade dabei anzustoßen, als das aggressive Muskelpaket hinter ihm vorbeiging.
Beim Ausholen, erwischte er Stiernacken mit dem Queue. Ich glaube, es war Absicht.
Stiernacken fuhr Panzer an „Hey du Penner! Pass gefälligst auf!“
Panzer war noch über den Billardtisch gebeugt. Im Gegensatz zu Stiernacken, hatte ich ein freies Blickfeld auf sein Gesicht. Dort war ein breites Grinsen zu sehen.
Langsam richtete sich Panzer auf, legte den Queue ab und drehte sich um.

Eins musste man Stiernacken lassen, falls er Angst hatte zeigte er sie nicht.
„Du hast mich angerempelt!“ wiederholte er seine Anklage. Allerdings verzichtete er diesmal auf jede Beleidigung. „Tu das nie wieder!“
Panzer starrte ihm von oben herab in die Augen und stieß Stiernacken mit der rechten Hand demonstrativ gegen die Schulter.
Ohne weitere Warnung verpasste Stiernacken Panzer einen kräftigen Haken ans Kinn.
Jeder andere wäre wohl zu Boden gegangen. Panzer jedoch schien nicht im Geringsten beeindruckt.
Er erwischte Stiernacken zweimal mit Rechts und einmal mit Links. Man hörte bei jedem einzelnen der Schläge die Knochen brechen. Dieses Geräusch wird man so schnell nicht wieder los.
Stiernacken ging auf die Bretter und sah schlimm aus. Meine Diagnose: gebrochene Nase, gebrochener Wangenknochen, gebrochener Kiefer.
Vielleicht würde er jetzt weniger aggressiv auftreten.

Panzer beendete in aller Ruhe sein Spiel, welches er selbstverständlich gewann. Erst danach rief der Wirt die Polizei und die Rettungskräfte.
Ich lud Panzer zu mir an die Bar ein und erzählte ihm von meinem Jockeyproblem.
In der Zwischenzeit kamen Polizisten und Rettungssanitäter ins „Eichenlaub“.
Der bewusstlose Stiernacken wurde abtransportiert und die Polizei nahm von jedem die Personalien auf und stellte Fragen.

Niemand konnte sich erklären wo dieser blutende Mann hergekommen war. Es schien, als wäre er aus dem Nichts in den Raum gefallen. Es gibt Phänomene die einfach unerklärlich bleiben.

Panzer versprach mir, dass er sich am nächsten Tag mit mir zusammen um John Hammill kümmern würde. Allerdings wollte er noch einen Türsteherkollegen als Rückendeckung mitbringen.
Für die Dienste der beiden musste ich wohl oder übel Marina von Haglund um einen Vorschuss bitten.
Doch an diesem Tag hatte ich genug geschafft.
Ich sah zu, schnell auf meine Büro-Couch zu kommen.
Zwar vermisste ich den treuen Horatio und wusste, auf den alten Marius konnte ich mich nicht verlassen. Allerdings nahm ich das erhöhte Risiko in Kauf.
Mein Hund war bei Enzo in guten Händen und ich konnte direkt entspannen, ohne ihn versorgen zu müssen.



Am nächsten Morgen nahm ich nach dem Aufwachen erneut einen Schatten auf meinem Schreibtischstuhl wahr.
Vielleicht sollte ich mir angewöhnen die Tür abzuschließen.
Ich blieb ruhig. Wieder Marina von Haglund, da war ich mir sicher.
Doch zu meiner Überraschung saß dort „Marina“ alias Anke.
„?“ sagte ich. Oder etwas in dieser Art.
„Bumm Bumm hat mir gesagt wo ich dich finde.“ antwortete sie.
„Sollst du mich wieder auf andere Gedanken bringen?“
„Nö. Ich soll nicht. Ich will.“
Lächelnd schüttelte ich den Kopf und erwiderte:
„Ich hab ein volles Tagesprogramm. Wenn du mich jetzt „auf andere Gedanken bringst“, kann ich die erste Hälfte des Tages gleich vergessen.“
„Das muss nicht sein. Wir können uns auch zurückhalten.“ versuchte sie mich zu beruhigen.
Ich schaute sie ungläubig an. „Ob wir das schaffen?“
Sie kicherte. „Nein. Wahrscheinlich nicht.“

Ich seufzte. Erstmal brauchte ich einen Schluck Anti-Kopfschmerzmittel.
„Mach doch mal die rechte Schreibtischschublade auf.“
Anke öffnete die Schublade und zählte auf: „Ein paar Handschellen, ein Brecheisen, ein Rasierer und eine Wollmütze. Lass mich raten, du willst die Handschellen.“
Ich mochte Anke. Sie hatte gute Ideen.
„Nein. Ich meine die Schublade darunter.“
Anke machte gerade die untere Schublade auf. Da wurde mir erst klar was sie gesagt hatte.
„Moment. Wie war das eben?!“ fragte ich panisch.
„Dass du die Handschellen haben willst?“ gab sie halb fragend zurück.
„Was war alles in der Schublade?“ drängte ich.
Sie machte die Schublade erneut auf und sagte: „Ein Rasierer, ein Brecheisen, eine schwarze Wollmütze und natürlich die Handschellen.“
Sofort war ich hellwach, sprang von der Couch und stürzte zum Schreibtisch. Über Anke hinweggebeugt starrte ich fassungslos in die geöffnete Schublade.
Mit „Was ist los?“ holte mich Anke aus meiner Schreckstarre.
„Mein Revolver samt Munition ist weg!“ Das war eine Katastrophe. Die offene Tür gestern während Horatio die Zeugen Jehovas im 8. besuchte. Zwar war der Revolver nur meine Zweitwaffe, aber irgendjemand lief jetzt mit meiner registrierten Waffe rum.
Ich war immer noch über Anke gebeugt. Sie fuhr mit der Hand langsam mein Bein hoch und sagte schließlich: „Entweder hab ich ihn gefunden, oder du freust dich mich zu sehen.“
Die Sache mit dem „auf andere Gedanken bringen“ hatte Anke wirklich drauf.

Wir kamen wieder auf die Handschellen zurück.
Mein alter massiver Holzschreibtisch hatte schon einiges erlebt. An diesem Morgen, fügten ich und Anke seiner Biographie noch einige weitere Höhepunkte hinzu. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Sonne war gerade dabei ihren Zenit zu überschreiten. Ich und Anke lagen nackt und erschöpft auf meiner Couch, als es an meiner Tür klopfte.
Ich rief „Einen Moment!“, warf mir etwas über und Anke tat es mir gleich.
„Herein!“ bat ich.
Panzer duckte sich unter dem Türrahmen hindurch. Gefolgt von einem südländischen Kerl im Türsteherformat.
„Stör ich?“ fragte er scheinheilig.
„Nein. Wir können los.“ antwortete ich etwas zu schnell.
Anke knuffte mich. „Lässt du mich jetzt einfach hier sitzen?!“
Ich küsste sie und meinte „Ich würd ja gern mit dir noch ein wenig Löffelchen liegen. Aber die Pflicht ruft.“
„Ihr Männer seit doch alle gleich!“ gab sie zurück. „Für den reinen Akt seid ihr immer zu haben. Aber Zärtlichkeit ist für euch ein Fremdwort!“
Gerade wollte ich widersprechen, als mein Blick wieder auf Panzer und seinen quadratischen Begleiter fiel. Schwer zu glauben, dass einer der beiden das Wort Zärtlichkeit überhaupt buchstabieren konnte. Geschweige denn, wusste wie man zärtlich ist.
Deshalb sagte ich knapp „So sind wir halt.“, stürzte mich in meine Klamotten und überließ mein Büro der Obhut von Anke.



Panzer stellte mir seinen Begleiter als Omar vor. „Aber nenn ihn einfach Bonsai“ ergänzte er.
Leise an mich gewandt fügte er noch hinzu „Omar ist nicht der Hellste. Aber er ist treu, billig und kann ordentlich zulangen.“
Was das anbelangte, traute ich Panzers Urteil mehr als jedem Sachverständigen. Mit Prügel kannte er sich aus.

Wir fuhren mit Panzers Wagen. Ein schwarzer amerikanischer Van mit rotem Rennstreifen, der mich an die 80er Jahre Sendung „A-Team“ erinnerte.
Während Panzer kurz darauf tankte, saß ich mit Bonsai allein im Wagen.
„Warum nennt man dich Bonsai?“ wollte ich wissen.
Omar antwortete stolz „Mir hat mal einer gesagt, ich hätte ein Kreuz wie ein Baum.“
Ich musste Panzer Recht geben. Bonsai hatte die Intelligenz nicht gerade gepachtet.

Panzer war besser informiert als ich und fuhr uns zielsicher zu einer Trainingsanlage bei von Haglunds Ställen.

Hammill drehte auf einer jungen Stute seine Kreise. Beobachtet wurde er von seinen beiden Leibwächtern, einem Stalljungen, dem Stallchef Kippler und von mir, Panzer und Bonsai.
Das Trainingsgelände war abgelegen und wir konnten von Panzers Wagen aus, der in dem Waldgebiet neben dem Gelände geparkt war, ungestört dem Trainingsbetrieb zusehen.
Kippler hatte bald genug gesehen und verabschiedete sich.
Hammill drehte noch zwei Runden und übergab das Pferd dem Stalljungen.
Während der Stalljunge das Pferd zu Fuß Richtung der Hauptställe führte, verschwand Hammill in dem kleinen Umkleide- und Duschhäuschen neben dem Trainingsgelände.
Der ideale Zeitpunkt zuzuschlagen.
Ich setzte mich ans Steuer des Vans und bretterte direkt vor das Auto von Hammill. Einer seiner Bodyguards war lässig an den Wagen gelehnt, während der andere auf der Motorhaube lag und sich sonnte.
Panzer und Bonsai sprangen aus dem Wagen und überwältigten die beiden. Es war nicht wirklich ein Kampf. Hammills Leute waren für meine beiden Türsteherfreunde keine Gegner, sondern Opfer.
Wir verstauten die Leibwächter im Kofferraum von Hammills Wagen.
Ich lehnte mich lässig gegen den Wagen, mit Blick auf den Eingang zur Unkleide. Bonsai legte sich auf die Motorhaube und sonnte sich. Und Panzer blieb neben dem Eingang stehen.

John Hammill kam gutgelaunt und pfeifend von der Dusche.
Die Sonne schien ihm ins Gesicht, deshalb bemerkte er nicht direkt wer da an seinem Wagen wartete.
„In Ordnung Jungs. Lasst uns aufbrechen.“ sagte er.
Er hatte es kaum gesagt, als er mich erkannte. „Sie?“ fragte er gereizt. „Carlos, Richard! Wo seid ihr?“ erkundigte er sich nach seinen Männern.
Panzer schnappte ihn von hinten und hob ihn hoch, als wäre er ein Kleinkind. Genauso wirkte der zierliche Jockey auch in den Pranken von Bumm Bumms wichtigstem Mitarbeiter.
„Wir sind beim letzten Mal leider unterbrochen worden. Sie wollten mir sagen, weshalb Sie „Son of Luzifer“ auf Warten geritten haben.“ begrüßte ich ihn.
„Ich weis immer noch nicht wovon Sie sprechen.“ gab er zurück.
„Sag mal Panzer, an wie vielen Stellen muss man einem Jockey das Bein brechen um seine Karriere zu beenden?“ fragte ich.
„Käme auf einen Versuch an.“ antwortete Panzer.
„Ihr seid verrückt!“ schrie Hammill. „Ich weis nichts von einer Manipulation.“
„Falsche Antwort!“ beschied ich und nickte Panzer zu. Dieser verdrehte Hammills rechten Arm schmerzhaft.
„Aaahh! Lasst mich! Ihr habt keine Ahnung mit wem ihr euch anlegt!“ er war den Tränen nah.
„Dann verrat es uns doch einfach! Hat dich der alte von Haglund bezahlt? Oder kam das Geld von seinem Konkurrenten Krasser?“ Die alte Weisheit meines Vaters schien sich zu bewahrheiten: Druck macht aus Kohle Diamanten.
„Weder noch!“ klärte mich Hammill auf.
„Wer dann?“
„Ein Buchmacher. Ihr habt keine Ahnung wozu der fähig ist! Der macht mich kalt wenn ich euch seinen Namen verrate!“
„Wenn du ihn nicht verrätst machen wir dich kalt.“ gab ich ihm zu verstehen.
Panzer meinte: „Kaum zu glauben. Da ist immer noch einer dumm genug meinem Boss Konkurrenz zu machen. Der Name interessiert mich jetzt auch.“
„Ich kann ihn euch nicht verraten. Versteht ihr denn nicht?“ jammerte unser Jockey.
Wieder nickte ich Panzer zu. Diesmal brach der Arm.
Winselnd sagte John Hammill: „Er heisst Bachmann!“
Ich war geschockt. Panzer schien es nicht anders zu gehen.
„Bumm Bumm Bachmann?“ hakte ich nach.
Hammill wimmerte: „Ja. Genau der.“

Dieser asoziale Drecksack. Hatte Bumm Bumm mich schon wieder verarscht.

Wir ließen den verletzten Jockey zurück.

„Kann ich euch für einen weiteren Job buchen?“
„Klar.“ erwiderte Panzer.
„Dann werden wir jetzt deinem Boss einen Besuch abstatten.“



Ich stürmte wütend durch Bumm Bumms Wettbüro. Panzer und Bonsai konnten mir kaum folgen.
Ich stürzte die Treppen zu seinem Büro hinauf und fiel direkt mit der Tür ins Haus.
Bumm Bumm saß an seinem Schreibtisch und grübelte über irgendwelchen Papieren.

„Bumm Bumm du Arsch! Hältst du mich für völlig bescheuert?!“
Bachmann war kein ängstlicher Typ, aber er merkte, dass ich bis zum Anschlag geladen war. Er zuckte zusammen und war deutlich eingeschüchtert.
Doch dann atmete er entspannt auf. Panzer war durch die Tür gekommen.
„Sorry Boss!“ sagte er. „Heute arbeite ich für Marc.“
Hatte Bachmann eben noch aufgeatmet, wurde er nach dieser Ankündigung Panzers leicht panisch.
„In Ordnung Marc. Was habe ich dir diesmal getan?“ fragte er. Wobei er seine Angst nur schwer unterdrücken konnte.
„Das manipulierte Rennen in Frankfurt! Das war doch dein Werk! Hammill hat geplaudert!“
Bumm Bumms Angst wurde kurz von Wut überdeckt. „Das wird dieser Jockey bereuen!“
„Schon erledigt Boss!“ meldete sich Panzer. „Ich erwarte mein übliches Honorar.“
Ich grinste. Meine Wut ebbte ab. Panzer hatte nicht nur Sinn für Humor. Sein Geschäftssinn war auch nicht zu verachten.

„Also, jetzt will ich alles über das manipulierte Rennen wissen.“ drängte ich.
Bachmann seufzte. „Da gibt’s nicht viel zu sagen. Es ging schlicht um Geld. Ich habe mit „Ponderosa“ viel Kohle gemacht. Das ist die ganze Geschichte.“
Das war enttäuschend. „Keine Verbindungen zum alten von Haglund? Oder Krasser? Oder den Rittern Lokis?“
„Ritter was?“ fragte Bumm Bumm.
„Schon gut. Vergiss es.“ Das Rennen war also eine falsche Fährte. Ich tröstete mich damit, dass ich wenigstens Bachmann etwas Demut beigebracht hatte.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Bumm Bumm schaute aufs Display und nahm ab.

„Was willst du?“ … „Kann ich mir gar nicht vorstellen. Olaf ist der gutmütigste Mensch den ich kenne.“ … „Echt?! Was um alles in der Welt hast du ihm getan?“ … „Tja. Olaf ist Geduldig. Aber du hast den Fehler gemacht Geduld mit Schwäche zu verwechseln. Fürchte den Zorn des geduldigen Mannes.“ … „Du bist ein guter Mann und ich verlier dich nur ungern.“ … „Nein. Ich kann dir nicht helfen.“ … „Ich fang keinen Krieg an, nur weil du deinen Schwanz nicht in der Hose behalten kannst. Mehr noch, wenn ich die Gelegenheit bekomme dich vor ihm in die Finger zu kriegen, liefere ist dich eiskalt aus.“ … „Sorry. Das war nun mal die falsche Frau.“

Bumm Bumm legte auf. Soviel zum Thema Demut.
„Ich sag euch, es ist heutzutage so schwer Personal zu finden, das nicht in jede Möse rein will die es riecht. Was ist mit uns? Sind wir Quitt?“
„Fürs erste.“ sagte ich und verabschiedete mich.

Ich musste Marina von Haglund besuchen. Ich brauchte Geld. Es ist ungesund Panzer zu lange als Gläubiger zu haben.
Außerdem musste ich an dem Tag noch in Enzos WG vorbei. Vielleicht hatte er Neuigkeiten über die Ritter Lokis.



Marina von Haglund hatte ein kleines Verlagshaus. Ihr Traum war es Schriftstellerin zu werden. Aber das Geld ihres Vaters ersetzte leider nicht ihr fehlendes Talent.
Als Verlegerin hatte sie allerdings ein sehr glückliches Händchen.
Zwar veröffentlichte sie hauptsächlich Liebesschnulzen mit weißen Rittern und gut gebauten Seeräubern, die Frauen aus den Fängen von grausamen Adligen befreiten. Doch diese Trivialliteratur war äußerst erfolgreich. Einsame Hausfrauen verschlangen geradezu die Bücher aus dem Haglund-Verlag.

Wie sich herausstellte, hatte Marina von Haglund ihren Verlag in dem Bürohochhaus gegenüber meinem eigenen.

In ihrem Vorzimmer saß ein junger attraktiver Mann. Männer und Frauen sind wohl doch nicht so verschieden, dachte ich bei mir.
Er stellte sich als Martin vor und bat mich, noch einen Moment vor dem Büro Platz zu nehmen.

