179


17 Seiten

Der alte Mann und die Finsternis - Textauszug Kapitel 1-4

Romane/Serien · Amüsantes/Satirisches
Vorwort

Ich möchte dieses Vorwort mit der Feststellung beginnen, dass mir Vorworte verhasst sind, da sie, neben der üblen Angewohnheit anderen zu huldigen,
allzu oft mit der Intention verknüpft sind, das Gesagte zu relativieren, oder dem Leser eine bestimmte Lesart mit auf den Weg zu geben. Aus eben diesen Gründen habe ich bisher noch nie ein Vorwort geschrieben und tue dies in diesem Fall auch einzig und alleine aus dem Grunde, dass ich mich als Autor vor übler Nachrede und persönlichen Angriffen gefeit wissen möchte.

Die Erzählung „Der alte Mann und die Finsternis“
ist reine Fiktion, der Charakter meines Protagonisten frei erfunden und falls es tatsächlich jemanden geben sollte, der sich in den Ausführungen dieser Figur wiedererkennt, so bemitleide ich ihn zutiefst.

Dennoch bleibt es mir wichtig zu erwähnen, dass die hier zur Schau gestellte Ideologie in keiner Weise meinen persönlichen Überzeugungen entspricht und, dass ich es von je her für falsch erachte, Autor und Werk in einen autobiographischen Bezug zueinander zu stellen. Es ist mir durchaus bewusst, dass meine Figur Konventionen verletzt, Tabus bricht, die, unabhängig von der künstlerischen Freiheit, gemeinhin in publizierten Schriften weder verletzt noch gebrochen werden. Ich habe allerdings versucht, mich im Schreibprozess von solchen Gedanken zu befreien.

Jegliche Form der Zensur, die ich meinem Protagonisten auferlegt hätte, hätte seinen Charakter verzerrt, und es ging mir darum, sein Wesen genau derart darzustellen, wie ich es erschaffen habe. Mir ist durchaus bewusst, dass sich unzählige Personengruppen, nahezu jeder Glaubens- und Leidensverband unserer Gesellschaft, an bestimmten Stellen angegriffen und gekränkt fühlen könnte und ich bitte dafür nicht um Verzeihung, aber um die Einsicht, dass dies Aussagen einer fiktionalen Figur sind.

Es ist nicht meine Finsternis, die zwischen den Zeilen dieser Erzählung schlummert, es ist die Finsternis meines Protagonisten, des alten Mannes.

Es ist seine Pietät. Es ist seine Finsternis.















-Prolog-

„Treten Sie ein“,

sagt er und ich bin einige Momente lang zu verblüfft, um seiner Aufforderung Folge zu leisten, da mich sein Aussehen überrascht, ja verstört, alles in sich zusammenfallen lässt, was ich mir an Vorstellungen über ihn gemacht habe. Zunächst ist es seine Kleidung, sein Äußeres, das mich irritiert, denn er trägt eine purpurfarbene Armeejacke, wie ich sie noch nie gesehen habe, mit dicken goldenen Knöpfen, die derartig funkeln, dass ich direkt an die Arbeit denken muss, die es machen würde sie zu polieren, denn wenn wir uns verstehen, wird dies eine meiner Aufgaben sein.

Ich überwinde meine Überraschung und folge ihm durch einen schmalen Korridor, links und rechts gesäumt von unzähligen Büchern, die übereinandergestapelt die Wände verkleiden und ein kleines Fenster zur Hälfte verdecken, durch das sonst genug Licht gefallen wäre, um den Gang ansatzweise zu beleuchten.

„Es ist ein wenig finster hier“,

sagt er, in eine andere Richtung, während ich ihm vorsichtig folge, vorsichtig, weil sich meine Augen noch nicht an das schummrige Licht gewöhnt haben, vorsichtig, weil mich eine unbestimmte Angst ergriffen hat, Angst über etwas zu stolpern, Angst mich zu verletzen.

