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16 Seiten

Dunkler Ort

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Da sitz ich nun. Vor mir zwei Scheiben Vollkorntoast die darauf warten von mir mit Butter bestrichen zu werden.
Ich tauche mein Messer in die Butter und halte kurz inne.
Mein Blick wandert zur Decke, wo eine nackte Glühbirne einsam hin und her baumelt. Dafür, dass es hier so zugig ist, ist die Drecksbude definitiv zu teuer.
Naja. Ich konzentrier mich wieder auf die Butter und streife sie nach kurzer Überlegung wieder ab. Dieses billige Milchprodukt ist schon wieder 0,10 € teurer geworden.
Scheisse! Wozu bekommen die Milchbauern eigentlich ihre Subventionen?
Während ich meine Zähne in den trockenen, butterlosen Toast schlage, überlege ich, ob ich vielleicht meine Ernährung umstellen sollte.
Mein Mund füllt sich mit Krümeln und ich frage mich nach den Alternativen.
Dank meinem Speichel wird der butterlose Toast nach einigem Kauen sogar richtig genießbar.
Die geniale neue Idee für meine Ernährung erscheint mir, angesichts dessen, dass der Toast auch ohne Butter schmeckt, gleich viel weniger genial.
Da mir aber doch etwas an einer ausgewogenen Ernährung liegt, oder zumindest liegen sollte, denke ich weiter über meine erdachte Alternative nach.
Gut, Müsli ist nicht unbedingt die beste Nahrungsergänzung zu Vollkorntoast, aber es ist kostengünstig.
Ich überschlage im Kopf die Kosten für Milch in der Woche, rechne sie auf den Monat hoch und komme auf eine Jahressumme die eindeutig meinen Etat sprengt.
Verdammt! War zumindest eine Überlegung wert.
Die beiden heutigen Toastscheiben sind gegessen. Ich stehe auf, gehe zur Spüle, schnappe mir das ungespülte Glas das dort noch steht, halte es unter den Hahn, drehe diesen auf und sehe zu wie das leicht bräunliche Wasser das Glas füllt.
Ich klopfe mir vor meinem inneren Auge selbst auf die Schulter, das ich damals die verrosteten Leitungen nicht als Ablehnungsgrund für die Wohnungsübernahme gesehen habe.
Bei meiner mineralstoffarmen Ernährung kann etwas Rost im Wasser wohl kaum Schaden.

Nachdem ich den Hahn wieder zugedreht und das Glas in einem Zug geleert habe, kommt mir eine Idee wie ich meinen Wasserverbrauch senken und dabei sogar die Sache mit dem Müsli neu beleben kann.
Unter der Spüle hole ich den Eimer hervor, der noch aus einer Zeit stammte, als ich mir sowohl Bodenreiniger, als auch das nötige Wasser leisten konnte.
Damals konnte ich mich sogar ab und an mal dazu überwinden den Boden tatsächlich zu wischen.
Kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Als stamme die Erinnerung daran aus frühesten Kindheitstagen.
Aber mit so einem sentimentalen Schwachsinn kann ich mich jetzt nicht beschäftigen.
Ich habe einen Plan und bin bereit ihn zu verwirklichen.

Ich betrete mit dem Eimer in der Hand den Hausflur und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Vor dem Aufzug wartet eine Nachbarin. Dass ich sie nicht grüße versteht sich von selbst. Außerdem werfe ich ihr einen verächtlichen Blick zu, während ich an ihr vorbei ins Treppenhaus gehe. Dafür ernte ich ein angewidertes Naserümpfen. Das dürfte meinem Aussehen und Geruch geschuldet sein.
Sorry, nicht jeder kann sich Shampoo und Duschgel leisten.
Was fällt der Schlampe ein den Aufzug zu benutzen und damit die Betriebskosten fürs ganze Haus in die Höhe zu treibe? Denke ich mir, als ich die acht Stockwerke nach unten laufe.
Ich gehe weiter bis zum Keller und nehme Kurs auf die gemeinsame Waschküche.
In der Waschmaschine drehen einige Hawaii-Hemden fröhlich ihre Runden.
Ich schaue ihnen einen Moment lang zu. Dann schalte ich die Maschine ab, schiebe sie etwas vor, drehe das Wasser ab, entferne den Schlauch, halte den Eimer darunter und lasse ihn mit Wasser voll laufen.
Nachdem der Eimer gefüllt ist, versetze ich die Maschine wieder in ihren Ur-Zustand.
Der Kerl mit den Hawaii-Hemden dürfte sich zwar wundern weshalb seine Hemden noch voller Waschmittel sind, aber ansonsten ist es das perfekte Verbrechen. Wenn ich das demnächst öfter mache und sich die Beschwerden über die alte Maschine häufen, lässt der alte Geizkragen von Vermieter vielleicht ja eine neue springen.
So gesehen tue ich sogar gutes!
Beseelt von diesem Gedanken beginne ich den Wiederaufstieg zu meiner Wohnung.
Das war eine Superidee! Vielleicht die beste die ich je hatte. Es gibt schließlich kein Gesetz das besagt, dass man Müsli nur mit Milch essen darf.
Mit dem vollen Eimer ist das Treppensteigen schwerer als ich erwartet habe. Aber das ist die Sache wert. Außerdem bin ich ja noch von den beiden Toastbrotscheiben gestärkt.
Einen kurzen Moment überlege ich ernsthaft, ob ich auf diese Weise genug Wasser zusammenbekomme um mich mal wieder zu waschen. Ich verwerfe den Gedanken aber wieder, als mir einfällt, dass ich das Wasser in der Waschküche anteilsmäßig mitbezahlen muss.