Durch die geschlossene Tür hörte ich Marinas gereizte Stimme. Auf mich wirkte sie bezaubernd.
„Sie haben doch keine Ahnung was eine Frau lesen will! Eine Frau will erobert werden! Man muss um sie kämpfen! In ihren Texten wirft sie sich dem Helden einfach an den Hals! Da gibt es keine Romantik, keine Poesie, kein Feingefühl!“
Ich musste an Anke denken. Wäre das hier ein Roman, würde Marinas Kritik auch auf meine Geschichte zutreffen.
„Eine Frau will zum einen beschenkt und umworben, zum anderen genommen werden! Mann muss ihren zitternden Körper vor dem knisternden Kamin betten, während ihre Lippen „Nein. Nein.“ flüstern, ihre Augen aber „Ja! Ja! Nimm mich starker Hengst!“ schreien! Verschwinden Sie aus meinem Büro und treten sie mir erst wieder vor die Augen, wenn sie gelernt haben wie man Frauen begeistert!“
Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine leicht dickliche Frau mittleren Alters suchte schluchzend das Weite. Dabei hatte ich fest mit einem dicken, pickligen Schreiberling gerechnet. Vom Typ her Computerprogrammierer, oder Hacker. Jedenfalls irgendein Beruf, in dem man selten eine echte Frau zu Gesicht bekommt.

Martin meldete mich an und ich betrat das Büro.
Marina von Haglund trug auch diesmal Schwarz. Allerdings kein Trauerschwarz, sondern einen kurzen schwarzen Rock und eine enge schwarze Weste.
Nach unserer ersten Begegnung dachte ich, sie sei perfekt. Ich hatte mich geirrt, sie konnte sogar noch strahlender aussehen.
Sie war nicht begeistert mich zu sehen. Das, und das unerfreuliche Gespräch von eben, verliehen ihrem Gesicht eine Zerknautschtheit, die mich bei jedem anderen abgestoßen hätte. Bei ihr jedoch wirkte es absolut göttlich. Ich nahm mir vor sie öfter zu ärgern.
„Was machen Sie hier?! Ich werde nur ungern mit Ihnen gesehen!“
„Ich brauche Geld.“ sagte ich. „Meine Ermittlungen sind kostspieliger als erwartet.“
„Haben Sie wenigstens ein paar Ergebnisse für mich?“ Sie wirkte ungeduldig.
„Allerdings. Das manipulierte Rennen. Dieses Rätsel habe ich gelöst.“
Es trat eine kurze Pause ein, in der ich sie stumm anhimmelte.
Das Schweigen dauerte einige Zeit bevor sie streng meinte „Was jetzt? Verraten sie mir auch die Lösung, oder wollen sie die Antwort mit ins Grab nehmen?“
„Oh.“ Ich hatte mich glatt in ihren Augen verloren. „Sicher. Es ging doch um Wettbetrug. Ich habe den Buchmacher gefunden, der Hammill bestochen hat.“
Sie warf mir einen düsteren Blick zu. Ich hatte irgendetwas Falsches gesagt.
„Sind Sie dafür verantwortlich, das John die nächsten Wochen nicht reiten kann?“
Auweia. Panzers Dienste zeigten mal wieder Nebenwirkungen.
„Nein.“ log ich. „Wieso, was ist ihm passiert?“
„Jemand hat ihm den Arm gebrochen.“
„Vielleicht Rache des Buchmachers. Ich habe ihn mit der Wahrheit konfrontiert. Kann sein, das er geglaubt hat, ich hätte die Info von Hammill.“
„Von wem hatten sie denn die Info, wenn nicht von John?“
Ihr war längst klar, dass ich der Verantwortliche war. Trotzdem baute ich das Lügengebäude weiter. Nur der Form halber.
„Ein geschädigtes Konkurrenzbüro hat mir den Tipp gegeben. Danach musste ich den Buchmacher nur noch ausquetschen.“
„Hm.“ Sie schien nicht im Geringsten Überzeugt. „In Ordnung. Ich weise Martin an Ihnen das Geld zu überbringen. Weitere 10.000 €?“
„Sagen wir 20.“ antwortete ich.
„Sie bekommen 15. Warten Sie hier.“ Damit verließ sie den Raum um Martin ihre Instruktionen zu geben.

In Ihrem Büro stand ein Teleskop am Fenster. Um mir die Zeit zu vertreiben, warf ich einen Blick durch das Okular.
Was ich sah war erregend und schockierend zugleich.
Ich stand im Büro Marina von Haglunds. Der Milliardenerbin. Und ich blickte auf einen alten massiven Holzschreibtisch. Auf meinen alten massiven Holzschreibtisch.
Jetzt wusste ich wenigstens, weshalb Marina ausgerechnet an meine Tür geklopft hatte um den Tod ihres Vaters aufzuklären. Sie kannte mich wohl schon länger.

Ich beeilte mich, mich wieder zu setzen. Marina sollte nicht merken, dass ich ihr auf die Schliche gekommen war. Zumal der Gedanke, dass sie heute Morgen gespannt hatte, dafür sorgte, dass meine Hose zu eng wurde.

Marina kam zurück und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch.
„Martin ist los das Geld besorgen. Sie können so lange hier warten.“
„Gerne. Schöne Aussicht haben Sie hier.“
Marina rutschte unbehaglich auf ihrem Bürosessel hin und her und überschlug die Beine von einer auf die andere Seite.
„Danke.“ sagte sie knapp. Wohl in der Hoffnung, das Thema damit zu beenden.
So leicht wollte ich sie nicht vom Haken lassen.
„Nur das Bürohochhaus versperrt etwas die Sicht.“ meinte ich.
Es war ihr sichtlich unangenehm. Doch nicht nur das. Durch ihre Weste sah ich, wie sie zwei „Zelte“ aufstellte. Jetzt war ich mir sicher, ihre private Überwachung war auch heute Morgen auf Empfang.
„Ist Ihnen kalt?“ fragte ich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.
„Nein. Wie kommen Sie darauf?“
„Nur so.“
Ich musste das Thema wechseln, sonst hätte ich für nichts mehr garantieren können.
Kein Sex mit Klientinnen. Das war eine eiserne und wichtige Regel.

Deshalb erkundigte ich mich nach dem einen Mann von dem Foto, der ihr bei der Beerdigung die Handschuhe ihres Vaters überreicht hatte.
„Ich weis nicht viel von ihm. Er war ein Logenbruder meines Vaters. Ich kenne lediglich seinen Vornamen: Armin.“
Das half mir schon mal nicht weiter. Außer das es mich von den Erhebungen unter Marinas Weste etwas ablenkte.

Ich erinnerte mich daran, das Kippler von Krassers Auftauchen bei der Beerdigung nicht beeindruckt war.
Mit ihm sollte ich mich auch mal unterhalten, dachte ich mir.
„Ich würde mich gern mal unauffällig mit Ihrem Stallchef Kippler unterhalten.“
„Kein Problem. Er hat morgen Abend seine wöchentliche Pokerrunde.“
„Wo ist die?“
„Bei irgend so einem Buchmacher im Industrieviertel. Bergmann glaube ich.“
„Bachmann?“ fragte ich. So schließt sich der Kreis. Zurück zum Anfang.
„Ja. Kennen Sie ihn?“
„Flüchtig. Nicht so gut wie John Hammill ihn kennt.“
Martin kam mit einem Umschlag herein. Ich hatte mein Geld und war auch um einige interessante Details und Informationen reicher.
Es war Zeit zu gehen.



Als ich bei Enzos WG ankam, stand die Tür bereits offen.
Das Zimmer von Holger, dem Student für vergleichende Religionswissenschaften war leer.
Auch das Zimmer von Daniel, dem jungen Vater, war verwaist.
Franks Tür war wieder zu.

I don’t love you
I just wanna have some fun
I don’t love you
I just wanna have some fun

Diesmal hörte ich kein Stöhnen, sondern ein leichtes Wimmern, wie es insbesondere verklemmte Frauen an sich haben, die nicht richtig aus sich herausgehen können.

Enzos Zimmer war ebenfalls leer. Doch aus der Wohnküche kamen mehrere Stimmen. Auch das Baby und mein Horatio meldeten sich zu Wort.
Am Küchentisch saßen Enzo, Holger, Daniel (so vermutete ich) mit seiner Tochter auf dem Arm, ein mir unbekannter junger Mann und auf dem Boden saß Horatio. Man war beim Essen.
„Hallo zusammen!“ begrüßte ich die Runde.
„Ach, Marc. Du kommst gerade richtig. Holger kennst du ja schon. Daniel hast du zumindest schon mal durch die Tür gehört. Seine Tochter heisst Cosma. Das ist Adrian. Der Kommilitone der mit Mahlberg zusammengearbeitet hat. Ich glaube, wir haben was für dich.“
Ich setzte mich zu der Runde und aß etwas Spaghetti mit Tomatensoße mit.
Männer-WG-Standardessen.
Man unterhielt sich über belangloses.
Ein in ein Handtuch gehülltes brünettes Mädchen mit riesigen Hasenzähnen sagte schüchtern „Hallo!“, als es sich an der Küche vorbei zum Bad stahl.
Direkt nach ihr stand Frank in der Tür. Wieder nackt.
Enzo sagte sofort warnend „Spar’s dir!“
Ich versuchte möglichst fragend zu wirken und zeigte auf meine Schneidezähne.
Frank meinte: „Ich weis. Hasenzähnchen ist auf den ersten Blick unter meinem Niveau. Aber ich sag euch, die Zähne sind der absolute Bringer, wenn sie sich unter die Vorhaut schieben.“
Holger, unser Theologe, schob angewidert seinen Teller weg. Daniel beschwerte sich: „Nicht vor meiner Tochter!“
Frank fügte hinzu „Ich verschwinde unter die Dusche. Ich will sichergehen, dass sie auch überall sauber wird.“ und entschwand lachend.

Wir aßen auf und ich folgte Enzo, Adrian und Horatio in Enzos Zimmer.

„Ihr sagtet, ihr hättet was für mich?“ eröffnete ich das Gespräch.
„Allerdings.“ sagte Enzo stolz.
„Ich höre.“
Adrian, ein langer schmächtiger Kerl mit hohlen Augen, begann zu erzählen.
„Die Ritter Lokis haben hier in der Nähe eine Loge. Sie nennt sich „Zum Mistelzweig“ und ihr gehören einige einflussreiche Leute aus Politik und Wirtschaft an. Der Alte von Haglund und Krasser, beides Größen im Pferderennsport, standen während der Recherchen meines Professors weit oben in der Hierarchie. Die beiden waren das Bindeglied zwischen der örtlichen Loge und dem Großmeister der deutschen Großloge.“
„Aber die beiden waren doch tief verfeindet.“ wandte ich ein.
„Woher weißt du das?“ fragte Adrian. „Aber ja. Sie gingen sich weitgehend aus dem Weg. Wo es nicht anders ging arbeiteten sie auch zusammen, doch ihr gegenseitiger Hass muss einige Probleme in die Loge getragen haben.“
„Warum hat man die beiden dann nicht abgesetzt?“
„Keine Ahnung. Angeblich waren sie die einzigen, die für vertrauenswürdig genug befunden wurden, um mit dem Großmeister in Kontakt zu treten.“
„Dann ist jetzt also Krasser die Nummer eins in der örtlichen Loge.“
„Warum?“
„Weil von Haglund vor einigen Tagen gestorben ist.“
„Davon weis ich nichts. Ich habe mich nach Mahlbergs Tod nicht mehr mit den Rittern Lokis beschäftigt.“
Nun mischte sich Enzo in das Gespräch ein „Warum habe ich das Gefühl, dass dein Interesse an den Rittern Lokis etwas mit dem Tod dieses Haglund zu tun hat?“
Dann machte ich einen unverzeihlichen Fehler. Es war zutiefst unprofessionell. Die letzten Tage waren wohl zu verwirrend und anstrengend gewesen. Ich verriet meine Klientin.
„Marina von Haglund glaubt, dass ihr Vater ermordet wurde.“ Verdammt! Wie konnte mir das rausrutschen?
Enzo und Adrian schauten mich beide mit großen Augen an. Wie sich herausstellte, aus unterschiedlichen Motiven.
Enzo sprang als erster darauf an. „Ich glaub’s nicht! Du lässt mich für Lau gefährliche Recherchen machen, während du von der reichsten Frau der Umgebung bezahlt wirst! Ich sollte dir die Freundschaft kündigen!“
„Beruhig dich. Zu gegebener Zeit bekommst du was vom Kuchen ab.“
„Das will ich auch hoffen!“
Adrian kam bei dem Namen Marina von Haglund auf ganz andere Gedanken.
„Du kennst die Verlagschefin des Haglund-Verlags?!“ Er war begeistert. „Kannst du uns mal miteinander bekannt machen?“
„Warum? Bist du Autor?“
Adrian blickte verlegen zu Boden. „Naja. Ich schustere ab und an Krimis zusammen.“
„Krimis?“ kam es von Enzo. „Das ist doch nur was für denkfaule Hollywoodautoren. Egal wie raffiniert der Fall ist. Egal wie faszinierend deine Charaktere sind. Egal wie viele überraschende Wendungen du einbaust. Alles was du schreiben kannst, war in irgendeiner Art schon einmal da. Ich bin sowieso der Meinung, dass Autoren mit dem Schreiben nur versuchen der Einsamkeit etwas Würde abzugewinnen.“
Adrian war gekränkt, hatte aber trotzdem eine schlagfertige Antwort zur Hand:
„Etwas Würde und etwas Geld!“

Grundsätzlich gab ich Enzo Recht. Aber ich versprach Adrian, mir eins seiner Manuskripte durchzulesen und bei Gefallen Marina von Haglund vorzulegen.
Allerdings war mit Adrian jetzt nichts mehr anzufangen. Ständig erzählte er mir und Enzo neue Ideen für seine Krimis.
Als er uns die Idee zu einem Krimi im Pferderennmilieu ausbreitete, hatte ich genug.
Ich verabschiedete mich und lud Adrian ein, mich wegen der Ritter Lokis mal im Büro zu besuchen. Er sagte sofort zu und kündigte an, eins seiner Manuskripte mitzubringen. Natürlich tat ich begeistert. Doch ich hoffte: „Bitte lass es nicht der Pferdekrimi sein! Bitte lass es nicht der Pferdekrimi sein!“



In meinem Bürohochhaus war alles beim alten. Marius Schnarchen begleitete mich beim reinkommen und in meinem Stockwerk angekommen, stand meine Bürotür mal wieder offen.
Ich betrat das Büro mit gezückter Waffe, doch es war leer.
Auf dem Schreibtisch lag ein Umschlag. Erst dachte ich an einen weiteren Vorschuss von Marina. Doch als ich ihn auf meinen Tisch ausleerte, fielen mir ein kleiner handgeschriebener Zettel und einige Fotos entgegen.
Ich fing an zu lesen:


„Hallo Marc!
Wie bestellt überbringe ich dir die Fotos der Beerdigung von Haglunds.
Du hattest Recht, Marina von Haglund ist wirklich das schönste Waisenkind, das ich jemals gesehen habe.
An deiner Stelle würde ich mir aber statt des Jockeys lieber den Rollstuhlfahrer vorknöpfen.“

Ich stockte kurz. Rollstuhlfahrer? Gut das ich Peter, einen befreundeten Privatdetektiv, damit beauftragt hatte auf der Beerdigung unauffällig einige Fotos zu machen.
Ich las weiter:
„Außerdem wolltest du doch wissen, wer auf dem Foto, das du mir gegeben hast, neben dem alten Haglund zu sehen ist.
Auch auf die Gefahr hin, dass du schneller warst als ich:
Der Mann mit Schnauzer heisst Rudolf Kippler. Er ist der Stallchef in den Ställen von Haglunds.
Der Jockey ist ein Brite namens John Hammill.
Der andere ältere Mann heisst Armin Lehnhardt. Er besitzt ein großes Speditionsunternehmen. Keine Ahnung wie der mit Haglund zusammenhing. Aber er war einer der Freimaurer, die bei seinem Begräbnis aufgetaucht sind.
Und zu guter Letzt, der jüngere Mann heisst Jens Mälzer. Er war der letzte behandelnde Arzt von Haglunds. Den solltest du dir auch mal ansehen. Der Junge scheint seit dem Tod Haglunds ein wenig neben der Spur zu laufen.


Ich hoffe dir geholfen zu haben
Schöne Grüße

Peter

P.S.: Es ist auch ein sehr schönes Bild von dir dabei, wie du gegen den Laternenpfahl fliegst.“

Es heisst, Peter sei der Beste. Nur sagt man das leider über jeden zweiten Privatdetektiv.
Zumindest diesmal hatte er mir wirklich geholfen.

Dann sah ich mir die Fotos an. Meinen Flug gegen den Laternenpfahl hatte Peter tatsächlich sehr schön getroffen.
Auf einem der Fotos entdeckte ich auch den Rollstuhlfahrer.
Er saß einsam im Schatten eines Baumes und beobachtete die Beerdigung. Es war sehr mysteriös. Er trug schwarze Lederhandschuhe, einen dunklen Hut, eine Sonnenbrille und hatte ein Halstuch vor dem Mund.
Auf einem anderen Foto sah man Kippler mit dem Rollstuhlfahrer reden.
Peter hatte Recht. Auch meine Instinkte schlugen bei diesem Mann Alarm. Irgendetwas sagte mir, er war der Schlüssel zu allem.
Für den nächsten Tag war klar, es wurde Zeit, Kippler mal auf den Zahn zu fühlen.



