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2 Seiten

Tati im Licht

Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise · Romantisches
© ThiloS
Ein Sommermorgen, etwa 8:30 Uhr. Die Morgensonne scheint durch die Panoramascheibe und wirft den Schatten des Fensterkreuzes auf den Boden.

Auf dem Boden, auf der Wolldecke, liegt ein blondes Mädchen, etwa 10 Jahre alt. Vor sich aufgeschlagen ein Buch über Pferde, sie hat die Hände wie eine Schale unter dem Kinn gefaltet und stützt sich mit den Ellbogen ab. Die Sonne lässt ihr blondes, leicht gewelltes Haar wie Gold strahlen, der kindliche Körper, stramm und makellos in Jeans und T-Shirt, strahlt die Kraft und die Freude einer Blume aus, die durch die Asphaltdecke eines Bürgersteigs bricht.

Keine Störung trübt dieses makellose Bild perfekter Kraft und Schönheit eines erwachenden Lebens, kein Gedanke besudelt dieses von Gott erdachte Gemälde eines glücklichen Kindes.

Ich sitze in meinem Sessel und schaue Tati beim Lesen zu. Schaue zu, wie sich ihr Brustkorb unter den kleinen, gleichmäßigen Atemzügen hebt und senkt. Schaue zu, wie sie da liegt, mit sich und der Welt im perfekten Gleichklang. Ich traue mich nicht, sie anzusprechen, will sie nicht ansprechen, will das Bild nicht stören, das mir zeigt, dass auch ich alles richtig gemacht habe.

Sie weiß es nicht, aber sie ist glücklich. Und weil sie glücklich ist, bin ich es auch. Durch sie lebe auch ich in diesem Moment und nur in diesem Moment. Und doch weiß ich, dass die Sonne weiterziehen wird, dass es Wolken geben wird, geben muss, die sie verdecken. Sie wird irgendwann aufstehen, ihr Buch nehmen und weiter in ihr Leben gehen, für eine kurze Zeitspanne noch mit mir, für die wesentlich längere Zeitspanne mit jemandem anders.

Sie wird das Buch irgendwann in die Ecke legen, dort vergessen, irgendwann dann wieder ausgraben und wegwerfen oder verschenken. Weil sie dann nicht mehr die Tati von 9 Jahren, sondern Frau S. sein wird. Eine Frau S., die auch die Wolken gesehen hat, die im Regen getanzt haben und vor dem Regen geflüchtet sein wird.

Ich würde so gerne die Wolken von ihr fernhalten, würde es ihr so sehr gönnen, dass die Sonne immer ihr Haupt wärmt, möchte diesen Moment einfrieren, konservieren und weiß doch, dass die wachsende Blume auch den Regen braucht, um zur vollen Blüte zu reifen.

Ich werde nicht immer für sie da sein können, werde sie nicht immer beschützen können, beschützen können vor den kleinen und großen Lügen, vor Stromrechnungen, Strafzetteln, testosterongeschwängerten Angebern und menschlichen Versagern. Tati wird durch den Regen gehen müssen, dann durch den Schnee und irgendwann werde auch ich für sie nur noch eine ferne Erinnerung sein, von denen sie ihren Enkeln erzählen wird, wenn das Pferdebuch längst vergessen ist und die Sonne ihr Haar in den letzten silbernen Glanz taucht.

Wir werden dann schon lange Abschied genommen haben, für immer und für einen Tag.

Aber jetzt gerade im Moment scheint die Sonne. Und Tati liest ihr Buch. Und alles ist gut.
 
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Kommentare  

Man sollte diese Geschichte den Viertklässlern ins Deutschbuch drucken!
In dem Alter beginnen sie nämlich ganz allmählich, das Leben auch aus anderer Menschen Sicht zu betrachten.
Es hat so ein Ziehen im Herzen ausgelöst bei mir, als ich das las. Mit zehn hätte mir diese Geschichte viel genützt. Ich war genauso wie Tati; hatte auch Pferdebücher und sprang dann irgendwann vom Boden auf und ging was anderes machen.
Wenn ich es mir recht überlege, habe ich beim Aufstehen im Augenwinkel bemerkt, dass meine Mutti mich damals so seltsam angeschaut hat.
Jetzt weiß ich was sie damals dachte.


Mondenschein (01.06.2009)

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