Wieder in meiner Wohnung stelle ich den Eimer in die Spüle und schöpfe mir ein weiteres Glas Wasser. Bei dem Preis schmeckt das Wasser gleich doppelt gut.
Das Glas noch in der Hand, schaue ich mich in meiner kärglichen Wohnung um.
Mein Blick bleibt auf der Butter hängen. Ich bereue das Brot trocken gegessen zu haben. Zwar glaube ich nach wie vor, dass es richtig war den Kühlschrank zu verkaufen, aber wir haben Sommer und die Butter dürfte spätestens in drei Tagen ranzig sein.
Ich werde sie deshalb in den nächsten zwei Wochen aufbrauchen.

Beflügelt von meinem genialen Gedanken mit dem Wasser, überlege ich, wo ich noch sparen könnte.
Viel ist nicht mehr in meiner Wohnung. Das einzige Regal besteht aus Backsteinen und Brettern. Das „Bett“ ist ein Sprungrahmen der ebenfalls auf Backsteinen steht. Darauf liegt eine alte Matratze ohne Laken.
Hoffentlich wird der Winter nicht zu kalt, so ohne Decke.
Da fällt mir ein, wozu brauche ich einen Sprungrahmen? Die Matratze allein reicht doch auch!
Mal sehen was ich für den Sprungrahmen bekommen kann.

Ich trinke noch den letzen Schluck Wasser, stelle das Glas ab und beschließe mich bettfein zu machen. Was allerdings lediglich heisst, dass ich die Schuhe, die Hose und den Pullover ausziehe.
Nachdem ich das Licht ausgeschaltet habe, lasse ich mich auf die Matratze fallen und schlafe überraschend schnell ein.

Es ist dunkel. Sehr dunkel! Sehr, sehr dunkel!!
Ich kann die Finsternis fast greifen.
Doch was ist das?
In der Ferne sehe ich ein schwaches Licht.
Langsam gehe ich darauf zu. Vorsichtig, um in der Dunkelheit nicht zu fallen.
Bald merke ich, es gibt keine Hindernisse in meinem Weg. Deshalb wird aus meinem vorsichtigen Vortasten ein strammes Gehen.
Ich nähere mich der Quelle immer noch viel zu langsam. Quälend langsam.
Doch ich beginne Konturen zu erahnen. Ich glaube, gleich erkenne ich die Ursache dieses Lichts.
Nur noch ein wenig weiter.

Poch! Poch! Poch!

Neiiiiiiiin!!!!!

Ich sitze aufrecht in meinem Bett und Schreie meine ganze Enttäuschung und Wut heraus. Fast hätte ich es gesehen. Welche Sau hat mich da so rüde geweckt?!?
„Herr Martin! Machen Sie auf! Ich weis das Sie da sind!!“
Verdammt! Keller, der Hausverwalter!
Warum können es nicht die Zeugen Jehovas sein? Oder eine Hilfsorganisation die für Krebskranke Kinder sammelt?
Irgendjemand den man straffrei anschreien und beleidigen kann!
Obwohl ich am liebsten etwas Schönes kaputtmachen würde, setze ich ein strahlendes Lächeln auf (gelbe Zähne hin oder her).
Ich kontrolliere ob in meinen Boxershorts alles dort sitzt wo es hingehört und rücke mein Schießer-Doppelripp Unterhemd zurecht. Immerhin dürfte es das teuerste Kleidungsstück in meinem Sortiment sein. Nicht das die Auswahl groß wäre.
Mein einziger Kleiderhaken ist mein Körper und einen Schrank besitze ich nicht mehr.
Ich spucke mir noch mal kräftig in die Hände und fahre mir feucht durch die Haare, bevor ich dem dicken, übellaunigen Hausmeister die Tür öffne.
Gerade will ich zu einem „Schön Sie zu sehen!“ ansetzen, als mir schon die Worte „Sie asozialer Mistkerl!“ entgegengeschleudert werden.
„Sie haben seit drei Monaten keine Miete mehr bezahlt! Die anderen Mieter beschweren sich über Ihren Geruch und das Sie oft schreien.“
Schreien? Vielleicht ist das der Punkt an dem ich mir über meinen Geisteszustand Gedanken machen sollte.
Keller fährt fort „Und Ihr Briefkasten quillt über. Werbeprospekte, Rechnungen, Porno-Versandtkataloge.“
Hat der Kerl noch nie was vom Brief- und Postgeheimnis gehört?
Doch seine Miene ändert sich schlagartig. Er wirkt plötzlich verständnisvoll und mitfühlend.
„Sehen Sie Herr Martin, Sie waren mal so ein beliebter Mieter.“
Ah, das wird so eine „guter Bulle, böser Bulle“ Sache. Das eben war die Peitsche, jetzt kommt das Zuckerbrot.
„Es gab nie Beschwerden über Sie. Die Miete kam pünktlich. Die Leute mochten Sie.
Ich mochte Sie.“
Wo bleibt der finale Hammer?
„Aber…“
Da kommt er!
„…wenn wir nicht bis Ende des Monats sämtliche ausstehenden Mieten haben, setzen wir Sie an die Luft!“ Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet ins Treppenhaus.
Während ich die Tür schließe frage ich mich, ob es klug oder feige war zu keinem Zeitpunkt etwas zu erwidern.
Vielleicht sollte ich die Miete zahlen.
Oder bin ich schon an dem Punkt mich mit der Obdachlosigkeit abzufinden? Immerhin ist in knapp fünf Monaten Weihnachten und ich könnte mich bei sämtlichen Hilfsorganisationen durchschnorren.
Andererseits, was würde dann aus meiner eben erst erschlossenen Wasserquelle?
Ich werde in den sauren Apfel beissen und zumindest zwei Monatsmieten von meinem letzten Geld bezahlen. Allein schon um in einem Monat wieder Kellers „guter Bulle, böser Bulle“-Nummer zu bestaunen. Damit bewege ich mich aber wieder einen großen Schritt auf den Abgrund zu.