Ich wurde von einer Zunge geweckt, die an meinem Ohr leckte.
Lächelnd sagte ich „Lass das Anke.“
Dann hörte ich eine Männerstimme fragen „Wer ist Anke?“
Ich schreckte auf und sah, dass die Stimme zu Enzo und die Zunge zu Horatio gehörten.
„Kann ich nicht wenigstens einmal aufwachen wie jeder normale Mensch?“ fragte ich genervt.
„Dafür müsstest du erstmal ein normaler Mensch sein.“ erklärte Enzo.
„Schon klar. Wirf mir lieber mal ne Flasche Muntermacher zu. Rechte untere Schublade.“
Enzo warf mir eine Flasche Jimmy rüber und ich nahm einen kräftigen Guten-Morgen-Schluck.
„Was führt dich zu mir?“
„Offen gestanden will ich den Hund loswerden. Außerdem wollt ich dich vorwarnen. Adrian kann es kaum erwarten dir das Manuskript für seinen Krimi im Pferderennmilieu zu bringen.“
Ich stöhnte und nahm einen weiteren Schluck Whisky.
„Danke für die Warnung.“
„Da wäre noch was.“ sagte Enzo.
„Schieß los.“
„Zunächst mal, für einen Privatdetektiv hast du eindeutig einen zu tiefen Schlaf.“
Den Gedanken hatte ich in letzter Zeit auch schon öfters.
„Ich habe mir die Fotos und den Brief von Peter angesehen als du noch geschlafen hast.“
„Hast du den Fall für mich gelöst?“ fragte ich etwas abfällig.
„Gut. Wie du willst. Wenn du mich so herablassend behandelst sollten wir erst übers Geld reden, bevor ich dir verrate, wen ich auf dem Gruppenfoto erkannt habe und wo du ihn findest.“
Ich hatte mal wieder meine Klappe nicht halten können. Schadensbegrenzung war jetzt angesagt.
„In Ordnung. Ich zahl dir 2 Riesen für alles was du zur Lösung des Falls beigetragen hast.“
Enzo stand auf und sagte „Ciao!“
„Warte!“ rief ich. „Sagen wir 4 Riesen“
„Hast du schon vergessen, dass ich deine Auftraggeberin kenne? Ich will 10.“
„Du bekommst 8 und keinen Cent mehr!“
„Wir haben einen Deal.“ sagte Enzo und setzte sich wieder. „Wie Peter bereits geschrieben hat, war Jens Mälzer der letzte behandelnde Arzt von Haglunds. Jetzt rat mal, wer Mälzers Frau besser kennt.“
„Du?“
Enzo blickte an die Decke, atmete tief durch und sagte enttäuscht „Nein. Leider nicht. Aber so schwer ist das Rätsel nicht. Du bist der Detektiv hier. Probier’s noch mal.“
„Dann bleibt eigentlich nur Frank.“
„Der Kandidat hat hundert Punkte. Karin Mälzer ist seit einigen Wochen Franks Mittwochdate. Genauer genommen, sein Mittwochabendate. Den Rest des Tages füllt er mit anderen Frauen auf. Der Kerl ist ein Phänomen.“
„Du schweifst mal wieder ab. Was ist mit Mälzer?“
„Gönnst du mir keine schmutzigen Gedanken?“
„Ich will diesen gottverdammten Fall lösen!“ schrie ich wütend.
„Ist ja gut. Frank hat erzählt, diese Karin Mälzer wäre leichte Beute gewesen. Ihr Mann scheint in letzter Zeit einige Probleme zu haben. Genauer gesagt, seit er angefangen hat für Heinrich von Haglund zu arbeiten. Und besonders seit von Haglunds Tod ist er völlig abgestürzt. Wie Peter schon gesagt hat, den solltest du dir mal ansehen.“
„Wo find ich ihn?“
„Er praktiziert nicht mehr. Aber ich kann dir seine Wohnadresse geben.“ Damit warf er mir Jens Mälzers private Visitenkarte zu.
„Besten Dank. Bist du sicher, dass du Horatio nicht noch ein wenig behalten willst?“
„Er hat mir in die Schuhe geschissen.“
„Damit drückt er Zuneigung aus.“
„Dann verzichte ich auf seine Zuneigung. Ich verschwinde. Meine Motivationsstunde fängt bald an.“
Enzo verabschiedete sich und ich beschloss, direkt meiner neuen Spur nachzugehen.



Dieser Mälzer wohnte in einer feudalen Villa in einer der teuersten Gegenden der Stadt.
Auf mein Klingeln öffnete eine Frau Mitte Zwanzig, in einem fast durchsichtigen Neglige und mit einem Glas Martini samt Olive in der Hand. Offenbar war sie bereits leicht beschwipst.
Es handelte sich um Karin Mälzer. Ich stellte mich als Dr. Rüdiger Schmidt vor und behauptete ein Studienkollege ihres Mannes zu sein.
Sie war begeistert und zog mich ins Haus.

„Jens ist unterwegs, aber du kannst solange auf ihn warten. Uns fällt bestimmt etwas ein, was wir in der Zwischenzeit machen können.“
Bitte nicht. Wann war der letzte Mittwoch?
Doch dann fiel mein Blick auf etwas, was ich wirklich begehrte und ich antwortete: „Ja, da fällt uns schon was ein.“ Dabei nahm ich Kurs auf die gut sortierte Whisky-Bar.
Während ich in großen Schlücken einen teuren schottischen Single-Malt meine Kehle herabgoss, konnte Karin die Finger nicht von mir lassen und brachte selbst mir noch einige neue versaute Wörter bei.
Auf diesen Fang konnte sich Frank nicht wirklich etwas einbilden. Ich fragte mich sogar, wer da wen gejagt hatte. Vielleicht sah Frank das auch eher olympisch. Nach dem Motto: Es muss nicht immer Gold sein. Dabei sein ist alles.

Ich konnte Karin jedoch einigermaßen auf Abstand halten. Vorsichtig schnitt ich das Thema an, weshalb ich gekommen war.
„Jens hat mir geschrieben, dass er jetzt einen ganz dicken Fisch an der Angel hat. Einen gewissen Heinrich von Haglund. Ist das wahr.“
Bei der Erwähnung dieses Namens reagierte Karin Mälzer entnervt und nippte an ihrem Martini. Dann setzte sie an:
„Jens hat die letzten zwei Jahre für diesen Kerl gearbeitet. Dieser Haglund war ein kranker Mann. Nicht nur körperlich. Jens hat nie viel erzählt, aber die Moral hatte der Typ nicht gepachtet.“
Und das von einer verheirateten Frau, die mir eben noch an die Wäsche wollte.
Sie fuhr fort:
„Er hat nicht nur Pferderennen manipuliert, sondern auch Menschen. Wenn er etwas wollte, dann hat er es sich genommen.“
Etwas sagte mir, zu den Dingen die sich der Alte genommen hatte, gehörte auch Karin Mälzer.
Weiter meinte sie:
„Ich habe mich noch nie über den Tod eines Menschen so sehr gefreut, wie bei diesem alten Sack. Doch Jens war alles andere als glücklich. Irgendetwas ist in der Nacht passiert, als Haglund starb.“ Sie machte sich einen neuen Martini und stürzte ihn in einem Schluck runter.
„Als dieser Drecksack noch lebte, hat er Jens schon fertig gemacht. Aber seit seinem Tod ist Jens nur noch ein Wrack.“
Das ergab alles keinen Sinn. Warum sollte Mälzer ein Problem mit Haglunds Tod haben, wenn dieser ihn als Lebender nur drangsaliert hatte?

Ich hörte den Schlüssel im Schloss. Schnell trank ich noch etwas Whisky, da ich mit meinem Rauswurf rechnete.
Jens Mälzer schleppte sich durch die Haustür. Er war ein erbärmlicher Anblick. Sein Hemd war ungebügelt, die Krawatte offen. Seine Augen waren hohl und gerötet zugleich. Die Schultern hingen herab, wie bei einem Kirmesboxer nach dem 20. Kampf des Abends.
Ich habe Junkies im Endstadium gesehen, die besser aussahen als dieser Mälzer.
Karin schwankte auf ihn zu, sagte, ihn umarmend „Hallo Schatz!“ und gab ihm einen typischen Schmatzer auf den Mund, wie ihn Betrunkene machen.
Die Whiskyflasche hatte ich bei Mälzers Eintreten hinter meinem Rücken versteckt und stellte sie nun unauffällig in die Bar zurück.
„Einer deiner Studienkollegen ist da!“ lallte Karin.

Mälzer nahm mich kaum wahr und meinte mit der Stimme eines Mannes, der mit dem Leben abgeschlossen hatte: „Du kannst noch nicht lange hier sein.“
„Wie kommst du darauf?“ fragte ich etwas überrascht.
„Du hast deine Hose noch an.“
Zumindest nahm er die Eskapaden seiner Ehefrau noch wahr. Das sah ich als gutes Zeichen.
„Ich war grad in der Gegend und dachte, ich schau mal bei Jensi vorbei.“
Ich hoffte, dass er mir in seinem Zustand abnahm, dass ich wirklich ein alter Studienkollege von ihm war.
„Warum kann ich mich gar nicht an dich erinnern?“ fragte er.
„Zum einen ist es lange her und wir haben uns beide weiterentwickelt. Zum anderen machst du gerade nicht den fittesten Eindruck. Vielleicht liegt es daran.“ Ich spürte, ich konnte ihn überzeugen.
„Ja. Vielleicht. Kann ich dir was zu trinken anbieten?“
Bingo!
„Ich will dir keine Umstände machen. Aber ein Whisky wäre nicht schlecht.“
„Hinter dir ist die Bar. Bedien dich.“
Das lief besser als gedacht. Diesmal nahm ich mir ein Glas für den Whisky.
„Wie ist es dir seit dem Studium ergangen?“ wollte Jens Mälzer wissen.
An meinem Whisky nippend, log ich: „Ich habe eine gut gehende Praxis. Ich kann nicht klagen. Und wie geht’s dir? Auf den ersten Blick bist du ja in keiner guten Verfassung.“
„Danke für die Blumen. Aber es stimmt. Mir ging’s schon mal besser.“
„Karin sagte, das würde an deiner Arbeit für diesen Heinrich von Haglund liegen. Ist das wahr?“
Im Gegensatz zu Karin Mälzer, ließ sich Jens bei der Erwähnung des Namens nichts anmerken.
„So. Sagt Karin das? Hör zu, ich bin ziemlich fertig. Morgen hab ich schon eine Verabredung. Aber wie wär’s, wenn wir übermorgen Abend noch mal miteinander reden?“
„Gerne.“ sagte ich.
„Kennst du den Moltkepark?“
„Klar.“
„Dort gibt es eine kleine Grillhütte. Sagen wir 21:00 Uhr?“
„Wunderbar.“
„Ich werd mich aufs Ohr legen. Fühl dich wie zuhause.“ Mit diesen Worten ging Jens Mälzer die Treppe nach oben und ließ mich mit Karin und seiner Whisky-Bar allein.
Ich wollte meinen neu gewonnenen Studienkollegen und Freund nicht weiter in Verlegenheit bringen, trank aus, verabschiedete mich mit einer Umarmung und einem Küsschen von Karin und schaffte es nach draußen, ohne meine Hosen zu verlieren.



Nun führte mich mein Weg mal wieder zu Bumm Bumm. Mälzer war der erste Lichtblick in diesem Fall. Kippler könnte der zweite sein.
Vor der alten Fabrikhalle standen Panzer und Bonsai.
„Hey Panzer! Du wirst ja von Tag zu Tag dünner. Wenn ich dich das nächste Mal suche, muss ich mich wahrscheinlich danach richten wie der Wind steht.“
Der Kollos aus Fett und Muskeln grinste.
„Hallo Marc. Wenn du zum Boss willst, der ist nicht da.“
„Wo find ich ihn?“
„Er ist draußen im alten Festungstunnel.“
Irgendwie schaffte ich es nie, bei Bumm Bumm vorbeizuschauen, ohne dessen Gewaltexzesse mitzubekommen.
„Wo find ich den Festungstunnel?“
„Ich bring dich hin.“ bot Panzer an.

Wie sich herausstellte, war der Festungstunnel nicht weit weg.
Bereits als wir den Gang betraten hörte ich die ersten Schreie. Bachmann war schlechte Gesellschaft für mich. Eigentlich war er für jeden schlechte Gesellschaft.
Ich hörte Bachmann brüllen „Wer ist euer Auftraggeber?“
Ein Mann sagte in einem Balkandialekt überraschend selbstbewusst: „Von uns erfährst du nix!“
Panzer und ich betraten einen kleinen fensterlosen Kellerraum. Überall war Frischhaltefolie ausgelegt.
Auf zwei Holzstühlen saßen zwei gefesselte Männer. Beide hatten aufgeplatzte Lippen, bluteten aus der Nase und ihre Augen hatten auch etwas abbekommen.
Einer schien bewusstlos zu sein. Der andere funkelte Bachmann wütend an.
Bumm Bumm saß den beiden gegenüber auf einem dritten Holzstuhl. Er saß falsch herum und hatte die Arme auf der Lehne liegen.
Zwei wandelnde Kleiderschränke standen hinter den gefesselten.
„Das sind Kaiser und Quetscher.“ stellte mir Panzer seine Kollegen vor.
„Hallo Marc!“ sagte Bumm Bumm. Er schien sich tatsächlich zu freuen mich zu sehen.
„Hallo Bumm Bumm. Stör ich?“
„Ganz und gar nicht. Meine beiden albanischen Freunde hier wollten in einem meiner Läden Schutzgeld kassieren. Ich mache ihnen gerade klar, dass ich auf mich selbst aufpassen kann.“
„So, so.“ meinte ich, wobei es mir schwer fiel meinen Ekel zu unterdrücken. In meinem Job erlebt man zwar einiges, aber Bachmanns Methoden gingen selbst mir an die Nieren.
Er wandte sich wieder dem Albaner zu, der noch bei Bewusstsein war.
„Zum letzten Mal. Wer hat euch geschickt?!“
Der Mann spuckte in Richtung Bumm Bumm. Allerdings schaffte er es nicht bis zu seinem Stuhl, geschweige denn, zu Bachmanns Gesicht.
„Wir haben in dieser Stadt das Sagen!“ gab der Albaner an. „Wenn wir hier raus sind, seid ihr alle dran!“

Bumm Bumm gab Quetscher ein Zeichen. Dieser packte den Kopf des Bewusstlosen. Dann hörte man dessen Genick brechen.
Offenbar wurde dem Albaner erst jetzt klar, wie weit Bumm Bumm zu gehen bereit war.
„Scheisse! Das kannst du nicht machen!“ beschwerte er sich, mit einem leichten Anfall von Hysterie. „Weisst du eigentlich mit wem du dich anlegst?“
„Nein.“ sagte Bumm Bumm seelenruhig. „Doch genau das wirst du mir jetzt verraten.“
Der Albaner atmete schwer. Offenbar überschlug er im Kopf seine Optionen. Plauderte er, würde ihn sein Chef kaltmachen. Redete er nicht, würde Bumm Bumm kurzen Prozess mit ihm machen.
Scheinbar kam er zu dem Schluss, wenn er spricht, könnte Bumm Bumm das Problem mit seinem Boss aus der Welt schaffen, indem er den Boss aus der Welt schafft.
„Sali Nano. Sein Name ist Sali Nano.”
„Wo find ich den Kerl?“ wollte Bachmann wissen.
Der Albaner gab ihm eine Adresse in der Innenstadt. Es handelte sich um ein kleines albanisches Restaurant.

Bumm Bumm überließ die Situation Kaiser und Quetscher und verließ mit mir und Panzer den Tunnel. Wir fuhren zusammen in Panzers Wagen zur Fabrikhalle.
„Also Marc. Was kann ich diesmal für dich tun?“
„Ich will mich in deine Pokerrunde einkaufen.“
„In die heutige?!“ fragte Bumm Bumm, als wäre das ein Ding der Unmöglichkeit.
„Ja. In die heutige.“
„Keine Chance. Meine Pokerrunden sind Wochen im Voraus ausgebucht.“
„Was du damit sagen willst, es wird nicht billig.“
Bachmann zeigte ein breites Grinsen. „Du kennst mich Marc. Das war genau das was ich sagen wollte.“
„Dafür will ich aber auch noch einige Infos über einen deiner Stammspieler.“
„Um wen geht’s?“
„Rudolf Kippler.“
Bachmanns Grinsen wurde noch breiter. „Den schaffst du. Der kommt jede Woche und verliert jede Woche. Ab und an sorg ich dafür, dass er gewinnt. Einfach um ihn bei der Stange zu halten. Aber selbst dann gewinne ich. Nach jedem Gewinn schmeisst er Lokalrunden, besäuft sich und wird ziemlich redselig. Dadurch bekomme ich zusätzliche Einnahmen und Insiderinfos von einem der wichtigsten deutschen Rennpferdställe.“
„Redselig?“ Das hörte sich gut an. „Ich will nicht nur in die Runde einsteigen, sorg außerdem dafür, dass Kippler heute einen Glückstag hat.“
„Solange der Preis stimmt, sollst du haben was du willst.“



Ich war mir mit Bumm Bumm schnell handelseinig. Er meinte, der Dealer der Pokerrunde würde mir gefallen. Er sollte Recht behalten.
Ich kam als Letzter in das verrauchte Hinterzimmer. Das Licht war dämmrig.
Eine Altherrenrunde saß um einen runden Tisch. Rudolf Kippler war auch dabei. An der Mischmaschine und am Pot saß Anke.
Überwacht wurde die Runde von Panzer, der mit aufmerksamen Augen in einer dunklen Ecke saß.

Krawatte war Pflicht. Allerdings gab ich mir alle Mühe heruntergekommen auszusehen. Meine Inspiration hieß Jens Mälzer. Ich kam mit einem schmuddeligen Hemd und einer schlecht gebundenen Motivkrawatte mit einem schwarzen Schaf in einer weißen Schafherde.
Ich ging sogar soweit, dass ich etwas Whisky opferte um mein Hemd fleckig zu machen und mir den Anstrich eines Säufers zu geben.
Nun schwankte ich, auf eine halbvolle Flasche Jackie gestützt, in die Runde und zwinkerte Anke im Vorbeigehen zu.
Die Männer waren nicht gerade begeistert, doch als ich die Tausender lässig von meiner Geldnadel abzählte, hellten sich die Mienen der Alten auf.
Es war eine kleine Gruppe. Neben mir und Kippler gab es noch drei weitere Spieler.
Wie sich herausstellte, waren alle Drei erfolgreiche Unternehmer.
Gespielt wurde das klassische Draw-Poker, wobei jeder Spieler fünf Karten auf die Hand bekommt und bis zu vier Karten tauschen kann.
Mein einziger wirklicher Konkurrent saß rechts von mir. Es war ein Mann mit Halbglatze, der als Kondomhersteller sein Geld verdiente und den Namen Andre Rosette trug.
Für die anderen Beiden galt das Pokermotto:
„Wenn ein Mann mit Erfahrung, auf einen Mann mit Geld trifft, dann wird der Mann mit der Erfahrung Geld und der Mann mit dem Geld Erfahrung gewinnen.“
Diese Beiden würden den Tisch mit Erfahrung verlassen.

Mein Linker Nachbar spielte derart schlecht, dass er bereits nach einer halben Stunde ausstieg.
Auch Kippler schlug sich nicht gerade gut. Obwohl Anke ihm immer wieder gute Blätter auf die Hand gab, spielte er diese nicht konsequent.
Nach zwei Stunden saßen ich, Kippler und der Kondomhersteller allein am Tisch.
Anke nickte mir unauffällig zu. Es war klar, für den Mann mit dem unglücklichen Namen Rosette war es Zeit zu gehen.
Sie gab ihm vier Könige auf die Hand, während Kippler einen niedrigen Straight-Flush bekam.
Die beiden schaukelten sich gegenseitig hoch. Es kam zum Showdown. Rosette verlor und stieg fluchend aus dem Spiel aus.
Er machte Anstalten auf Kippler loszugehen. Doch Panzer war sofort dazwischen, packte ihn am Kragen und warf ihn schwungvoll raus.
Jetzt hieß es ich und Kippler. Eine von Bumm Bumms Bardamen schenkte ihm immer wieder nach.
Kippler hatte schon leichte Breitseite. Nun musste ich ihm nur noch sein Erfolgserlebnis geben und den Sack zumachen.
Wir spielten weitere zwanzig Minuten, bevor ich einen großen Pott verlor und ebenfalls ausstieg.
Bachmann hatte nicht gelogen.
Kippler war vor Freude außer sich. Er lud mich an die Bar ein.

Zu diesem Zeitpunkt war Rudolf Kippler schon mehr als nur angeheitert. Die ideale Grundlage für ein Gespräch.

„Sind Sie nicht der Stallchef bei den von Haglunds?“ eröffnete ich.
„Der bin ich. Und womit verdienen Sie ihr Geld?“
Ich musste kurz nachdenken. Gab es einen Job der mein Geld erklärt und mir gleichzeitig bei Kippler etwas nützlich ist?
„Ich besitze ein kleines Pharmaunternehmen. Die meisten meiner Kunden sind Sportler. Aber falls eins Ihrer Pferde mal schneller laufen soll, fänden wir bestimmt auch dafür eine Lösung.“ meinte ich augenzwinkernd.
Kippler lachte kurz. „Danke. Aber bislang sind wir auch so zurechtgekommen.“
„Wie läuft das Geschäft seit der alte von Haglund gestorben ist?“
„Der Laden läuft gut. Im Grunde hat sich seit Herrmanns Tod nicht viel verändert.“
Da merkte man den Alkohol. Sogar den Namen seines toten Chefs sagte er falsch.
„Aber Heinrich von Haglund hatte doch bestimmt großen Einfluss auf die Vorgänge in den Ställen, oder?“
„Klar. Er hat mir aber auch viel Freiraum gelassen.“
„War er nicht auch mit diesem Krasser vom AKF-Stall verfeindet?“
„Ja. Das war mal. Zuletzt haben sich die beiden wieder verstanden, haben es aber nicht an die große Glocke gehängt.“
Jetzt wurde es interessant.
„Die waren doch ewig verfeindet. Wie kam es zu der Versöhnung?“
„Die beiden haben rausgefunden, dass sie sich jahrelang umsonst gehasst hatten.“
Es wurde immer interessanter.
„Um was ging der Streit?“
„Nun, Karla, die Frau Heinrichs und Mutter von Marina, war kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Alfons Krasser war von Anfang an etwas eifersüchtig auf Heinrich. Beide wollten sie, aber Karla hat am Ende Heinrich geheiratet. Das hat ihr Verhältnis aber nicht weiter getrübt. Alfons und Heinrich waren weiter unzertrennlich. Doch nach Karlas Tod…“
Plötzlich veränderte sich Kipplers Miene. Ihm wurde wohl klar, dass er zuviel gesagt hatte.
Er funkelte mich wütend an, sagte nichts mehr und hetzte anschließend überstürzt nach draußen.

Stöhnend trank ich mein Glas Whisky aus. Ich war so nah dran.
Eine Frauenstimme fragte: „Harten Tag gehabt?“
Ich lächelte. Das war genau das was ich brauchte. Ich antwortete:
„Geht so. Aber etwas Scheisse fühl ich mich schon.“



Als ich am nächsten Morgen in Ankes Loft erwachte und ihren warmen Körper an meinem fühlte, da wurde mir Bewusst, dass in meinem Leben etwas Wichtiges fehlte. Etwas, ohne das kein Mann auf Dauer leben kann.
Eine Zeit lang füllte mich die Art wie ich lebte aus. Doch an diesem Morgen erkannte ich, es war nicht genug.
Ich brauchte endlich wieder ein eigenes Bett!


Ich verabschiedete mich von Anke und nahm Kurs auf mein Büro.
Dort angekommen stand mal wieder, wie so oft in letzter Zeit, meine Bürotür offen.
Mit gezückter Waffe trat ich durch die Tür.

Ängstlich starrte Adrian in den Lauf meiner Waffe und stotterte:
„E-e-e-ntschuldige! D-d-die T-t-tür stand offen.“
Er saß auf meinem Schreibtischstuhl (Warum setzte eigentlich sich keiner meiner ungebetenen Gäste auf die Besucherstühle oder meine Couch?) und hatte, bevor ich ihn aufschreckte, Horatio gekrault.
Auf meinem Schreibtisch lag ein Manuskript. Mir schwante furchtbares.
„Schon gut.“ meinte ich während ich meine Pistole wegsteckte. „Gib mir doch mal eine der Flaschen aus der rechten unteren Schublade.“
Hastig nuckelte ich an dem Whisky. Adrian zählte nicht zu den Leuten, mit denen ich gern in den Tag startete.
„Was hast du für mich?“ wollte ich wissen, während ich mich auf meiner Couch niederließ. Mir war klar, sein Pferdekrimi würde das Hauptthema sein. Wichtige Informationen zu den Rittern Lokis würde ich nur durch hartnäckiges Nachfragen bekommen.

Adrian hatte seine Angst von eben wieder völlig vergessen und warf mir begeistert das Manuskript zu seinem Krimi rüber.
„Es wird dir gefallen. Der Besitzer eines Pferderennstalls wird erschossen, kurz nachdem er eine große Summe bei einer Wette gewonnen hat. Es gibt viele Verdächtige. Sein Bruder, der immer in seinem Schatten stand. Seine Frau, die er betrogen hat. Seinen Stallchef, den er gefeuert hat. Ein Konkurrent, der ihn des Betrugs verdächtigt. Ein durchgeknallter Tierschützer. Aber du wirst nie drauf kommen wer wirklich der Mörder ist!“
Für einen kurzen Moment war ich in Versuchung meine Knarre wieder rauszuholen. Ich trank noch etwas Lebenselixier, dachte an Bumm Bumm und seine Methoden und antwortete:
„Der Buchmacher. Wegen den versauten Quoten.“
Adrian schaute mich mit großen Augen an. Er verfiel wieder ins Stottern „W-w-woher weisst du das?!“
Oje. Ein gekränkter Autor. Gibt es etwas Schlimmeres?
Aber ich rettete die Situation indem ich log:
„Ich hab heimlich ans Ende geblättert und nachgeschaut.“
Adrian atmete auf. Fast hätte ich seinen Traum vom Autorendasein zerstört.

Doch ich musste weiterkommen.
„Hör zu. Ich werde mir das alles in Ruhe durchlesen und mit Marina von Haglund durchgehen.“ Adrians Augen begannen zu leuchten. „Aber ich muss unbedingt mehr über die Ritter Lokis erfahren. Wo ist ihre Loge „Zum Mistelzweig“? Wie kann ich die finden?“
Das Leuchten verschwand aus Adrians Augen und er schaute verlegen zu Boden.
„Um ehrlich zu sein, habe ich nicht die geringste Ahnung.“
Das konnte nur ein schlechter Witz sein.
„Was soll das heissen, du hast keine Ahnung?!“
„Naja. Professor Mahlberg war sehr geheimniskrämerisch und seine Aufzeichnungen sind verschwunden. Ich weis wirklich nicht mehr als ich schon gesagt habe.“
In diesem Moment platzte mir der Kragen. Ich sprang auf, zog meine Waffe und brüllte ihn an „Raus aus meinem Büro!!“

Ich habe selten einen Menschen so schnell rennen sehen. Wobei er auf dem Weg nach draußen über Horatio stolperte, der ihm bellend bis zum Treppenhaus nachjagte.

Wieder war eine potenzielle Quelle versiegt. Soviel Whisky gab es auf der ganzen Welt nicht, wie ich in diesem Moment trinken wollte.

Während ich über meine nächsten Schritte nachdachte und in meinem Büro auf und ab ging, betrat Panzer das Zimmer.
Horatio begrüßte ihn schwanzwedelnd und der Riese beugte sich zu Horatio runter um ihn zu streicheln. Die beiden hatten irgendwie schon immer einen Draht zueinander.
„Hallo Panzer! Mann, hast du schon wieder abgenommen? Wenn das so weitergeht, wirst du noch das Maskottchen der Welthungerhilfe!“
Panzer richtete sich grinsend auf und verpasste mir eine.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meiner Couch. Obwohl er mich am Auge getroffen hatte, ging meine Hand zuerst zu meinem Kiefer. Ich befürchtete, für einige Zeit nur noch Flüssignahrung essen zu können.
Doch wie sich herausstellte, war mein Kiefer heil.
„Keine Angst. Ich hab dich kaum berührt.“ Panzer saß auf meinem Schreibtischstuhl und streichelte Horatio. Ich glaube, mein Hund war einfach beleidigt, weil ich ihn zuletzt etwas vernachlässigt hatte. Deshalb ging er auf Schmusekurs mit allen Fremden, die in mein Büro spazierten.

Ich stand wortlos auf, schnappte mir die auf dem Tisch stehende Whiskyflasche und betrachtete mich in dem kleinen Spiegel, der in meinem Büro hing.
Das Auge war zwar blau, aber nur leicht zugeschwollen. Ich konnte normal sehen.
Für Panzers Verhältnisse war der Schlag wirklich so, als hätte er mich zärtlich gestreichelt. Dabei hatte ich ihm vor kurzem noch unterstellt, er sei nicht fähig zärtlich zu sein.
„Wenn es wegen der Witze über dein Gewicht war, hättest du auch einfach was sagen können.“ klärte ich Panzer auf.
„Nein. Das war’s nicht. Dieser Kerl, den du gestern ausquetschen wolltest.“
„Kippler?“
„Ja. Der scheint mächtige Freunde zu haben. Jedenfalls hat mein Boss heute Morgen einen Anruf bekommen. Du weißt, Bumm Bumm ist hartgesotten, aber der Anrufer scheint ihm imponiert zu haben. Jedenfalls wollte man wissen, wer du bist und weshalb du diesen Kippler ausgefragt hast.“
„Was hat Bumm Bumm geantwortet?“
„Er wisse es nicht. Aber er würde sich um dich kümmern.“
„Wenn er das so gesagt hat, kann ich froh sein, dass ich noch am Leben bin.“
„Der Boss meinte, man ist ja unter Freunden. Du sollst aber jedem erzählen, von wem du das blaue Auge hast.“
Es war nicht leicht Bachmann zum „Freund“ zu haben.
„Klar. Ich werd’s rumerzählen.“
„Ich hab auch ein Trostpflaster für dich.“ Aufmunternde Worte von Panzer. Mal was Neues.
„Das wäre?“
„Du bist doch vor ein paar Tagen überfallen worden. Ich weis wer’s war.“
„Mach’s nicht so spannend. Raus damit.“
„Es war Bonsai.“
Ich trank noch einen Schluck Whisky. Was sollte das nun wieder heissen?
„Warum?“
„Er sollte dich überfallen und dir deine Knarre abnehmen.“
„Das hat er nicht geschafft. Aber einen Tag später ist mein Revolver verschwunden. War das auch Bonsai?“
„Keine Ahnung. Er hat mir nur irgendwann nebenbei erzählt, dass er schon mal bei dir war. Mehr zu dem Thema konnte ich nicht aus ihm rausbekommen.“
„Wer war der Auftraggeber?“
„Bonsai mag dumm sein, aber selbst er weis: Verrat niemals deinen Auftraggeber!“
Ich musste daran denken, dass ich Marina von Haglund gegenüber Adrian und Enzo verraten hatte. Sogar Bonsai war klüger als ich. Damit war vorläufig der Tiefpunkt meiner Ermittlungen erreicht.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Erst durch das Klingeln wurde mir bewusst, wie selten ich es eigentlich hörte. Keine Freunde. Keine Klienten. Wann hatte ich angefangen jenseits des Lebens zu stehen?

Ich nahm ab.
„Hallo Marc! Komm her! Und beeil dich!“ Bevor ich fragen konnte was los war, hatte der aufgeregte Enzo schon aufgelegt.

„Bist du mit dem Auto da?“ wollte ich von Panzer wissen.
„Jap.“
„Kann ich dich als Chauffeur einspannen?“
„Normalerweise müsste ich zwar Sali Nano überwachen. Aber ich glaub, er hat die Botschaft auch so verstanden.“
„Was habt ihr ihm getan?“
„Liest du keine Zeitung?“
„Nein. Steht eh immer dasselbe drin.“
Panzer kramte einen zerknüllten Artikel aus der Tasche und gab ihn mir.
Ich faltete das Papier auseinander. Der Artikel war von heute. Ich begann zu lesen:

Grausiger Fund vor albanischem Restaurant
Vor einem albanischen Restaurant in der Innenstadt, wurde heute Nacht ein grausiger Fund gemacht. Vor dem Eingang hatten unbekannte zwei Besenstiele in die Blumenkübel gesteckt. Auf dem oberen Ende der Stiele steckte jeweils ein abgetrennter menschlicher Kopf.

Ich sparte mir den Rest und gab Panzer den Artikel zurück. Das war nicht meine Welt. Zumindest wollte ich nicht, dass es meine Welt ist.
„Was ist mit Sali Nano selbst?“
„Mein Boss ist nicht im Schutzgeldgeschäft. Vorerst muss Nano die Stadt verlassen. Aber wenn er in einigen Wochen wieder in sein Geschäft einsteigen will, werden wir ihn nicht dran hintern. Hauptsache er hält sich von Bumm Bumms Läden fern. Diesen Hund haben wir schon abgerichtet. Warum einen neuen Welpen erziehen?“
Das zeichnete Bumm Bumm schon immer aus. Er wusste, wen man besser verschont.
„Lass uns fahren.“ sagte ich zu Panzer.