Da ich nun eh wach bin und es Mittag ist (Zumindest scheint die Sonne. Eine Uhr habe ich nicht mehr.), beschließe ich Bestandsaufnahme zu machen.
Das mache ich in letzter Zeit öfters und finde erstaunlicherweise immer etwas, was noch raus kann.
Dass der Sprungrahmen weg kann war ja schon beschlossen. Die Backsteine darunter dann logischerweise auch.
Mein „Regal“ (drei Bretter auf Backsteinen) brauch ich ebenfalls nicht mehr.
Darauf steht nur noch die alte Schmuckschatulle meiner Großmutter. Davon konnte ich mich irgendwie noch nicht trennen.
Und ein gerahmtes Bild von mir und Inge. Das hat sie mir mal zum Geburtstag geschenkt.
Ich hab es nur stehen lassen um meinem Hang zur Selbstzerstörung zu frönen.
Früher dachte ich bei ihrem Lächeln immer an einen Engel. Ich konnte sie mir stundenlang nur ansehen, einfach weil es mich glücklich machte sie zu sehen.
Heute seh ich mir das Bild immer noch oft an. Allerdings mit anderen Gefühlen. Es deprimiert mich sie zu sehen. Ihr Lächeln wirkt auf mich nur noch höhnisch und nicht mehr im Geringsten lieblich.
Obwohl, derzeit ist es in etwa so schwer mich in eine depressive Stimmung zu versetzen, wie Fische aus nem Fass zu angeln.

Mit dem Bild ist die Bestandsaufnahme in meinem Zimmer schon abgeschlossen.

Ich kann kaum mehr glauben mit wie viel Blödsinn das Zimmer früher überladen war.
Couch mit passendem Tisch, Schränke, kleiner Esstisch, Stühle, Fernseher, ein echtes Bett, Computer, Jalousien an den Fenstern und vieles mehr.
Es heisst, erst wenn man etwas verliert erkennt man dessen wahren Wert. Das stimmt.
Den Wert all dieser Sachen sehe ich erst jetzt. Er liegt irgendwo zwischen null und nicht vorhanden. Das gilt im Wesentlichen auch für Inge.

Ich gehe drei Schritte weiter in die Küche. Man sieht zwar die Lücken die der Kühlschrank, die Regale, der Ofen und die Küchenschränke hinterlassen haben, die Küche sieht jedoch, mit der Spüle, dem kleinen Tisch und dem Stuhl, noch wesentlich voller aus als mein Wohn-/Schlafzimmer.
Neben dem Eimer der noch auf der Spüle steht, liegt mein restlicher Besitz auf dem Tisch. Da wären je ein Teller, Messer, Löffel, eine Gabel, die angebrochene Butter und der restliche Toast.

Nun weis ich wo ich stehe.

Nach kurzer Überlegung ist es beschlossen. Ich werde auch die alte Schmuckschatulle meiner Großmutter verkaufen und das gerahmte Bild von mir und Inge wandert von dem unnützen Regal auf den Tisch in der Küche.

Es wird Zeit Rudi anzurufen. Rudi kauft grundsätzlich alles. Er ist das, was man im Internet-Auktionshausjargon einen Powerseller nennt. Vereinfacht könnte man aber auch sagen, dass er ein krankhafter Raffzahn ist und zwanghaft versucht aus Scheisse Gold zu machen.
Als ich ihn kennen lernte meinte er zu mir „Wenn du mal was hast, was, sagen wir, vom LKW hinten runter gefallen ist, meld dich bei mir.“
Ich fragte „Du bist ein Hehler?“.
Worauf er antwortete „Hehler ist so ein hartes Wort. Und so negativ belastet. Ich bevorzuge Produktverteilungsmanager.“.

Jemanden anzurufen kann auch in der heutigen Zeit schwierig sein. So ohne Telefon.
Ich hab zwar einen Trick, aber der kostet mich jedes Mal Überwindung.

Ich gehe also nach nebenan und klingele bei Frau Börno. Frau Börno ist 92 Jahre alt und eine der wenigen Personen, nein, die einzige Person im Haus, die sich über meinen Besuch freut.
Das liegt aber hauptsächlich daran, dass ich ihr einziger Besuch bin. Außerdem sieht sie schlecht und ihre Wohnung stinkt derart nach Katzenpisse, dass mein Eigengeruch das Geruchsniveau der Wohnung eindeutig anhebt.
Wie immer freut sich Frau Börno mich zu sehen. Unsere Unterhaltung, oder vielmehr ihr Monolog, zu dem ich lächelnd nicke, beginnt wie immer.
„Wissen Sie, ich bekomme so selten Besuch seit mein Mann tot ist.“
Es dauerte einige Zeit bevor ich dahinter kam, dass ihr Mann in Stalingrad gefallen war.
Seitdem ergeht sich die Frau in Selbstmitleid, ohne jemanden der ihren Schmerz teilt. Außer ihren fünf Katzen. Und mir natürlich.