In Enzos WG angekommen, stand Frank im Flur und starrte grinsend auf die geschlossene Tür zu Holgers Zimmer. Zum ersten Mal sah ich ihn angezogen.
Er starrte so angestrengt auf die Tür, dass er mich und Panzer kaum wahrnahm. Vor allem bei Panzer schwer vorstellbar.
Wir gingen durch bis zur Küche, wo Enzo allein am Tisch saß. Er erschrak etwas als er Panzer bemerkte. Beruhigte sich aber, als ich sagte: „Das ist Panzer. Der gehört zu mir.“
„Was hast du mit deinem Auge gemacht?“ wollte Enzo wissen.
„Das war ich.“ gestand Panzer.
Enzo schaute mich fragend an. Ich winkte ab.
„Adrian war doch heute Morgen bei dir?“ begann Enzo. Wobei er immer wieder zwischen meinem blauen Auge und Panzer hin und her blickte.
„Ja.“
„Kurz danach hat er mich angerufen. Er wollte zu Armin Lehnhardt. Dem Spediteur, den Peter in dem Brief an dich erwähnt hat. Offenbar hatte er vor unbedingt mehr über die Ritter Lokis zu erfahren.“
„Was er bislang wusste war ja auch etwas dünn.“
„Ne halbe Stunde später rief er mich wieder an und sagte nur zwei Worte: Hilf mir. Dann brach das Gespräch ab.“
Ich ließ das kurz sacken. Dann wandte ich mich an Panzer:
„Lust auf nen Auftrag?“
„Immer. Solange der Preis stimmt.“
„Weißt du wo ich diesen Lehnhardt finde?“ fragte ich Enzo.
Er gab mir einen handgeschriebenen Zettel mit einer Adresse und meinte:
„Das ist die Adresse von Lehnhardts Spedition. Adrian hat sie selbst recherchiert.“

Frank kam begeistert in die Küche.
„Gleich kommt sie!“ klärte er uns auf.
In diesem Moment kam eine wunderschöne junge Frau mit Modelmaßen an der Küche vorbei und ging Richtung Bad. Sie war vollständig angezogen und trug ein teures Abendkleid.
Enzo erklärte:
„Wir wollten Holger endlich mal ein Erfolgserlebnis bei Frauen verschaffen. Deshalb hat Frank ihn mit einer seiner Freundinnen zusammengebracht. Die beiden hatten gestern Abend ein Rendezvous und sie blieb über Nacht.“
Frank meinte: „Ich bin zu gut für diese Welt.“
Jetzt kam auch Holger in die Küche. Enzo begann zu klatschen und Frank pfiff anerkennend. Ich selbst rief „Bravo!“
Frank fragte: „Habt ihrs krachen lassen?“
Holger schien wütend. Er sagte: „Julia ist nicht so eine! Sie ist sehr intelligent und hat hervorragende Charaktereigenschaften! Wir haben die ganze Nacht geredet! Ich will es langsam angehen lassen!“ Dann holte er eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und verschwand wieder.
Frank starrte ihm mit geöffnetem Mund hinterher und meinte entsetzt: „Geredet?!“
Ich und Enzo versuchten Frank aufzumuntern. „Holger ist eben nicht so schnell.“ „Er will’s langsam angehen lassen.“ „Das wird schon.“ „Die beiden scheinen sich doch zu verstehen.“ usw.
Doch Frank war immer noch entsetzt. Er sagte, mehr zu sich selbst als zu uns: „Geredet!? Die Frau kostet mich tausend Euro die Nacht und er hat nur geredet!?“

Ich, Panzer und Enzo mussten lachen. Das machte das ganze für Frank nicht leichter.
Gereizt fragte er: „Was soll eigentlich diese Versammlung? Enzo, weshalb hast du King Kong und diesen drittklassigen Preisboxer hergeholt?“
Mit King Kong dürfte er Panzer gemeint haben. Und der drittklassige Preisboxer bezog sich wohl auf mein blaues Auge.
Enzo antwortete: „Adrian steckt in der Klemme.“
Frank musste überlegen. „Adrian? Ist das nicht dieser Möchtegernautor den du kennst?“
„Red nicht so abfällig über ihn. Wenn du schreiben würdest, hätte dein Buch wahrscheinlich den Titel: Die Abenteuer von Longpimmel und Breitfutt“
„Oder: Schwanz im Glück.“ Schlug ich vor.
Der Gedanke schien Frank zu gefallen.
Ich hatte genug von dem Schauspiel:
„Ich würde ja gern noch länger bei eurem Ehekrieg zusehen, aber für mich wird es Zeit einen Schreiberling zu retten. Komm Panzer.“
Damit verließen Panzer und ich Enzos WG.



Lehnhardts Spedition war schnell gefunden und Panzers ungewöhnlicher Van fiel zwischen den ganzen LKWs kaum auf.
Da ich niemanden im Speditionsbüro verschrecken wollte und auf der anderen Seite eine Rückendeckung brauchte, ließ ich Panzer im Wagen.

Ich betrat einen kleinen Kastenbau. Dieser stand Mitten auf dem Parkplatz, welcher Lehnhardts Fuhrpark beherbergte.
Hinter einer Holztheke saß eine Frau Anfang ihrer Fünfziger. Sie trug eine Brille und die Haare als Dutt. Von ihrer Aufmachung her, hätte die auch gut und gerne achtzig sein können.

„Guten Tag!“ begann ich. „Ich suche Armin Lehnhardt.“
„Der ist nicht da.“
Es entstand eine Pause. Offenbar war das die einzige Information die sie preisgeben wollte.
„Und wo ist er?“ versuchte ich es trotzdem.
„Wer will das wissen?“ meinte sie schnippisch.
„Ein potenzieller Auftraggeber.“
Ich merkte, dass nahm sie mir nicht ab. Ich schob es auf mein blaues Auge.
„Er ist unterwegs.“ sagte sie knapp.
„Kann ich wenigstens hier auf ihn warten?“
„Wenn Sie nichts besseres zu tun haben.“
Hier musste ich wohl eine Charmeoffensive starten. Was für eine Verschwendung.
Bevor ich anfangen konnte bot sie mir einen Kaffee an. Mehr wegen der Geschäftspolitik, als aus Höflichkeit. Das war sicher.
„Normalerweise trinke ich ja keinen Kaffee, aber wenn es mit so charmanter Gesellschaft verbunden ist, kann ich nicht widerstehen.“
Keine Reaktion.
Ich nippte an dem Kaffee und startete einen zweiten Angriff.
„Großer Gott, das ist nicht einfach Kaffee. Das ist eine Tasse voll Sonnenschein.“
Nichts.
Zeit einen Gang höher zu schalten.
Ich zeigte auf die Tasse und sagte „Nein, was rede ich da? Das ist viel mehr! Das…“, dieses „Das“ betonte ich besonders, „Das, ist flüssiger Sex!“
Reaktion? Null! Nada! Niente!
Das heisst, nicht ganz.
Sie schaute mich über den Rand ihrer Brille an, als wollte sie fragen:
„Junge, hast du dich als Kind zu oft an deinem Puppenhaus geschnitten?“

In diesem Moment kam Panzer durch die Tür.
„Brauchst du noch lange Marc?“

Sofort trat ein Leuchten in die Augen von Lehnhardts Sekretärin. Das beruhigte mich. Es lag nicht an der Technik. Ich war einfach nur in der falschen Gewichtsklasse.

„Hallo!“ sagte sie erwartungsfroh.
„Guten Tag!“ erwiderte Panzer gutgelaunt.
„Mit wem habe ich das Vergnügen?“ wollte sie wissen.
Panzer überraschte mich auf der ganzen Linie. Er zeigte Charme. Er beugte sich zu der eben noch so unfreundlichen Frau hinunter, nahm ihre Hand in eine seiner Pranken und deutete galant einen Handkuss an.
Dabei hatte ich ihn eigentlich nur fürs Grobe mitgenommen.
„Mein Name ist Detlef Schreiner.“
Detlef! Er hatte tatsächlich Detlef gesagt! Zu allem Überfluss erfuhr ich später, er hatte seinen richtigen Namen genannt.
Er fuhr fort: „Und wie heisst die bezaubernde Dame?“

Ein paar Nettigkeiten später wussten wir alles was wir wissen mussten. Lehnhardt war zu seinem Lagerhaus außerhalb der Stadt gefahren.
Wir verabschiedeten uns. Ich mich kühl und knapp. Panzer sich warm und herzlich.



Es begann bereits zu dämmern, als wir an dem einsam gelegenen, umzäunten Lagerhaus ankamen. Uns beiden war schnell klar, hier ging etwas Großes vor sich.
Vor dem Lagerhaus waren zahlreiche Limousinen geparkt und vor dem Tor standen zwei von Panzers Kollegen Wache.
„Den Rechten kenn ich.“ erklärte Panzer. „Das ist Shakespeare.“
Ich schaute mir den Mann an. Ein Jobtypisches Muskelpaket. Nur ein altertümlicher Backenbart im Gesicht unterschied ihn von den anderen Männern seines Gewerbes.
„Warum heisst ein Türsteher Shakespeare?“ wollte ich wissen.
„Weil er bei jeder Gelegenheit Shakespeare zitiert. Das kann er wirklich gut. Außerdem ist er eine lebende Legende. Er bewacht nur die ganz Großen und soll ein erfolgreicher Profikiller sein.“
„Dann sollten wir ihm besser aus dem Weg gehen.“ Dem Mann wollte ich lieber nicht im Dunkeln begegnen, wenn selbst Panzer Respekt vor ihm hat.

Panzer fuhr hinter das Lagerhaus und damit außer Sichtweite der Wachen. Ich musste wissen was dort drinnen passierte.
„Wir müssen da rein. Nur wie?“ sagte ich zu mir selbst.
Wieder überraschte mich Panzer indem er antwortete: „Kein Problem. Brecheisen, Bolzenschneider, Schweißgerät. Hab alles im Wagen.“
Panzer war sein Gewicht in Gold wert. Und Panzer wog sehr, sehr viel.

Wir schnitten uns mit Hilfe des Bolzenschneiders durch den Zaun, der um das Gebäude gezogen war.
Auf der Rückseite des Lagerhauses führte eine Feuerleiter zum Dach. Vielleicht würden wir übers Dach unbemerkt in das Gebäude kommen, dachte ich mir.

Kurz vor der Leiter hörte ich ein Knurren. Zwei riesige Wolfshunde tauchten neben mir und Panzer auf. Sie fletschten die Zähne und schienen sprungbereit. Ich schloss schon mit dem Leben ab. Doch Panzer blieb völlig gelassen, zog ein paar Hunde-Leckerlis aus der Tasche und beugte sich zu den beiden Ungetümen hinunter. „Brave Hunde.“ umgarnte er sie, während er sie streichelte. Die Hunde beruhigten sich sofort.

Wie bin ich bei meinen früheren Aufträgen nur ohne Panzer ausgekommen?

Der Aufstieg war für mich mehr eine seelische, als körperliche Belastung. Ich habe keine Höhenangst. Aber ich kletterte hinter einem gigantischen Fleischberg eine schmale Leiter hoch. Der Blick nach oben war weitaus erschreckender als der nach unten. Ich hatte Todesangst.

Auf dem Dach befanden sich einige Oberlichter durch die man das Geschehen im Lagerhaus beobachten konnte.
In der Halle standen rd. zwei Dutzend Männer in roten Kapuzenmänteln. Die Kapuzen waren jeweils tief ins Gesicht gezogen.
Sie alle blickten in Richtung einer kleinen Holzbühne mit einem Altar. Auf diesem lagen ein Kruzifix, Zirkel und Winkelmaß, ein Totenschädel, ein Mistelzweig und eine Bibel. Erleuchtet wurde der Altar von einer einzelnen Kerze.
Daneben saß ein weiterer Kapuzenmantelträger. Zusätzlich zu seiner roten Kapuze, wurde sein Gesicht von einer Holzmaske verdeckt. Die Maske stellte eine Art Teufelsfratze dar. Vielleicht sollte es auch das Antlitz Lokis sein.
Kein Zweifel, ich und Panzer beobachteten den Großmeister.
Auch wenn wir nichts hören konnten, war klar, der Großmeister redete zu seiner Loge. Seine Ansprache untermalte er, indem er mit den Armen gestikulierte.
Nur eine wichtige Regel der Rhetorik missachtete er. Er sprach nicht stehend.
Ich dachte noch darüber nach, als mir auffiel, weshalb er im Sitzen zu den Logenbrüdern sprach. Er saß im Rollstuhl.
Der Rollstuhlfahrer bei von Haglunds Beerdigung! Er wollte unerkannt an dem Begräbnis teilnehmen. Das machte Sinn.

Panzer meldete sich zu Wort: „Ich hab ja schon einiges gesehen. Aber diese Rotkäppchen Horror Picture Show topt alles.“
Erst wusste ich nicht, was Panzer damit meinte. Aber dann fiel mir etwas hinter der Holzbühne auf, was mir den Atem verschlug. Panzer wusste wovon er sprach. So perfide konnte nicht mal Bumm Bumm sein.
„Großer Gott! Das ist krank!“ entfuhr es mir.
Hinter der Bühne stand eine Esche. Sie wuchs einfach aus dem Hallenboden.
An einem ihrer Äste baumelte ein toter Mann mit einem Strick um den Hals. Doch das war noch nicht mal das Schlimmste. Auf den Schultern des Toten saß jeweils ein Rabe und pickte an dessen Wangen und Augen.
Mir wurde schlagartig bewusst, dass es sich hierbei nicht um eine Lagerhalle handelte. Hier wurde nie etwas gelagert. Das war eine rituelle Begegnungsstätte. Ein Tempel. Inklusive einem Opferplatz in Form der Esche. Die beiden Raben waren wohl Teil des Opferrituals.

Ich sah mir den Toten genauer an. Konnte das wahr sein? Ich sah noch mal hin und musste mich übergeben. Adrian würde in diesem Leben keinen Literaturnobelpreis mehr gewinnen. Dafür hatten die Ritter Lokis gesorgt.

Panzer brummte böse. Das war kein gutes Zeichen.
„Sag mal Marc, diese Kappensitzung hat nichts mit diesem Kippler zu tun, oder?“
Dafür, dass er nur Türsteher war, kapierte Panzer sehr schnell.
Zögernd antwortete ich: „Doch, Kippler gehört dazu.“
„Du Penner!“ schrie mich Panzer an. „Du schleppst mich zu einem Treffen von Psychopaten, vor denen sogar mein Boss kuscht! Bist du völlig verrückt geworden?!“
Ohne auf meine Antwort zu warten holte Panzer aus. Ich sah seine Faust auf mich zukommen und überlegte schon, was auf meinem Grabstein stehen würde. Allerdings riss er sich im letzten Moment zusammen und lenkte seinen Schlag um. Statt meines Gesichts, traf er die Scheibe des Oberlichts, durch das wir die Versammlung beobachteten. Das Glas ging zu Bruch und die Männer mit den roten Kapuzenmänteln schauten alle zu uns rauf.
Panzer und ich starrten und gegenseitig entsetzt in die Augen. Ich habe weder davor, noch danach je wieder Angst auf Panzers Gesicht gesehen. Doch damals las ich in seinen Augen die pure Panik. Er dürfte über mich das Selbe sagen.

Wir stürzten zurück zur Feuerleiter und rutschten sie mehr herunter, als das wir sie herunter stiegen.
Wir sprangen in Panzers Van, als die beiden Wachen vom Haupttor, gefolgt von einem halben Dutzend Kapuzenträgern, auf uns zu gerannt kamen.
Panzer gab Bleifuß und wir verließen im letzten Moment den heiligen Boden der Ritter Lokis.



Ich ließ mich von Panzer bei Enzos WG absetzen. Panzer war immer noch sauer und meinte grimmig: „Lass dich in nächster Zeit nicht bei mir blicken!“
In meinem eigenen Interesse nahm ich Panzers Worte ernst.

Holger, Daniel und Frank schienen ausgeflogen zu sein. Enzo fand ich in seinem Zimmer.
Er döste auf seiner Matratze vor sich hin.
„Hallo Enzo. Ich bin zurück.“
Enzo richtete sich auf und sah mich an. „Was ist mit Adrian? Hast du ihn gefunden?“
Ich atmete schwer durch. „Ja. Ich hab ihn gefunden.“
Lächelnd meinte Enzo: „Gott sei dank. Ich dachte schon, dieser Lehnhardt hätte ihn in Schwierigkeiten gebracht.“
Ich verzog gequält mein Gesicht. „Naja. Ich hab ihn gefunden. Wie soll ich sagen? Du brauchst ihm dieses Jahr keine Weihnachtskarte schicken. Er ist tot.“
Enzo war geschockt. „Was ist passiert?“ fragte er mit leicht zittriger Stimme.
„Glaub mir, es ist besser für dich, wenn du es nicht weist.“
„Die Ritter Lokis?“
Ich nickte.
„Was ist mit der Polizei?“ wollte Enzo wissen.
„Auf welchem Planeten lebst du eigentlich, dass du glaubst, man könne mit unserer unterbezahlten, unterbesetzten und unmotivierten Polizei drohen?! Diese Männer haben beste Kontakte. Im günstigsten Fall verlaufen die Ermittlungen im Sande. Im schlimmsten erfahren diese Spinner mit den roten Kappen von der Polizei, wer wir sind.“
Enzo sah sehr unglücklich aus. „Bitte geh jetzt Marc. Und lass dich in nächster Zeit nicht bei mir blicken.“
Derselbe Satz innerhalb von kürzester Zeit, von zwei meiner wichtigsten Verbündeten in diesem Fall. Das gefiel mir ganz und gar nicht.
Wieder einmal beschloss ich den Abend in einer Kneipe ausklingen zu lassen.



Ich saß im „Route 66“ zwischen zahlreichen bärtigen Bikern in Ledermontur und trank meinen Jackie.
Die Ereignisse des Tages waren alles andere als ermutigend. Adrian war tot. Panzer und Enzo wollten vorerst nichts mehr mit mir zu tun haben. Langsam schwante mir, dass die Ritter Lokis eine Nummer zu groß für mich waren. Und bei all dem, war ich der Antwort auf die Frage, ob und weshalb Heinrich von Haglund umgebracht worden war, kein Stück näher gekommen.
Ich wollte eine Zigarre rauchen und wühlte deshalb in meinen Taschen. Ich wurde fündig und steckte mir die Zigarre in den Mund. Allerdings konnte ich mein Feuerzeug nicht finden. Stattdessen stieß ich auf den Siegelring mit den Initialen HH.
Während ich mit einer Hand weiter nach dem Feuerzeug suchte, betrachtete ich den Ring. Von allem, was in dem Umschlag Marina von Haglunds war, konnte ich mit dem Ring am wenigsten anfangen. Das war zweifellos der Siegelring Heinrich von Haglunds. Wie sollte der mir helfen?
Dann fiel mir der Fehler ein, den ich mit der Anstecknadel gemacht hatte. Ich hatte die Rückseite vergessen. Also schaute ich auf die Innenseite des Rings.

Was ich da las, brachte meine Gehirnwindungen in Wallung. Ich unterbrach meine Suche nach dem Feuerzeug und nahm den Ring zwischen Zeigefinger und Daumen beider Hände.
Was hatte das nun wieder zu bedeuten?!
Dort war ein achtbeiniges Pferd abgebildet. Darüber standen die Buchstaben GM und darunter die Buchstaben RL. Zwar wusste ich es nicht, aber die einzige Übersetzung die mir einfiel war: GM=Großmeister RL= Ritter Lokis.
War das der Siegelring des Großmeisters der Ritter Lokis?
Falls ja, war Heinrich von Haglund in Wirklichkeit der Großmeister?
Laut Mahlberg waren er und Krasser gleichgestellt.
Oder hatte man ihm den Ring aus irgendeinem Grund nach seinem Tod angesteckt?
Hatte Heinrich von Haglund den Ring gestohlen und musste dafür sterben?
Ich ließ alles, was ich bislang erfahren hatte Revue passieren. Plötzlich hatte ich eine Theorie.
Mir fehlten das Motiv und einige Zusammenhänge. Aber im Groben konnte ich mir jetzt vorstellen, was in der Nacht passiert war, als von Haglund starb.
Meine Theorie war verrückt. Doch während meiner Arbeit als Privatdetektiv hatte ich gelernt, keine Theorie konnte verrückt genug sein, um nicht am Ende von der Realität noch übertroffen zu werden.
Obwohl es ein katastrophaler Tag war, ging ich gutgelaunt nach Hause.
Am Abend des nächsten Tages stand ja mein Treffen mit Jens Mälzer an. Da würde ich meine Theorie auf Richtigkeit prüfen können.



In der Eingangshalle zu meinem Bürohochhaus klopfte ich an das Glas zu Marius Pförtnerloge. Marius wachte erschrocken auf und meinte: „Was ist los? Schon Feierabend?“
Ich lachte und sagte: „Guten Abend Marius! Wie geht’s Ihrer Frau?“
„Bestens. Danke der Nachfrage.“
„Dann will ich Sie mal nicht länger stören. Wachen Sie schön weiter.“
„Sie wissen doch, auf mich ist Verlass!“ antwortete Marius selbstbewusst.
Man musste den alten Mann einfach lieben.

Meine Bürotür war diesmal zur Abwechslung zu und drinnen erwartete mich auch keine unangenehme Überraschung.
Horatio ließ ich wieder die Zeugen-Jehovas-Toilette besuchen. Ich musste unbedingt mehr mit ihm unternehmen. Zum Beispiel im Moltkepark.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, trank aus der angebrochenen Whiskyflasche aus dem „Route 66“ und steckte mir eine Zigarre an. Mit dem Siegelring in der Hand dachte ich über meine Theorie nach.
Während ich darüber nachgrübelte wie das alles zusammenpasste, öffnete sich meine Bürotür. Horatio kam herein. Gefolgt von Marina von Haglund.

Sie sah wie immer hinreißend aus. Sie trug den selben kurzen schwarzen Rock und die selbe schwarze Weste wie bei meinem Besuch in ihrem Verlag.
„Was bringt so spät noch solchen Glanz in meine Hütte?“
„Ich hab noch Licht brennen sehen und dachte, ich frag mal nach dem Stand der Ermittlungen. Was haben Sie mit Ihrem Auge gemacht?“
Noch Licht brennen sehen. Schon klar. Ich dachte mir meinen Teil.
Ich stand auf, ging um meinen Schreibtisch und lehnte mich an den Tisch an, so dass wir uns auf Augenhöhe unterhalten konnten.
Ihre Frage nach meinem Auge ignorierte ich.
„Meine Ermittlungen kommen voran.“
„Geht das auch genauer?“
Eigentlich wollte ich bis zum Treffen mit Mälzer am nächsten Abend warten. Doch in diesem Moment beschloss ich, meine Theorie gleich mal anzuprüfen.
„Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass Ihr Vater vielleicht noch lebt?“
„Was?!“ fragte sie entsetzt.
„War das ein Ja oder ein Nein?“
„Sie sind doch völlig verrückt! Ich war an seinem Sterbebett!“ Sie versuchte mich zu Ohrfeigen, doch ich hielt ihre Hand im letzten Moment am Gelenk fest.
„In Ordnung.“ tat ich nachgiebig. „Dann wechseln wir das Thema.“
Ich hatte ihr Handgelenk immer noch im Griff. Sie funkelte mich mit einer Mischung aus Zorn und Kränkung an. Sie tat mir leid. Fast hätte ich mir den folgenden Satz verkniffen. Doch es war zu verführerisch.
„Seit wann beobachten Sie mich?“
Sie wurde rot im Gesicht und stellte unter ihrer Weste wieder ihre „Zelte“ auf. Sie wendete sich ab. Mit der einen Hand hielt ich sie nach wie vor fest. Mit der anderen fasste ich sie am Kinn und drehte ihr Gesicht sanft zu mir zurück. Sie hatte die Augen niedergeschlagen.
„Sieh mich an.“ sagte ich sanft.
Zögernd hob sie ihren Blick und schaute mir in die Augen.
Sie brauchte mir nicht zu antworten. Alles was ich jetzt noch von ihr wissen wollte. Alles was sie mir jetzt noch hätte sagen können. All das las ich in ihren wunderschönen braunen Augen.
Unsere Lippen fanden sich wie von selbst.
Mir kam meine eiserne Regel in den Sinn: Kein Sex mit Klientinnen.
Scheiss auf Regeln!



Am nächsten Morgen saß ich auf meinem Schreibtischstuhl bei einem Guten-Morgen-Whisky. Ich ließ meinen Blick schweifen. Sämtliche Unterlagen von meinem Schreibtisch lagen auf dem Boden. Dazwischen lagen Marinas Weste, ihr Rock, ihre Schuhe, ihr BH und ihr Slip.
Marina selbst schlief auf meiner Couch. Sie hatte ein unglaublich anmutiges Lächeln auf dem Gesicht. Für mich sah es so aus, als würden Ihre Lippen das Lächeln immer noch weiter verschönern und zwar bei jedem kleinen Atemzug durch ihre zierliche Nase. Wer hätte gedacht, dass es mich mal glücklich machen würde, einer Frau einfach nur beim Schlafen zuzusehen. Von mir aus hätte dieser Moment ewig dauern können.

Aber, wie das eben so ist, mit Momenten die ewig dauern könnten. Sie dauern oft nur einen Wimpernschlag lang.
Das Telefon läutete. Marina drehte sich mit einem Stöhnen um.
Seufzend nahm ich den Hörer ab.
„Ja bitte?“
„Du musst verschwinden!“ sagte Anke aufgeregt.
„Was? Warum?“
„Ich hab keine Ahnung was du gestern Abend getrieben hast.“ Ich fragte mich, ob sie mich gewarnt hätte, wenn sie es gewusst hätte. „Aber du hast offenbar in ein Wespennest gestochen. Seit zwei Stunden steht Bumm Bumms Telefon nicht mehr still. Alle möglichen Leute wollen wissen, wer der Typ ist, der Kippler ausquetschen wollte. Du weist, dieser Typ bist du.“
„Was macht Bumm Bumm?“
„Er ist nervös. So hab ich ihn noch nie erlebt. Er hat dich nicht verraten. Aber er will dir Kaiser und Bonsai vorbeischicken. Erstmal will er Zeit gewinnen. Aber ich fürchte, wenn diese Leute den Druck noch erhöhen, liefert Bumm Bumm dich aus.“
Ich war mir nicht sicher wovor ich mich mehr fürchten sollte. Vor dem Tempel der Ritter Lokis, mit der Esche und den beiden Raben. Oder vor dem alten Festungstunnel von Bachmann.
„Wieso schickt er nicht Panzer?“
„Der hat auch angerufen. Er hat Bumm Bumm lapidar mitgeteilt, dass er für einige Tage die Stadt verlässt. Das hat Bumm Bumm natürlich noch nervöser gemacht. Scheisse! Was um alles in der Welt hast du getan? Mit wem hast du dich angelegt, dass sogar Männer wie Panzer und Bumm Bumm Angst bekommen?!“
Statt zu antworten sagte ich nur: „Danke für die Warnung. Mach’s gut.“
Ich wollte schon auflegen, als Anke rief: „Marc!“
„Ja?“
„Pass auf dich auf.“
„Das werde ich. Mach dir keine Gedanken, ich komm zurecht.“ Gut das es kein Bildtelefon war. Mein blaues Auge war nicht gerade dazu angetan, meine Aussage zu unterstreichen.
Ich spürte, dass sie noch mehr sagen wollte, ihr aber die Worte nicht über die Lippen kamen.
Deshalb meinte ich knapp: „Nochmal Danke. Du hast was Gut bei mir.“ und legte auf.

Ich blieb noch ein wenig auf meinem Schreibtischstuhl sitzen und trank etwas Whisky.
War hier alles zu Ende? Hatte ich mich diesmal wirklich mit den falschen Leuten angelegt?
Ich ging zur Couch und beugte mich über Marina, um sie zu wecken. Doch als ich über ihren nackten Körper gebeugt war, gab mir mein eigener Körper zu verstehen, dass er jetzt noch keinen Abschied akzeptieren würde.
Ich küsste sie wach und sie fiel mir direkt um den Hals. Mein Verstand sagte mir: „Ich muss hier raus.“ Aber, welcher Mann hört in einer solchen Situation auf seinen Verstand?

Als wir uns dann doch wieder anzogen, waren zwei weitere Stunden verstrichen. Es wurde Zeit zu gehen. Bevor es zu spät war.
Ich öffnete meine Bürotür. Dabei war ich noch nicht mal erstaunt, als ich in Bonsais hohle, dumme Augen sah.
Aber als Bonsai Marina sah, er sie verdutzt fragte „Sie?“ und Marina antwortete „Verschwinde!“, war ich schon verblüfft. Umso mehr, weil Bonsai Kaiser am Arm packte und tatsächlich verschwand. Wobei er Kaiser hinter sich herzog.
Ich schaute Marina an, doch sie wandte ihren Blick ab.
Sie war es, die mir Bonsai auf den Hals gehetzt hatte. Diese Erkenntnis traf mich mitten ins Herz. Ich wusste nicht warum. Aber sie hatte es getan. Kein Zweifel möglich.
Was wollte sie mit meiner Waffe? Ich war so gekränkt, dass ich sie nicht mal zur Rede stellte.
Was hätten ihre Worte jetzt noch verändern können?

Auf der Straße verabschiedete ich mich grußlos von Marina. Ich spürte, dass sie mir noch eine Weile nachblickte. Auch glaubte ich ein leises Schluchzen zu hören. Horatio blieb einen Moment bei ihr, bevor er mir winselnd folgte.
Auf meinem Weg die Straße entlang, sah ich einen wackelnden kleinen Nissan Micra. Auf dem Fahrersitz saß Bonsai. Neben ihm Kaiser. Die beiden stritten sich lautstark und handgreiflich. Wahrscheinlich darüber, ob sie mich einsacken sollten, oder nicht.
Ich beeilte mich aus ihrer Sichtweite zu kommen.

Ich irrte plan- und ziellos durch die Straßen. Es war gerade Mittag. Irgendwie musste ich die Zeit bis zu meinem Treffen mit Jens Mälzer an diesem Abend überbrücken.
Außerdem musste ich mich von dem Schock erholen, dass mir ausgerechnet Marina von Haglund einen Schläger geschickt hatte.

Ich war schon einige Zeit gelaufen, ohne auf den Weg zu achten. Plötzlich rief jemand hinter mir meinen Namen und ich drehte mich um.
Ein alter Bekannter kam auf mich zu.
„Hallo Jochen. Wie geht’s?“
„Gestern ging’s noch.“ sagte er lachend. „Und wie sieht’s bei dir aus?“
„Nun, ich bin abgebrannt, habe Pech in der Liebe und einige Verrückte wollen mir ans Leder.“
„Wow. Hübsches Auge übrigens. Blau steht dir. Wenn ich da an früher denke, ging’s dir wohl noch nie so gut wie jetzt.“
Ich dachte einen Moment darüber nach. Tatsächlich musste ich ihm zustimmen. Mir ging’s schon mal schlechter.
„Arbeitest du noch beim Bundeskriminalamt?“ fragte ich Jochen.
„Ja.“ Das schien nicht sein Lieblingsthema zu sein. „Aber ich hab vor ein paar Monaten einen Fall versaut und wurde zur BKA-Zentrale zwangsversetzt. Warst du schon mal in Wiesbaden? Furchtbare Stadt!“
„Was machst du derzeit beim BKA?“
„Ich arbeite in der Sektenabteilung. Du glaubst gar nicht was es für Spinner gibt.“
Und wie ich es glaubte.
„Hast du mal von den Rittern Lokis gehört?“
Sofort versteifte sich Jochen.
„Wie kommst du auf die?“ fragte er sichtlich nervös.
Glückliche Fügung des Schicksals. Es heisst, wenn Gott eine Tür schließt, öffnet er ein Fenster.
In letzter Zeit hatte er mir viele Türen zugeschlagen. Adrian, Enzo, Panzer und Marina. Sie alle waren mehr oder weniger für mich verloren.
Deshalb war Jochen eine gute Gelegenheit wieder voll in den Fall einzusteigen. Er und Jens Mälzer.
Ich überging Jochens Frage und meinte:
„Ich will wissen was du weist. Was wird mich das kosten?“
Jochen überlegte einen Moment, bevor er antwortete:
„Lass uns einen Kaffee trinken gehen.“



Wir saßen im „Cafe Grün“ bei Kaffe und Kuchen zusammen und hielten einen Männer-Kaffeeklatsch ab.
„Also, was kannst du mir über die Ritter Lokis sagen?“
Jochen beugte sich weit über den Tisch zu mir und flüsterte: „Bevor ich anfange geb ich dir einen Rat. Leg dich nicht mit denen an. Die sind dir über!“
„Danke. Der Rat kommt leider etwas zu spät.“
Jochen stieß einen Pfeifton aus.
„Oje. Dann wünsch ich dir viel Glück. Schon mal an auswandern gedacht?“
„Lass das meine Sorge sein. Erzähl mir lieber was du weist.“
„In Ordnung. Ist dein Hals um den die Schlinge liegt.“
Ich musste an den armen Adrian denken. Ob Jochen den Vergleich mit der Schlinge mit Absicht gewählt hatte?
„Die Ritter Lokis sind eine straff organisierte Germanensekte unter dem Deckmantel einer Freimaurerloge. Sie haben sehr merkwürdige Ansichten. Sie Erkennen das Christentum und den Monotheismus ein gutes Stück weit an. Glauben aber gleichzeitig an die Existenz des Germanengottes Loki. Alles in allem sehr merkwürdig und abstrus.
Sie haben z.B. ein „Fruchtbarkeitsritual“. Die sehen im Grunde überall auf der Welt gleich aus. Warst du mal in Mexiko?“
„Nein.“ antwortete ich.
„Dort war ich mal in einem Fruchtbarkeitstempel der Mayas. Da waren einige kleine Tische mit Ringen am Kopf- und Fußende, durch die Arme und Beine passen. Was denkst du wofür die waren?“
„Du wolltest mir doch Antworten liefern und nicht Fragen stellen. Sag einfach, was du zu sagen hast.“
„OK. Der Reiseführer hat es zwar nicht erklärt, aber es war offensichtlich, das die „Fruchtbarkeitsrituale“ nichts anderes als organisierte Massenvergewaltigungen waren. Die Priesterkaste holte sich auf diesem Weg Sex mit den schönsten Jungfrauen der Mayastädte und umliegenden Dörfer.“
„Und die Frauen und vor allem, deren Väter haben da mitgespielt? Da gab’s keine Aufstände?!“
„Die Priester waren gottgleich. Man verärgert keinen Gott. Wahrscheinlich arbeitete man mit Drogen um die Frauen leichter gefügig zu machen. Schließlich war das damals nicht viel anders als heute. Die beiden schlimmsten Dinge die einem Mann passieren können, sind ein warmes Bier oder eine trockene Frau.“
Jochen lachte über seinen eigenen Witz. Mir war allerdings nicht zum Lachen zumute.
„Die daraus entstandenen Kinder blieben in der Obhut der Mutter. Die wurde kurz darauf verheiratet. Natürlich zwangsweise. Die Kinder nannten jemanden Vater, der mit ihrer Zeugung nichts zu tun hatte. Vielleicht war unter diesen „Vätern“ sogar der ein oder andere, der nie erfahren hat, was man mit einer Frau alles machen kann. Außer sie für sich kochen zu lassen, mein ich.“
„Könntest du wieder auf die Ritter Lokis zurückkommen?“ Wieso musste jeder, dem ich einfache Fragen stellte, gleich so weit ausholen?
„Schon gut. Die Ritter Lokis veranstalten einmal im Jahr etwas Ähnliches. Dabei können die ganzen alten Säcke sich in ihrem Tempel mit einer oder mehreren jungen Frauen vergnügen.
Auch hierbei handelt es sich um eine organisierte Massenvergewaltigung.“
„Wenn ihr das alles wisst, wieso unternehmt ihr nichts gegen diese Typen?“
„Alles nur Hörensagen. Wenn’s konkret werden soll findest du niemanden der gegen die Ritter Lokis aussagt. Weder die Frauen, noch irgendwelche Mitglieder oder Mitwisser. Mit Geld und Macht kann man sehr viel vertuschen. In Sachen Gewalt kennen die sich auch aus. Wie im alten Rom. Zuckerbrot und Peitsche. Ihr Opferritual ist noch heftiger.
Dem Opfer wird Met, also Honigwein eingetrichtert, bis es Knülle ist. Dann wird die arme Sau von vier Männern zu einer Esche getragen. Es sind immer vier. Denn vier Männer bedeuten acht Beine. Das steht symbolisch für Sleipnir, das achtbeinige Pferd Odins und ein Kind von Loki. An der Esche wird er gehängt. Eine Esche wie Yggdrasil. Die germanische immergrüne Weltenesche. Doch der Hammer ist das, was danach folgt.
Dem Opfer wird ein Speer in die Seite gestochen. Nichts Tödliches. Man lässt ihn neun Tage und Nächte da hängen, während zwei Raben an ihm picken. Das überlebt niemand.“
Ich war kurz in Versuchung Jochen nach der Bedeutung der beiden Raben zu fragen. Aber ich hatte bereits jetzt genug von jeder germanischen Mythologie. Außerdem musste ich wieder an Adrian denken. Zu sehr wollte ich das Thema deshalb nicht vertiefen.
„Hast du auch was Konkretes für mich? Namen? Organisation? Orte?“
„Du bist ja furchtbar ungeduldig. Wo ihre Tempel sind weis ich nicht. Ich weis lediglich, dass zur Wachmannschaft jedes Tempels zwei Wolfshunde gehören. Die heissen überall gleich, nämlich: Geri, der Gierige und Freki, der Gefräßige. Wie die Hunde Odins. Aber ich kenne die beiden führenden Köpfe der Ritter Lokis. Der dritte Name den ich kannte, war Heinrich von Haglund. Schon mal gehört?“
„Mehr als einmal.“
„Naja. Er lebt nicht mehr. Die anderen beiden dürften den Laden jetzt kontrollieren.“
Jochen schlürfte an seinem Kaffee. Er wollte es offensichtlich spannend machen.
„Die Namen!“ drängte ich.
„Der eine heisst Alfons Krasser. Sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Loge ein Konkurrent von Heinrich von Haglund. Der andere…“
Wieder machte er eine theatralische Pause, aß ein Stück Kuchen und trank von seinem Kaffee. Am liebsten wäre ich über den Tisch gesprungen.