Ich scheuche eine schwarze Katze von der alten Polstercouch mit Blümchenmuster und setze mich. Die Katze faucht kurz bevor sie aus dem Zimmer verschwindet.
Ich trinke höflich den Zitronentee (oh lieber Gott, bitte lass es nur Zitronentee sein!).
Die Glastasse ist wohl zum letzten mal gespült worden, als ihr Mann noch am Leben war.
Doch ich will nicht urteilen. Wer im Glashaus sitzt usw..
Frau Börno kann mich nicht mehr schocken. Bei meinem zweiten Besuch hat sie das bereits so gründlich getan, das kann man nicht mehr steigern.

Damals habe ich den Fehler gemacht ihre Toilette zu benutzen. Ich wollte bei mir das Wasser sparen. Die Toilette war weniger das Problem. Aber auf dem Weg dorthin musste ich an der offenen Schlafzimmertür vorbei. Auf ihrem Nachttisch stand eine Elektrozahnbürste. Ich dachte, na ja, die Frau ist senil und hat ihre Zahnbürste aus Verwirrtheit dort abgestellt. Doch im Bad sah ich ein Reinigungsset für Gebisse. Mir fiel ein, dass Frau Börno seit über 50 Jahren keinen Mann hatte. Auch wenn ich einer über 90jährigen kaum noch eine große Libido zutraue, war mir schlagartig klar wozu sie eine elektrische Zahnbürste im Schlafzimmer stehen hat. Damals übergab ich mich in Frau Börnos Klo, entschuldigte mich, ging in meine Wohnung und warf meine eigene elektrische Zahnbürste aus dem Fenster.
Nie wieder Zähneputzen!!!

Nun sitz ich wieder hier und höre zum x-ten mal die Geschichten über ihre Kindheit in Pommern und das Zusammenleben mit ihrem Mann.
Ich frage mich, ob sie auch nach dem Krieg noch etwas interessantes erlebt hat.
Die Antwort lautet wohl nein.
Das heisst, nicht ganz.
Ein paar Jahre nach der Wende rief die deutsche Kriegsgräberführsorge bei ihr an. Man habe die vernachlässigten Gräber einiger Soldaten entdeckt, darunter auch das ihres Mannes.
Schon komisch. Es scheint, als wäre dies das einzige Ereignis der letzten Jahrzehnte bei dem sich die Frau lebendig gefühlt hat. Eine Russlandreise inbegriffen.
Wie auch immer. Ich frage Frau Börno ob ich mal telefonieren dürfte, mein eigenes Telefon sei kaputt.
Wie jedes Mal sagt sie ja. Sie fragt nie „Immer noch?“ oder „Schon wieder?“. Entweder weis sie es nicht mehr, oder meine Besuche sind ihr wichtiger als die Befriedigung ihrer Neugier.

Ich rufe Rudi an. Er wirkt beschäftigt und will mich abwimmeln. Auch er hat gemerkt, dass es mit mir bergab geht. Vor allem daran, dass meine „Waren“ immer billigerer Schrott wurden.
Doch als ich Omas Schmuckschatulle erwähne ist er plötzlich hellwach.
Das macht mich misstrauisch. Deswegen lass ich mir von ihm einen Preis dafür nennen und verdoppele diesen sofort. Wir verhandeln kurz und einigen uns auf einen Preis weit über seinem Erstgebot.
Als ich auflege habe ich zwar mal wieder das Gefühl beschissen worden zu sein, aber es ist mir mittlerweile egal.
Er kommt heute noch vorbei und holt die Sprungrahmen, die Backsteine, die Bretter und die Schatulle.
Ich bedanke mich bei Frau Börno und ziehe mich wieder in meine eigene Wohnung zurück.

Die Geschichten von Frau Börno und die Verhandlung mit Rudi haben mich ermüdet.
Ich werfe mich auf mein Bett. Zum letzten mal mit Sprungrahmen, denke ich etwas wehmütig. Wieder schlafe ich schnell ein.

Diesmal ist es nicht nur finster, es ist auch ziemlich kühl. Vielleicht war es das auch bei den vorherigen Malen, nur ist es mir damals nie aufgefallen.
Ich suche angestrengt nach dem Licht, kann es allerdings nirgends finden.
Während ich mich umsehe vergeht einige Zeit. Ich fange an zu frieren.
Wo bist du Licht?
Ich beginne zu laufen. Obwohl ich das Licht nicht sehen kann. Um mich warm zu halten. Um mich zu beschäftigen.
Ich laufe schon eine ganze Weile, ohne das es gegen die Kälte helfen würde, die mir langsam unter die Haut kriecht.
Doch da, ein schwacher Schimmer. Ich renne darauf zu und er kommt näher. Etwas schneller als beim letzten Mal.
Es wird wärmer. Ich spüre es.
Wieder kann ich Konturen erkennen. Das Licht scheint aus einem senkrechten Rechteck zu kommen.
Ich komme näher. Gleich kann ich es aus der Nähe sehen!

Poch! Poch!
Nöt! Nöt!
Poch! Poch! Poch!