Endlich fuhr er fort:
„Den Namen hast du bestimmt noch nie gehört. Der Kerl ist so zurückhaltend und vorsichtig, das selbst ich eine halbe Ewigkeit gebraucht habe, um ihn auch nur zu hören. Außer dem Namen weis ich so gut wie nichts von ihm.“
Das war zuviel für mich.
„Der Name!“ brüllte ich.
Sämtliche Gäste des „Cafe Grün“ drehten sich zu uns um. Nachdem sich die Situation wieder beruhigt hatte, sagte Jochen:
„Herrmann von Haglund, Heinrichs Bruder.“
Ich legte genug Geld auf den Tisch um Kaffe, Kuchen und die Infos von Jochen zu bezahlen und ging ohne große Worte.
Mit der Nennung eines einzigen Namens hatte ich die Gewissheit erlangt, dass meine Theorie richtig war.



Im „Cafe Grün“ war ich vorher schon gewesen. Daher wusste ich jetzt wieder wo ich war.
Von dort aus war es nicht weit bis zu Enzos WG.
Obwohl er gestern erst gesagt hatte, er wolle mich vorerst nicht sehen, hoffte ich, dass er sich mittlerweile beruhigt hätte. Außerdem konnte es nicht schaden, wenn noch jemand von meinem Treffen mit Jens Mälzer wusste. Ich traute es diesem Bild des Elends zwar nicht zu, aber ganz ausschließen konnte ich nicht, dass Mälzer mir eine Falle stellen würde.

In Enzos WG lief Daniel im Flur auf und ab, während er Cosma schaukelte.
Daniel begrüßte mich mit: „Was hast du mit deinem Auge gemacht?“
„Halb so schlimm.“ wiegelte ich ab.
Aus der Küche hörte ich Franks Stimme, gefolgt von einem vielstimmigen „Oh!“ aus mehreren Männerkehlen.
Ich zeigte auf die Küchentür am Ende des Flurs und fragte Daniel:
„Bei euch ist ja immer was los. Was ist es diesmal?“
„Dr. Sex doziert wieder.“
„Was heisst das?“
„Geh hin und hör’s dir an. Ich muss zugeben, man kann echt was lernen. Auf dem Gebiet kennt er sich aus. Allerdings auch nur auf dem Gebiet.“

Ich ging zur Küche. Dort stand Frank auf dem Küchentisch und sprach zu einem Dutzend junger Männer. Die Jungs saßen zur Hälfte auf den Küchenstühlen und der Eckbank und zur anderen Hälfte auf dem Boden. Alle schauten zu Frank auf und lauschten ihm ehrfürchtig. Einige hatten Schreibblöcke vor sich liegen.
Mein erster Gedanke war, das ist Jesus mit seinen Jüngern beim letzten Abendmahl.

Ich blieb mit Horatio an der Küchentür. Wir setzten uns beide auf den Boden und hörten die Worte des Erlösers. Horatio blickte tatsächlich mit gespitzten Ohren zu Frank auf. Als könnte er jedes Wort verstehen.

Frank sprach begeistert und begeisternd. Alles lechzte nach seiner Weisheit.
„Kommen wir zu einem der faszinierendsten Kapitel der weiblichen Sexualität. Die Gräfenberg-Zone. Oder einfach, der G-Punkt.
Wo ist er? Wie funktioniert er? Was kann es bewirken, wenn man ihn stimuliert?
Ihr findet ihn, wenn ihr mit dem Finger, vorzugsweise dem mittleren, in die Vagina fahrt und Richtung Bauchdecke entlang tastet. Nach rd. 5 cm kommt ihr zu einer abgeflachten Halbkugel mit einer Vertiefung in der Mitte. Das Gewebe dort fühlt sich etwas gerippt oder hart an. Das ist er.“

Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die keinen Zweifel zuließ. Eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte in wenigen Worten erklärt. Man hätte meinen können, dass er das täglich am lebenden Objekt ausprobiert. Und, da es sich um Frank handelte, war das wahrscheinlich sogar so.
„Was fangt ihr, nun da ihr ihn gefunden habt, damit an? Zunächst, Reibung bringt in der Regel nichts. Am besten arbeitet ihr mit einem gleichmäßigen Druck. Wobei ihr natürlich euer wichtigstes Übungsobjekt nicht aus den Augen, bzw. dem Mund, verlieren dürft: den Kitzler oder die Klitoris. Wie immer ihr es nennt. Wenn ihr das gut macht, werdet ihr mit der Erfahrung der weiblichen Ejakulation, pulsierenden Luststößen und multiplen Orgasmen belohnt.“
Die Jungs ließen wieder ihr ehrfürchtiges „Oh.“ hören, welches ich vorher schon im Flur gehört hatte. Bei manchen füllten sich die Augen sogar mit Tränen erwartungsvollen Glücks.

Frank ließ seine Worte kurz im Raum stehen und genoss die Reaktionen seiner „Jünger“.
Mein erster Eindruck, es handele sich um eine Art letztes Abendmahl, war falsch. Es war vielmehr die Bergpredigt. Der Messias sprach zum einfachen Volk.
Frank redete weiter:
„Frauen können sehr, sehr Dankbar sein, wenn ihr sie richtig behandelt. Aber beschwert euch nicht bei mir, falls ihr nass werdet, oder euch euer Vermieter wegen den anhaltenden Lustschreien aufs Dach steigt.“
Lachen unter dem jungen Zuhörerkreis.
„Soviel zur guten Nachricht. Jetzt muss ich eure Euphorie wieder etwas bremsen.
Erstens: Ihr werdet den G-Punkt nicht bei jeder Frau finden.
Zweitens: Selbst wenn ihr ihn findet, nicht jede Frau reagiert gleich. Was die einen unglaublich erregt, empfinden die anderen als unangenehm. Vielleicht spüren sie auch gar nichts. Frauen sind in Sachen Erregbarkeit äußerst unterschiedlich.
Drittens: Was an einem Tag funktioniert, muss am nächsten Tag nicht unbedingt genauso klappen. Jungs, wir wissen alle, wir funktionieren einfach und mechanisch. Bei uns kann eine Frau nicht allzu viel falsch machen. Kennt sie einen, kennt sie alle. Bei Frauen sieht das gaaanz anders aus. Fruchtbarkeitsphase, Tagesform, Atmosphäre, Erfahrungen und genetische Veranlagung spielen bei der Frau eine weitaus größere Rolle als bei uns.
Deshalb, nehmt euch meine drei wichtigsten Regeln zu Herzen.
Erstens: Üben!
Zweitens: Üben!
Drittens: Noch mehr üben!
Mit diesem Ratschlag entlass ich euch für heute.“
Die Jungs saßen noch einen Moment da und blickten zu Frank auf. Offenbar hofften sie, dass es doch noch nicht vorbei ist. Dann begann einer von ihnen zu klatschen und die anderen taten es ihm nach, bevor sich die Gruppe auflöste. Ich fragte mich, ob Horatio mit den neuen Erkenntnissen auch etwas anfangen konnte.
Nachdem der letzte Anhänger von Dr. Sex gegangen war, kam Frank auf mich zu.
„Hör zu Marc, die heutige Lektion war kostenlos. Aber wenn du öfter zu meinen Vorträgen auftauschst, zahlst du dieselben 50 € pro halber Stunde, wie jeder andere auch.“
„Klar. Eigentlich wollte ich aber zu Enzo. Weist du wo er ist?“
„Das ist keine gute Idee. Der ist zurzeit nicht gut auf dich zu sprechen.“
„Ich weis. Kannst du mir trotzdem sagen wo er ist?“
„So genau weis ich das selbst nicht. Er hat was gefaselt von wegen: Adrians Tod rächen. Oder so ähnlich. Ich hab ihm nicht wirklich zugehört.“
„Man merkt, dass ihr verheiratet seid.“
Ich verabschiedete mich und verließ mit Horatio die WG.
Zwar machte ich mir um Enzo Sorgen, doch das musste jetzt warten. Zuerst stand mein Treffen mit Jens Mälzer auf dem Plan.



Im Moltkepark war nicht mehr viel los. Die Sonne war schon am untergehen und die meisten Besucher waren bereits auf dem Nachhauseweg. Horatio war das egal. Er tollte durch die Gegend wie ein Welpe. Ich musste ihm wirklich mehr Auslauf verschaffen.
Die Grillhütte lag in einer kleinen, von Bäumen umgebenen Mulde im Park. Horatio schnupperte in Sichtweite an einigen Büschen, als ich versuchte die Tür zu öffnen.
Sie war verschlossen.
Ich ging um die Hütte herum. Sämtliche Fensterläden waren zu. Man konnte nirgends einen Blick hinein erhaschen. Vielleicht wollte mich Jens Mälzer vor der Hütte treffen.
Gerade hatte ich die Hütte halb umrundet, als ich hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Schnellen Schritts ging ich zum Eingang zurück. Die Tür war jetzt einen Spalt breit geöffnet. Jedoch war es im Innern stockfinster.
„Jens?!“ rief ich.
Keine Antwort.
Ich schob die Tür ganz auf. Die Sonne warf nur noch einige letzte rötlich Strahlen in die Hütte. Man konnte lediglich einen schemenhaften Schatten erkennen, der an einem der Holztische saß.
„Jens?“ fragte ich noch mal, während ich die Hütte betrat. Als ich erkannte, dass der Mann nicht auf einer der Holzbänke saß, sondern in einem Rollstuhl, war klar, dies war eine Falle. Ich drehte mich um, lief gegen die Brust von Shakespeare und wurde von ihm per Faustschlag ins Reich der Träume geschickt.




Ich erwachte in meinem schlimmsten Albtraum. Gefesselt, auf einem Stuhl sitzend, blickte ich auf die kleine Holzbühne mit dem Altar der Ritter Lokis und die Esche. Die beiden Raben hockten auf den Ästen und schauten mit ihren tiefschwarzen Augen auf mich herab. Adrians lebloser Körper hing dort noch immer. Seine leeren Augenhöhlen trieben mir Schauer über den Rücken. Um mich herum war alles dunkel. Lediglich der Altar, die Esche, deren nähere Umgebung und ein kurzes Stück um meinen Stuhl wurden von einigen Kerzen erleuchtet.

Der Rollstuhlfahrer kam vor meinen Stuhl gefahren und schaute mich durch die Schlitze seiner Holzmaske an.
„Guten Abend Herr Siebert.“ hörte ich seine Stimme hinter der Maske.

Ich bemühte mich, meine Angst zu unterdrücken und meinte mit gespielter Lockerheit:
„Hallo Herr Heinrich von Haglund. Wo ist mein Horatio?“
Heinrich von Haglund nahm seine Maske ab. „Sehr gut. Sie sind hartnäckig und intelligent. Unter anderen Umständen, hätten Sie in meiner Loge Karriere machen können. Ihrem Hund geht es gut. Er ist bei den anderen Hunden im Zwinger.“
Ich erinnerte mich an das, was mir Jochen gesagt hatte. „Bei Geri und Freki?“
Von Haglund schien ehrlich beeindruckt. „Sie wissen viel. Vergessen wir mal Ihren Hund. Was hat mich genau verraten? Woher wissen Sie wer ich bin?“
„Sie sollten lieber fragen wer, nicht was Sie verraten hat. Dass ich Rudolf Kippler ausgefragt habe, wissen Sie ja bereits. Hat er Ihnen auch gesagt, dass er in unserem Gespräch versehentlich von Herrmann von Haglund, statt von Ihnen gesprochen hat?“
„Rudolf ist mein ältester und treuester Mitarbeiter. Da kann ich einen Versprecher von ihm verschmerzen. Wie viel wissen Sie?“
„Sagen Sie mir, wenn ich mich irre. Sie wollten Ihren Bruder Herrmann loswerden. Ich weis nicht warum, vielleicht waren Sie nur scharf auf seinen Posten als Großmeister. Doch wie sollten Sie ihn töten, ohne sich den Groll Ihrer Logenbrüder zuzuziehen? Also ließen Sie ihn verschwinden, um seinen Platz einzunehmen. Auf geniale Weise, wie ich zugebe. Als Sie Ihren Sturz vom Pferd hatten, waren Sie zwar verletzt, aber nicht lebensgefährlich. Deshalb der Rollstuhl. Für Sie eine günstige Gelegenheit. Sie ließen Ihren Bruder zu sich kommen. Bei Ihnen hat er dann etwas getrunken, oder gegessen, was vorher von Jens Mälzer vergiftet worden war. Oder hat Mälzer ihm direkt eine Spritze gegeben? Deshalb ist Mälzer seit dieser Nacht so fertig. Sein schlechtes Gewissen quält ihn. Der Geist Ihres Bruders macht ihn fertig.“

Heinrich von Haglund lachte. „Sie sind wirklich gut. Herrmann war mein Zwillingsbruder. Das Gift war in seinem Tee. Er starb sehr langsam und qualvoll. Ich genoss es ihn leiden zu sehen. Mein Tod wurde verkündet und mein Bruder an meiner statt beerdigt. Allerdings liegen Sie mit meinem Motiv nur teilweise Richtig.“
Ich tat gelassen. „Ganz so falsch kann ich nicht gelegen haben. Immerhin sind Sie jetzt Großmeister. Muss doch ein erhebendes Gefühl sein?“
Statt Heinrich von Haglund antwortete eine andere Stimme.
„Wir mussten Herrmann töten.“

Alfons Krasser trat neben mir aus dem Schatten in den Kerzenschein.

Haglund meldete sich wieder: „Haben wir Sie nun endlich überrascht?“
Tatsächlich, so richtig konnte ich mir darauf keinen Reim machen. Ich musste raten und meinte:
„Nein, nicht sonderlich. Aber verraten Sie mir doch, was Herrmann mit dem Tod Ihrer Frau Karla zu tun hatte und wie er Sie und Krasser zu Feinden machte.“
Von Haglund sagte: „Da schau an. Der Mann weis doch nicht alles. Nun, das war so…“

Weiter kam er nicht. Jens Mälzer stieß lallend zu unserer kleinen Runde hinzu.
„Ihr Schweine!“ rief er. „Nimmt das denn nie ein Ende?!“
„Jens, geh heim und schlaf dich aus.“ versuchte Heinrich von Haglund die Situation zu entschärfen.
„Ja Jens.“ meldete sich Krasser. „Wir regeln das schon. Mach dir keine Gedanken.“
Krasser nahm Mälzer am Arm und wollte ihn wegführen. Erst jetzt bemerkte ich, dass Mälzer etwas in der Hand hielt. Es war eine Spritze mit einer klaren Flüssigkeit. Er stach Krasser in die Hand, mit der dieser ihn am Arm festhielt und drückte ihm den Inhalt der Spritze in die Blutbahn.
Krasser starrte Mälzer erst überrascht, dann panisch an. Wenige Momente später brach Alfons Krasser tot zusammen.
Mälzer fing an zu weinen. Schluchzend sagte er: „Ich habe den hippokratischen Eid abgelegt. Ich soll Leben bewahren und es nicht nehmen. Warum zwingt man mich zu so was?!“
Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob er das zu sich, oder zu von Haglund gesagt hat.

Aber auch Heinrich von Haglund hatte Krassers Tod mitgenommen. Nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte, schimpfte er:
„Jens! Du jämmerlicher Idiot! Wenn ich vorher gewusst hätte, was du für ein Weichei bist, hätte ich mir jemand anderen für diese Aufgabe gesucht. Es ist echt kein Wunder, das sich Karin quer durch die Stadt bumst. Du Schlaffi solltest dir einen sprechenden Wackeldackel mit deinem Gesicht machen lassen, der immer wieder sagt: Ich hab noch nie ne Frau befriedigt. Ich hab noch nie ne Frau befriedigt. Ich hab noch nie ne Frau befriedigt.“
Jens Mälzer stürmte schreiend auf den Rollstuhlfahrer zu. Er war fast bei ihm, als er von zwei Schüssen niedergestreckt wurde. Die Schüsse hallten in dem großen Raum wieder und verstärkten damit ihre Wirkung. Nicht ihre Wirkung auf Jens Mälzers Körper, wohl aber die auf meine Psyche.
Von Haglund saß, mit meiner Pistole in der Hand, da, und sah dabei zu, wie sich Mälzers Blut auf dem Boden der Lagerhalle ausbreitete.
„Ich hätte es früher wissen müssen. Der Junge war nicht hart genug fürs wahre Leben.“

Irgendwie musste ich Zeit schinden. Ich hatte genug klischeehafte Agentenfilme gesehen, um zu wissen: Lass den verrückten Bösewicht erstmal seine Pläne ausbreiten und seine Geschichte erzählen, dann wirst du schon durch irgendeinen irrwitzigen Zufall gerettet.

In mir konkurrierten zwei Gefühle miteinander, nämlich Angst und Panik. Ich räusperte mich. Bemüht, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, versuchte ich Heinrich von Haglund wieder zum Reden zu bewegen.
„Bevor wir unterbrochen wurden, wollten Sie mir sagen, was es mit dem Tod Ihrer Frau auf sich hat und wie Ihr Bruder es geschafft hat, einen Keil zwischen Sie und Alfons Krasser zu treiben?“
Von Haglund blickte traurig auf Krassers Leiche. Dann fragte er matt:
„Wozu wollen Sie das jetzt noch wissen? Sie werden es ohnehin niemandem mehr erzählen können.“
„Zum einen, kann es Ihnen dann doch egal sein. Zum anderen, fühlen Sie sich vielleicht besser, wenn Sie es sich von der Seele geredet haben.“
„Spielen Sie in ihren letzten Minuten noch den Psychologen?“
„Kommen Sie, lassen Sie mich nicht dumm sterben. Sie haben doch nichts zu verlieren.“
Der alte von Haglund wiegte meine Pistole in seiner Hand. Scheinbar war er nicht sicher, ob er es gleich zu Ende bringen, oder ob er mir vorher noch die Lösung dieses Rätsels verraten sollte.

Langsam und mit viel Trübsinn in der Stimme fing er an:
„Karla war eine wunderbare Frau. Sie war schön, intelligent, anmutig und strahlte eine große Stärke aus.“
Wenigstens wusste ich jetzt, woher Marina das hatte. Die Beschreibung seiner Frau konnte man zu hundert Prozent auf seine Tochter übertragen.
„Als ich sie vor 30 Jahren erstmals sah, war sie eine blutjunge Frau. Obwohl sie so jung war, war sie sehr reif für ihr Alter. Sie zeigte zu keinem Zeitpunkt Schwäche.“

Bei dieser Formulierung schwante mir etwas. Zwar lief ich Gefahr, sofort eine Kugel in den Kopf zu bekommen, aber meine Neugier war stärker als meine Angst. Neugier ist eine wichtige Eigenschaft, wenn du Detektiv bist und Informationen deine Waren sind.
„Sie war eins Ihrer Vergewaltigungsopfer bei Ihren Fruchtbarkeitsritualen. Stimmt’s?“
Haglund starrte mich voller Hass an. Grimmig meinte er:
„Sie war alles andere als ein Opfer! Sie war eine Auserwählte vor den Augen Lokis!“
Ja, so kann man es auch nennen. Doch ich war klug genug, diesen Gedanken nicht offen auszusprechen. Leider war ich nicht immer so schlau.
„Jedenfalls verliebte ich mich an jenem Abend in Karla. Doch nicht nur ich erkannte, was für eine wunderbare Frau sie war. Auch Alfons verliebte sich. Am Ende entschied sich Karla für mich. Alfons war mein bester Freund. Zwar war es hart für ihn, aber er schluckte seine Eifersucht. Bis vor 17 Jahren waren wir beide fast wie Brüder.“
„Was war mit ihrem richtigen Bruder?“
Von Haglund machte schon wieder Anstalten meine eigene Waffe auf mich zu richten.
Ich glaube, er hätte seinen Bruder am liebsten noch mal umgebracht.

Doch der alte Mann beruhigte sich und erzählte mir auch diese Geschichte.
„Mein Bruder wurde vor etwas über 20 Jahren Großmeister. Einige Jahre später wollten ich und Alfons ihn absetzen. Herrmann schien weich zu werden. Er wollte unsere Fruchtbarkeitsrituale abschaffen. Sanfter mit unseren Gegnern umgehen. Und sogar die Esche abholzen. Doch ich und Alfons irrten uns gewaltig. Herrmann war alles andere als weich. Wir hatten kaum damit angefangen Stimmen gegen Herrmann zu sammeln, als Karla bei einem Autounfall starb.“
Haglunds Augen wurden feucht. Ich dachte an Joachim Mahlberg und fragte:
„War es wirklich ein Unfall?“
„Natürlich nicht. Herrmann hat sie umgebracht. Doch dieser intrigante Dreckskerl hat es geschafft mir einzureden, dass es Alfons war. Alfons wiederum machte er glauben, dass ich Karla getötet hatte.“
„Das erklärt, weshalb Sie und Krasser verfeindet waren. Aber wie kam es zu der Versöhnung?“
„Rudolf Kippler, mein Stallchef. Er hat vor einigen Monaten herausgefunden, dass mein Bruder der wahre Mörder meiner Frau war.“
„Wie hat er das rausfinden können?“

Von Haglund schüttelte den Kopf, richtete meine Pistole auf mich und sagte:
„Schluss mit der Fragestunde. Für Sie wird es Zeit zu gehen.“
Ich schloss die Augen und hörte einen lauten Knall. Danach, nichts. Ich fühlte nichts. Konnte es sein, dass der alte Mann auf diese kurze Entfernung nicht getroffen hatte?
Ich öffnete die Augen und sah an mir herab. Keine Wunde!
Dann blickte ich zu Heinrich von Haglund rüber. Entsetzt starrte dieser auf einen Punkt hinter meinem Stuhl und ließ die Pistole fallen. Ich war derart gut gefesselt, dass ich nicht sehen konnte, wer oder was ihn so erschreckte. Schlimmer als meine Aussicht auf die Esche, mit den Raben und dem armen Adrian, konnte es eigentlich nicht sein.

Ich hörte den klackernden Schritt von Damenschuhen gepaart mit einer Frauenstimme.
„Hallo Papa!“
Marina kam in mein Sichtfeld gelaufen und hielt meinen gestohlenen Revolver noch immer auf ihren Vater gerichtet.
Erst jetzt bemerkte ich, dass Heinrich von Haglund aus einer Wunde in der Brust blutete.
„Warum?“ fragte Heinrich mit letzter Kraft.
„Du hast meine Mutter vergewaltigt. Herrmann hat mir in seinen letzten Minuten die Augen geöffnet. Bin ich überhaupt deine Tochter? Es könnte doch jeder deiner Logenbrüder gewesen sein.“
Von Haglund kam nicht mehr dazu, zu antworten, sondern fiel kraftlos aus seinem Rollstuhl.

Zunächst herrschte atemlose Stille. Marina beugte sich zu ihrem toten Vater hinunter und gab ihm weinend einen Abschiedskuss auf die Stirn.
Dann wandte sie sich mir zu. Für einen kurzen Moment glaubte ich, sie würde mich auch erschießen. Stattdessen band sie mich von dem Stuhl los und sagte: „Es tut mir leid.“
„Das hilft mir wenig.“ tat ich beleidigt. „Jens Mälzer wurde mit meiner Pistole und dein Vater mit meinem Revolver erschossen. Kannst du mir verraten, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskomme?“ Obwohl ich das möglichst missbilligend sagte, hatte ich ihr bereits jetzt verziehen.
„Ich werde die Schuld auf mich nehmen.“ Unglaublich, Marina von Haglund, die Verlegerin von Schnulzenbücher erster Güte, entpuppte sich als mein „weißer Ritter“.
Ich umarmte sie und erwiderte: „Schon gut. Irgendwie werde ich es auch so schaffen. Du brauchst das nicht für mich zu tun.“
Sie küsste mich. Und meinte lächelnd: „Nachdem ich dir den Revolver gestohlen habe, um dir den Mord an meinem Vater in die Schuhe zu schieben, willst du trotzdem für mich den Kopf hinhalten?“

Wir standen in dieser schaurigen Umgebung zusammen. Um uns, die Leichen von Alfons Krasser, Jens Mälzer und Heinrich von Haglund. An der Esche immer noch Adrian, mit seinen leeren Augenhöhlen und den Raben als Zuschauer unserer Zweisamkeit.
Während wir uns wie zwei verliebte Teenager gegenseitig anhimmelten, hörte ich ein langsames monotones Händeklatschen, dessen Echo durch das Lager hallte.

„Ist das nicht ein schönes Paar?“ Rudolf Kippler trat aus den Schatten, wobei er nach wie vor in die Hände klatschte.
„Wie lange sind Sie schon hier?“ erkundigte ich mich.
„Von Anfang an. Hätte ich gewusst, dass die Show so spannend wird, hätte ich mir eine Couch aufgestellt und Popcorn mitgebracht.“
„Was willst du Rudolf?“ fragte Marina gereizt.
„So griesgrämig? Hast du schon vergessen, was ich alles für dich getan habe? Ohne mich würdest du immer noch deinen Vater vergöttern. Ich hab dich an Herrmanns Bett geholt, als er im Sterben lag. Er hat dir doch alles erzählt, oder?“
Marina blickte auf ihren toten Vater. Kippler erwartete keine Antwort.
„Natürlich hat er das. Du weißt, dass Herrmann deine Mutter nicht getötet hat. Heinrich war es. Er hat sie in den Selbstmord getrieben. Wahrscheinlich wusste er es sogar, aber er redete sich selbst ein, dass Alfons ihr Mörder war. Herrmann nutzte die Situation damals aus, um Heinrich und Alfons auseinander zu bringen. Durch Karlas Tod konnte er seine Feinde gegeneinander ausspielen und an der Macht bleiben.“

Jetzt sah ich klarer. Doch eine Frage blieb. „Weshalb haben Sie Heinrich vor einigen Monaten erzählt, dass sein Bruder der Mörder seiner Frau sei?“
Kippler grinste. „Jahrelang war ich Heinrichs Stallchef. Ich war ihm immer treu. Nie hat er es mir gedankt. In der Loge war ich der Laufbursche für die beiden von Haglunds. Ich hatte es satt. Ich wollte vorankommen. Herrmann und Heinrich waren beide großartige Meister in der Manipulation von Menschen. Doch keiner der beiden rechnete damit, dass ich ein so gelehriger Schüler war. Zuerst erzählte ich Heinrich, sein Bruder hätte Klara umgebracht. Heinrich tötete Herrmann. Oder besser, er ließ ihn von Jens Mälzer töten. Ein Problem war damit gelöst. Jetzt musste ich nur noch Heinrich erledigen. Doch wem den Mord anhängen? Ich kam auf Marina. Also ließ ich Marina an Herrmanns Sterbebett. Herrmann nutzte die Chance um Marina alles zu erzählen. Lass mich raten Marina, dein Bild von deinem lieben, netten Vater hat da einige Risse bekommen.“

Marina wischte sich die Tränen aus den Augen und meinte:
„Du hast mich nur benutzt um meinen Vater nicht selbst töten zu müssen? Du Schwein! Warum sollte ich dich nicht einfach auch erschießen?“
Marina zielte mit meinem Revolver auf Rudolf Kipplers Stirn. Allerdings grinste dieser nur.
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.“
Hinter Kippler löste sich eine weitere Gestalt aus den Schatten. Es war Shakespeare.

Shakespeare richtete eine Pistole auf Marina und tat kund: „Willkommen, in der Tragödie letztem Akt.“
„Was wollen Sie jetzt tun?“ fragte ich Kippler. „Wollen Sie uns töten?“
„Nein. Es gab schon genug Tote. Aber Marina wird die Schuld für diese Morde auf sich nehmen müssen. Zumindest die Schuld für die Morde an Heinrich und unserem Freund hier.“ Dabei zeigte er auf mich und ergänzte entschuldigend „Entschuldigung. Sie wissen zuviel.“
„Warum sollte ich die Schuld auf mich nehmen?“ wollte Marina wissen. „Es stünde Aussage gegen Aussage.“
„Arme, naive Marina.“ Krasser erinnerte mich mit seinem Hochmut an Bumm Bumm. „Du denkst immer noch zu klein. Dein Vater hatte mehr als einen Feind. Männer!“
Auf sein Zeichen, traten rd. zwei dutzend Männer in roten Kapuzenmänteln ins Licht.

Marina nahm den Revolver runter. Shakespeare tat es ihr gleich.
Meine letzte Stunde schien geschlagen zu haben.

Da hörte man von Draußen Sirenen und sah Blaulicht durch die Fenster scheinen.
„Wer hat denn die gerufen?“ fragte Kippler erstaunt.
„Ich!“ kam es von oben. An dem zerbrochenen Oberlicht, das von Panzer eingeschlagen worden war, tauchte Enzos Kopf auf. „Ich dachte, du könntest Hilfe brauchen.“
„Danke!“ rief ich.
Der immer noch baffe Kippler meinte: „Gnadenfrist für Sie, Herr Siebert.“
Er und seine Logenbrüder verschwanden in der Dunkelheit und setzten sich ab.
Zurück blieben ich, Marina und Shakespeare.

„Was ist mit dir? Willst du nicht auch gehen?“ wandte ich mich an Shakespeare.
„Nein. Ich habe nichts zu fürchten. Ich habe auf niemanden geschossen und die Waffen gehören auch nicht mir. Außerdem will ich die Finale Szene mit den beiden Liebenden nicht verpassen.“
Seufzend wandte ich mich Marina zu. „Für uns heisst es wohl Abschied nehmen.“
Marina küsste mich und meinte: „Wir werden uns einige Zeit nicht sehen. Hast du mir vorher noch etwas zu sagen?“
Das war schwierig. Was sagt man einer Frau die einen liebt und die für einige Jahre wegen Mordes ins Gefängnis muss? Ich sagte so ziemlich das dümmste, was ein Mann in einer solchen Situation sagen kann.
„Du schuldest mir eine Million Euro.“

Marina war völlig perplex und fragte schockiert: „Was?!“
Obwohl ich meinen Fehler jetzt bemerkte, vertiefte ich meine Grube noch.
„Du hast deinen Vater erschossen. Mit meinem Revolver. Weil er deine Mutter vergewaltigt und in den Selbstmord getrieben hat. Wer. Wie. Warum. Alle Fragen die ich für dich lösen sollte, habe ich gelöst. Ich habe meinen Teil des Vertrags erfüllt.“
Marina schaute zunächst betrübt zu Boden. Dann lächelte sie. Dieses bezaubernde Lächeln werde ich nie vergessen. Es war wunderschön und doch war es für mich ein furchtbarer Stich ins Herz. Sie sah mich an und sagte mild:
„Klar. Ich dachte mir schon, dass du nicht in der Lage bist deine Gefühle offen auszusprechen. Keine Angst, du bekommst dein Geld.“
Sie streichelte mir ein letztes Mal die Wange und sah mir in die Augen, bevor sie sich mit einem leicht wippenden Schritt entfernte. Ihr Schreiten Richtung Eingangstor, war das anmutigste, was ich je gesehen habe. Bei diesem Anblick kam ich mir noch dümmer und schäbiger vor als vorher.
„Ich hab’s verbockt.“ sagte ich zu mir.
„Allerdings. Das hast du. Die lieben nicht, die ihre eigne Lieb nicht zeigen. Das du sie liebst ist offensichtlich. Die Augen sind der Liebe Tür.“
Shakespeare. Den hatte ich ganz vergessen.
„Sag nur, du hättest es besser gemacht.“
„Auf jeden Fall. Eine solche Frau lässt man nicht einfach so gehen. Das eben war Casablanca für Arme. Aber bevor du dir Hoffnungen machst, dass wird sicherlich nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Ich wurde wütend. Er hatte zwar Recht, aber ich wollte mich nicht von einem dummen Türsteher belehren lassen.
„Wenn du so schlau bist, was hättest du ihr gesagt?“
„Wie wär’s damit:
Zweifle, an der Sonne Klarheit
Zweifle, an der Sterne Licht
Zweifel, ob lügen kann die Wahrheit
Nur an meiner Liebe nicht.“
Touche, Schachmatt und das Schlachtschiff versenkt.
Er hatte es mir tatsächlich gezeigt.
„Romeo und Julia?“ erkundigte ich mich kleinlaut.
„Hamlet. Großer Gott. Du verstehst nichts von Frauen. Du hast keine Ahnung von Kultur, nennst deinen Hund aber Horatio. Du hast deinen Fall nicht wirklich gelöst, sondern dich treiben lassen. Was letztlich dazu geführt hat, dass du, an einen Stuhl gefesselt, hier aufgewacht bist. Und nach deinem Auge zu schließen, bist du auch kein besonders guter Kämpfer. Wenn du mich fragst, Fortuna ist eine Hure und in deinem Bett ist sie Dauergast.“



Zwei Wochen später

Jetzt war ich also reich. Ich saß in meinem Büro und machte mir Gedanken darüber, was ich nun mit meinem Leben anfangen sollte.
Eines war bereits zu diesem Zeitpunkt klar. Meine drei amerikanischen Freunde würden für immer Teil meines Lebens sein.
Ich holte eine Flasche Johnny aus der Schublade, steckte mir eine billige Zigarre an und legte die Füße auf den Tisch.
Wie sollte es weitergehen? Ich hatte jetzt das Geld um all meine Träume wahr zu machen. Nur, was waren meine Träume?
Ich war mal wieder in meinen Überlegungen festgefahren.

Plötzlich steckte jemand den Kopf zu meinem Büro herein.
„Carl?“ fragte ich ungläubig.
„Yamman, Yamman!“ schallte es zurück.
Er kam rein. Ihm folgten Anne, die begeistert „Gummibärchen!“ rief, und Michael.
Michael sagte anerkennend „Wow! Eine Widerstandszelle mitten in einem kapitalistischen Tempel!“
„Freut mich euch zu sehn!“ sagte ich und meinte es auch so. „Wo ist Nuwanda?“
Alle drei schauten betrübt zu Boden.
Dann meinte Michael „Er ist verschwunden. Wir glauben, das ihn die Faschisten gefangen haben.“
Ich seufzte. Nicht aus Sorge um Nuwanda, oder weil ich nicht genau wusste, was ich von dieser Kiffergruppe halten sollte. Ich seufzte vor Erleichterung.
Nun wusste ich, wie es weitergeht. Ich hatte einen neuen Fall!
 
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