Waaaaaaaaaaaah!!!!!
Hausverwalter oder nicht, diesmal gibt’s Kollateralschäden!
Ich stürme zur Tür, reisse sie auf und verpasse dem mich erst fragend, dann panisch ansehenden Rudi mit Links einen kräftigen Leberhaken.
Er klappt zusammen.
Nach kurzem Zögern helfe ich ihm auf und setze ihn auf meinen letzten verbliebenen Stuhl in der Küche.
Er wirkt todunglücklich und tut mir jetzt aufrichtig leid. Er konnte wohl kaum wissen, dass ich kurz davor stand den Traum zu lösen, der mich seit Wochen verfolgt.
Ich setze gerade zu einer Entschuldigung an, als er sagt „Da du es offenbar schon weist, verdoppele ich den Preis für das Schmuckkästchen.“.
Hat er also wieder versucht mich über den Tisch zu ziehen!
Eben hatte ich noch Mitleid. Jetzt habe ich Stimmungsschwankungen. Meine Stimmung schwankt zwischen Wut, Zorn und Hass!
Ich packe ihn am Kragen und er schreit „OK, OK! Der dreifache Preis!“.
Ich halte ihn immer noch gepackt. Doch seine vor Angst geweideten Augen überzeugen mich. Diesmal ist der Preis fair.
Ich lasse ihn los und das Geld wechselt den Besitzer.
Er bringt zunächst die Schatulle, die Backsteine und die Bretter zu seinem Van, bevor wir gemeinsam den Sprungrahmen nach unten schaffen.

Vor dem Aufzug fragt Rudi „Sag mal Mark, es geht mich zwar nix an, aber glaubst du nicht, dass du ein wenig zu minimalistisch lebst?“.
Ich funkele ihn finster an und sage trocken „Du hast Recht. Es geht dich nix an!“
Er hält sich die Leber und ist still.

Im Aufzug treffen wir Frau Koch.
Frau Koch ist eine alte Frau von der besonders geschwätzigen Sorte. Sie hat einen schwarzen Pudel mit dem sie 20 Stunden am Tag Gassi geht. Wobei sie die meiste Zeit im Hausflur steht oder mit den Aufzügen hoch und runter fährt um „zufällig“ mit jemandem ein Gespräch anzufangen, welches so schnell nicht wieder endet.
„Na Herr Martin, kommen noch mehr alte Möbel raus?“
„Ja Frau Koch. Ihnen entgeht aber auch nichts!“
„Was haben Sie sich denn schönes neues gekauft?“
„Haben Sie denn die Möbelpacker nicht gesehen? Frau Koch, Sie enttäuschen mich! Die haben die Woche schon dreimal neue Sachen gebracht.“
Rudi wirft mir einen fragenden Blick zu, den ich ihm ausnahmsweise durchgehen lasse.
Frau Koch ist sichtlich getroffen. Wie konnte ihr mein neuer Hausrat entgehen.
Spätestens in einer Woche ist daraus eine Geschichte geworden, in der es heissen wird, ich habe heimlich, bei Nacht und Nebel, Möbel für ein SM-Studio oder etwas ähnliches ins Haus geschafft.
Man muss die Phantasie dieser Frau einfach lieben.

Ich verstaue mit Rudi den Sprungrahmen in Rudis Kleinbus und verabschiede mich grußlos. Rudi hat meine Wohnung gesehen und wir wissen beide, dies war wohl unsere letzte Begegnung.
Ich gehe an dem freundlich lächelnden jungen Mann vorbei der mir die Tür aufhält und bekomme „Ein Danke wäre nett!“ hinterher gerufen, auf das ich mit dem Effenbergfinger antworte ohne mich umzudrehen.
Ich scheine besser drauf zu sein als ich mir selbst eingestehen will. An einem anderen Tag hätte ich ihm sein „Danke“ gegeben.
Das geht sogar so weit, dass ich mir eine weitere Aufzugsfahrt leiste.
Vor den Aufzügen wartet eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn.
Sie zeigt sich ebenso angewidert wie die meisten Menschen in meiner Umgebung.
Nur der Junge lächelt und strahlt mich an.
Ich bin ein wenig verstört über solch ehrliche Symphatie.
Der lächelnde Student von eben hatte nur eine gute Kinderstube und mir aus Pflichtgefühl die Tür aufgehalten. Nicht weil er es wirklich wollte. Ihm war mein Äußeres auch zuwider. Ich glaube, es war wirklich nur Pflichtgefühl, noch nicht mal Mitleid.
Aber dieser Knirps freut sich ganz offensichtlich riesig mich zu sehen.
Ich muss lachen. Zum ersten Mal seit langer Zeit muss ich aufrichtig lachen.
Den Kleinen hab ich offenbar angesteckt, denn er lacht mit mir. Währenddessen seine Mutter zunehmend unbehaglich dreinschaut.
Der Aufzug kommt. Ich beruhige mich ein wenig und steige ein. Der Junge will mir folgen, doch seine Mutter zieht ihn zurück und meint entschuldigend zu mir „Ich muss noch mal an den Briefkasten.“. Als wäre sie mir Rechenschaft schuldig.
Mir ist klar, dass sie einfach nicht mit mir im Aufzug fahren will. Ich beschließe aber, sie ein wenig zu quälen.
„Ich kann warten!“ sage ich breit grinsend.
„Nein, fahren Sie ruhig. Es kann sein das es etwas dauert.“
So leicht lass ich sie nicht vom Haken. Gutmenschen sollen gefälligst den Preis dafür zahlen die Moral auf ihrer Seite zu haben.
„Das macht mir nichts. Für Sie nehm ich mir gern die Zeit.“
„Äh,…“, sie wird langsam mürbe, „ich glaub ich habe noch was im Auto liegen lassen“.
„Ach wirklich?“
Das ist zu einfach!
„Soll ich Ihnen tragen helfen?“
„Nein!“ sagt sie eindeutig zu laut. Sie fängt sich und fügt leise hinzu „Nicht nötig. Es ist nicht schwer.“
Ich trete aus dem Aufzug, fasse den Jungen an der Hand und meine „Ich pass auf ihn auf bis sie zurück sind.“
Schachmatt! Die Panik in ihren Augen ist nicht zu übersehen.
Trotzdem bleibt sie höflich. Der Frau ist nicht mehr zu helfen.
Sie sagt „Wissen Sie was, ich fahre doch direkt mit.“ und schubst ihren Sohn von meiner Hand weg in den Aufzug.
Ich folge den beiden und drücke die 8.
Der Kleine will eine Nummer im Bereich oberhalb der 10 drücken. Doch seine Mutter zieht ihn mit einer Hand zurück und drückt mit der anderen die 2.
Ich kann mich dunkel daran erinnern, in meiner Prä-Penner-Ära schon mal mit ihr gefahren zu sein. Ich glaub sie wohnt im 12. Stock.
Zumindest ist sie clever. Doch nicht clever genug.
„Mama, warum hast du die zwei gedrückt?“
Ich grinse über das ganze Gesicht. Die Antwort interessiert mich auch.
Verunsichert sagt sie „Wir gehen eine Freundin besuchen.“
„Wen?“ will der Knirps wissen.
„Äh, Katja.“
„Die wohnt doch in der Schusterstraße.“ klärt mich mein neuer Lieblingsnachbar auf.
„Ich meine eine andere Katja!“
Wow! Sie belügt sogar ihr Kind, nur um mir nicht sagen zu müssen, dass sie den Aufzug nicht mit mir teilen möchte.
Der Junge scheint mit dieser Antwort zufrieden.
Wir sind im Zweiten. Der Junge sagt fröhlich, die Mutter gequält „Tschüss!“.
Schade. Ihre Erklärung, weshalb Katja nun doch nicht hier wohnt, hätte ich gerne gehört.

Ich steige im 8. Stock aus und erblicke Frau Koch mit ihrem Pudel, die sich mit meiner Nachbarin Frau Schmitz unterhält.
Frau Schmitz hat mich noch nie leiden können. Auch nicht, als es mit mir noch nicht bergab ging.
Das liegt wohl daran, dass sie niemanden leiden kann.
Auch mit Frau Koch unterhält sie sich nur, um auf dem Laufenden zu bleiben.
Beide funkeln mich böse an.
Meine Theorie, dass meine Geschichte mit den Möbelpackern zu einer Geschichte über den heimlichen Aufbau eines SM-Studios wird, diese Theorie scheint sich zu bewahrheiten.
Ich sehe förmlich, wie Frau Koch mit dem imaginären Zeigefinger auf mich weist und innerlich sagt „Der war’s!“.
Wegen der Aufzugsepisode bin ich noch gut gelaunt und ich sage fröhlich „Guten Tag die Damen! Sie sehen heute wieder wunderbar aus!“.
Die beiden tun ihr Bestes um mich zu ignorieren und vertiefen sich wieder flüsternd in ihr Gespräch.
Diese Reaktion hatte ich auch in etwa erwartet.

Wieder in meiner Wohnung, überkommt mich der Wunsch, mich einem meiner wenigen verbliebenen Steckenpferde zu widmen.
Es heisst, deprimiere den Mark. Also mich. Das ist nicht weiter schwer und es macht irgendwie Spaß.
Diesen Hang zur Selbstzerstörung habe ich erst vor kurzem entwickelt. Ich verstehe nicht weshalb er mir gut tut, doch es ist mir auch egal.
Ich setze mich also in die Küche vor das Bild mit Inge. Zum ersten Mal starre ich es auf seinem neuen Platz an.
Ich malträtiere mich selbst mit den Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit.

Vor etwas über einem Jahr hatte ich ihr, nach einem romantischen Abend, bei einem Mondscheinpicknick an einem Strand auf Ibiza, einen Heiratsantrag gemacht.
Sie hatte ihn mit Tränen der Rührung in den Augen angenommen. Unserem Glück schien nichts im Weg zu stehen.
Seitdem war viel geschehen.

Es war im Grunde das übliche. Wir waren schon einige Zeit zusammen. Bereits vor meinem Antrag hatte sich in der Beziehung der Alltag eingestellt. Obwohl wir uns immer noch liebten waren uns viele Eigenschaften des jeweils anderen nicht nur vertraut, sondern mittlerweile auch verhasst.
Nach einem weiteren Streit um irgendeine Nichtigkeit, hatte sie unsere Wohnung verlassen und die Nacht irgendwo anders verbracht.
Am nächsten Tag wollte ich mich morgens bei meinem besten Freund etwas ausweinen und fand dort sie.
Nun, er war mein bester Freund.
Jetzt war er mein bester Ex-Freund. Mit gebrochener Nase, gebrochenem Kiefer und zahlreichen Prellungen und Blutergüssen.
Danach war alles weitere Geschichte.
Ich fiel in ein tiefes Loch. Es floss viel Alkohol und oftmals flogen die Fäuste.
Deshalb verlor ich meinen Job.
Dadurch wurde das Loch noch tiefer. Es floss noch mehr Alkohol und noch öfter flogen die Fäuste.
Mittlerweile trinke ich allerdings nicht mehr. Einfach aus Kostengründen. Und die Gewaltausbrüche halten sich in letzter Zeit auch in Grenzen.
Das Loch ist aber immer noch da. Ich glaube, immer wenn ich kurz vorm Aufschlag auf dem Grund stehe, wird es einfach tiefer.
Ich löse meinen Blick wieder von dem Bild mit Inge und mir. Genug in Selbstmitleid geschwelgt.

Doch das Spiel „Deprimiere den Mark“, ist noch nicht vorbei.

Ich werde einen Spaziergang machen. Nicht nur die abschätzigen Blicke der Leute auf meinem Weg, auch die Dinge in den Schaufenstern, welche ich mir nie mehr leisten kann, werden mich in die depressive Stimmung versetzen, die ich in letzter Zeit so lieb gewonnen habe.

Diesmal gönne ich mir keine Fahrt mit dem Aufzug.
Kaum trete ich aus dem Haus, verstärkt sich meine depressive Stimmung. Es ist warm. Die Sonne scheint, steht aber schon recht weit im Westen. Vögel zwitschern. Ein junges Paar kommt eng umschlungen an mir vorbei.
Gott, wie mich diese fröhliche, heile Welt mittlerweile anwidert.

Ich gehe Richtung Innenstadt.

Mein Weg führt mich an schönen Frauen, verliebten Paaren und gefüllten Schaufenstern vorbei.

Es gibt nur eins, was mir jetzt noch den entscheidenden Kick geben kann und meine Depression perfekt macht. Ein Blick auf mein Konto.
Ich gehe zur Bank und schiebe meine EC-Karte in den Automaten. Dabei merke ich, wie meine Hand zittert. Wer hätte das gedacht? Selbst jetzt, wo ich eigentlich nix mehr zu verlieren habe, habe ich trotzdem noch Verlustängste.
Nachdem ich meine Geheimzahl eingetippt habe, sehe ich mir die Kontoübersicht an. Dort steht noch ein vierstelliger Betrag. Allerdings mit einem Minus davor.
Ich überweise zwei Monatsmieten. Damit habe ich noch 100 € übrig. Dann ist mein Kreditrahmen ausgeschöpft.
Ich hebe die restlichen 100 € ab.

Da steh ich nun und halte meine letzten 100 € in den Händen.
Was mache ich mit dem Geld? Ich streife weiter durch die Stadt. Vor einem kleinen Geschäft bleibe ich stehen. Es heisst Radio Bauer.
Im Schaufenster steht ein tragbares Radio mit CD-Spieler für 29,95 €. Vielleicht sollte ab heute die Musik wieder in mein Leben zurückkehren.
Also trage ich die 100 € in das Geschäft und komme, 50 € leichter und ein Radio und eine „Best of 70’s“ CD schwerer, wieder heraus.

Anschließend gebe ich noch 10 € in einem Schreibwarenladen aus und beschließe, das restliche Geld für ein richtig gutes Essen auszugeben.
Ich gehe zu „Da Marco“. Ein Edelitaliener mitten in der Stadt.
Am Empfang werde ich abgewiesen. Mein Geruch und mein Aussehen, kein Zweifel.
Doch zum Glück lebe ich in Deutschland und weis, welchen Knopf man drücken muss um Einlass zu erhalten.
Ich gehe zurück zu den Geschäften und finde paradoxer Weise ausgerechnet in einem türkischen Billigkramladen was ich suche.
Nun habe ich nur noch 30 € in der Tasche, dafür aber eine neue Kette samt Anhänger um den Hals hängen.
So ausgestattet, führt mich mein Weg wieder zu „Da Marco“.
Wieder will man mich abweisen. Doch diesmal ziehe ich mich nicht höflich zurück, sondern werde laut.
„Es ist weil ich Jude bin, hab ich Recht?!“
Dabei halte ich der jungen Frau am Empfang meinen neuen Anhänger, mit einem siebenarmigen Leuchter und einem Davidstern in der Mitte, vor die Augen.
Schwer zu glauben, aber ich war mal so ein netter Kerl. Ich war quasi Rapsblütenhonig auf zwei Beinen. Doch letztendlich sind wir alle nur ein Produkt unserer Umwelt.
Ich spiele weiter den Aufgebrachten. „Nichts hat sich geändert! Der Faschismus steckt immer noch in den Köpfen der Deutschen und Italiener! Dieses Restaurant ist nur ein weiterer Hort des Antisemitismus! Das kann ruhig jeder hören!“
Die letzten beiden Sätze sage ich besonders laut.
Sämtliche Gäste starren mich entsetzt an. Die Empfangsdame ist den Tränen nah und hat keine Ahnung was sie in dieser Situation tun soll.
Ich sehe Marco persönlich zu mir eilen. Wir kennen uns noch von früheren Besuchen. Als ich noch nicht auf dem Weg nach unten war. Doch die Gefahr, dass er mich erkennt, ist relativ gering. Rasieren fiel schon früh dem Sparzwang zum Opfer.
„Seniore! Bitte! Sie missverstehen!“ sagt er aufgeregt.
„Was gibt’s da zu missverstehen?! Sie wollen keine Juden in Ihrem Laden haben!“
„Seniore! Hier vorne ist unsere beste Tisch. Bitte nehmen Sie Platz. Seien Sie mein Gast. Ich lade Sie ein.“
Das es so gut läuft hätte selbst ich nicht gedacht. Ich lasse mir die Weinkarte bringen und suche mir einen möglichst teuren Rotwein aus.
Marco sagt höflich „Si Senior. Ein Glas Rotwein.“
Ich pfeife ihn zurück und gebe ihm zu verstehen, dass ich mit einem Glas nicht auskomme. Es muss schon eine Flasche sein.
Auch beim Essen vergesse ich meine übliche Sparsamkeit.
Ich bestelle nicht weniger als fünf Gänge und esse laut schmatzend.
Obwohl ich mir größte Mühe gebe um unangenehm und unbequem zu sein, werde ich von Marco zuvorkommend behandelt und Beschwerden anderer Gäste werden hartnäckig ignoriert.

Nachdem ich aufgegessen habe, lasse ich mir von Marco die Rechnung bringen. Marco betont mehrfach, das sei nicht nötig. Ich sei sein Gast. Doch ich bestehe darauf.
Die Rechnung kommt in einem ledernen Rechnungsheft. Ich werfe einen kurzen Blick auf die dreistellige Zahl, stecke einen 5-Euro Schein unter die Rechnung und verabschiede mich.

Von den 25 Euro die noch übrig sind kaufe ich mir ein Eis und werfe den Rest in den Hut eines schlafenden Obdachlosen. Inklusive des Geldes, welches ich von Rudolf bekommen habe. Das hatte ich völlig vergessen. Eine gute Tat im Monat. Das ist mein Motto.

Ich schleiche zurück zu meiner bescheidenen Hütte.

Das erste, was ich tue, nachdem ich wieder in meiner Wohnung bin, ich werfe das Bild von Inge und mir auf den Boden und trampele noch etwas auf dem bereits zerbrochenen Glas und Rahmen herum.
Dann setze ich mich an meinen Küchentisch und schreibe, was ich zu schreiben habe. Es ist weit weniger, als ich ursprünglich gedacht habe. Doch es wird reichen.
Ich stecke den Brief in den Umschlag, beschrifte diesen und gehe duschen.
Nachdem ich mich zum ersten mal seit einer halben Ewigkeit wieder gewaschen habe, gehe ich mit dem Brief, meinem neuen CD-Spieler und meiner Best of 70’s CD zu den Aufzügen.
Ich fahre hoch in den 20.Stock.
Dort betrete ich den Besucherbalkon. Ich klebe den Brief mit etwas Tesafilm an das Geländer,
suche mir auf dem CD-Spieler das richtige Lied und drücke „Repeat“.
Während ich über das Geländer gelehnt nach unten schaue, merke ich, wie klein und unbedeutend diese Welt und die Menschen auf ihr sind. Angesichts dieser Erkenntnis, werde ich geradezu euphorisch bei dem Gedanken, diese Welt verlassen zu können.
Ich trete zwei Schritte vom Geländer zurück und springe dann mit kleinem Anlauf über das Geländer hinweg.
Während ich falle und die Leere unter mir spüre, bin ich immer noch euphorisch. M.A.S.H. begleiten meinen Sturz mit „Suizide is painless“.

„This suizide is painless
It brings so many changes“

Ich muss kichern, als ich an den Brief denke. Auf dem Umschlag steht schlicht Abschiedsbrief. In dem Brief selbst steht nur ein Wort, „Ade“. Das Wort Abschiedsbrief ist fast 5-mal so lang, wie der Abschiedsbrief selbst.

„The game of live is hard to play,
You gonna loose it anyway”

Ich falle immer noch. Doch statt mein Leben ablaufen zu sehen, bin ich plötzlich wieder von Dunkelheit und Kälte umgeben.
Während ich versuche mich zu orientieren, wird es hinter mir hell und ich werfe einen Schatten vor mich.
Ich drehe mich um. Für einen kurzen Moment bin ich geblendet. Vor mir leuchtet eine Tür. Das Licht durchströmt sie. Vielleicht besteht sie auch aus Licht.
Ich gehe auf die Tür zu. Ohne jede Hast. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen will, was sich dahinter verbirgt. Doch meine Neugier überwiegt meine Angst. Davon mal abgesehen, wird mir wieder bewusst, dass ich gerade dabei bin 20 Stockwerke tief zu fallen. Wovor sollte ich jetzt noch Angst haben.
Ich erreiche die Tür. Sie scheint tatsächlich aus Licht zu bestehen. Mit meiner rechten Hand versuche ich die Tür zu ertasten, doch meine Hand greift ins Leere.
Zögernd trete ich direkt vor die Tür, so dass meine Nasenspitze die Wand aus Licht berührt. Ich atme noch einmal kräftig und trete durch das Licht.
Kurz zuvor war ich in Kälte und Dunkelheit gefangen. Jetzt umgibt mich Wärme und Licht. Nicht nur um mich, auch in mir verändert sich alles.
Plötzlich erkenne ich, all meine Probleme sind lösbar. Es hat lange gedauert, bevor sich die Menschen in meiner Umgebung von mir getrennt haben.
Ich kann mein Leben wieder aufbauen. Es ist so einfach.
Mein Herz ist jetzt erfüllt von Liebe. Ich muss diese Liebe nur mit anderen Menschen teilen, sie damit verdoppeln, verdreifachen, verhundertfachen.
Ich will wieder auf die Beine kommen. Ich will Menschen helfen. Ich will eine Familie gründen. Ich will leb…
 
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Kommentare  

Hallo Monk, du schilderst ja hier so Einiges, was wohl jeden Menschen fertig machen würde. Damit weist du ohne erhobenen Zeigefinger auf jene Leute hin, denen es wirklich sehr dreckig geht- aus welchem Grunde auch immer. Darum ist deine Aussage am Schluss dann umso interessanter. Toller Text darüber, dass man sich dennoch nicht so schnell unterkriegen lassen sollte.

Jochen (27.01.2010)

Hat mir gut gefallen. Damit prangerst du auch an, wie es ist, mit so wenig Geld auszukommen und keine Arbeit zu haben. Das hat deinen Protagonisten so fertig gemacht, dass er vergessen hatte, dass es noch etwas gibt, was man nicht kaufen kann und für das es sich zu leben lohnt, aber ....! Wirklich eine schöne, sehr lebendig geschriebene Geschichte.

Petra (26.01.2010)

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