„Ich mag es finster, es ist so gewollt“,

sagt er weiter und tritt durch eine knarrende alte Tür mit großem Glasfenster in einen anderen Raum.

„So folgen Sie doch“,

ruft er, während er um eine Ecke streicht und eine weitere Tür öffnet, so dass mir nur ein kurzer Moment bleibt, um den halbdunklen Raum zu betrachten, durch den wir hindurchgehen.

Ein Schreibtisch fällt mir auf und ein ausgestopfter Bär, der mit für die Ewigkeit erstarrtem Blick zornig in meine Richtung blickt. In der Mitte seiner Stirn klafft ein Einschussloch, das hässlich, mit gezackten Rändern, in das Fell gerissen ist und durch das gut und gerne meine geballte Faust gepasst hätte.

„Nun kommen Sie schon“,

ruft er, dabei habe ich ihn fast erreicht. Wieder biegt er ab und bleibt stehen, genau dort, wo die Tür ist, durch die ich hineingekommen bin. Wir sind im Kreis gelaufen.

„Und, wie gefällt Ihnen meine Wohnung“,

fragt er und weil mir nichts anderes einfällt, sage ich

„schön“,

was man eben sagt, wenn einen ein Fremder fragt, wie einem seine Wohnung gefällt.

„Ach“,

sagt er und es klingt drohend.
Und dann:

„Halten Sie mich für senil, geistesgestört, wahnsinnig? Meinen Sie, ich fresse meine eigene Scheiße, meinen Sie, ich bemerke es nicht, wenn ich verarscht werde, weil ich alt bin?“

„Nein“,

sage ich, mehr aus Reflex als aus Überzeugung.

„Mache ich Ihnen Angst?“,

fragt er weiter und ich lüge,
dass er mir keine Angst mache, während er sich mit fahrigen Bewegungen wirres weißes Haar von der schwitzenden Stirn streicht.

„Dann zeige ich Ihnen etwas“,

sagt er, auf einmal schelmisch, wie ein Schuljunge, der einen bösen Streich ausgeheckt hat.
Er wendet sich mir zu und lässt mit provozierend langsamen Bewegungen seine Uniformhose hinunter und präsentiert mir sein überaus kleines, von langen weißen Harren umblühtes, trauriges Geschlecht.

„Mache ich Ihnen jetzt Angst“,

fragt er leise, lauernd und auf einmal ist dort etwas Böses, etwas Finsteres in seiner Stimme, in seinen Augen.

„Nein“,

sage ich, während ich denke, dass ich ihn falsch eingeschätzt habe, dass er nicht das ist, was ich erwartet habe, dass er einfach wahnsinnig ist.

„Jetzt halte ich Sie für senil, geistesgestört und wahnsinnig“,

sage ich und schweige.
Auch er schweigt einen Moment, wirkt geradezu betroffen, traurig und ich falle auf seine Mimik herein, verziehe mein Gesicht selbst zu einem betroffenen, traurigen Ausdruck, bis er mir sein verächtliches Lachen erneut entgegenschleudert.

„Vielleicht haben Sie recht“,

sagt er dann und zieht die Hose wieder nach oben.

„Folgen Sie mir!“

Damit verschwindet er durch die Tür, in den Raum mit dem ausgestopften Bären, und ich stehe alleine im Flur, während in einem anderen Raum eine Wanduhr zu schlagen beginnt.

„Klong“, macht es, geheimnisvoll und böse und ich denke, dass ich jetzt gehen sollte, hinaus durch die andere Tür, nach draußen, in die Freiheit.
„Klong“, erklingt es wieder und ich merke, dass ich mich noch immer nicht entschieden habe, zwischen dem strahlenden Sommertag auf der Straße und dem bösen alten Mann zwischen Schatten und Bärenfell.
„Klong“, macht es und wieder denke ich, dass es böse klingt, dass dieser Flur böse ist, böse wie das Haus, wie die Finsternis, wie der alte Mann.
Dann aber – und irgendwie ahne ich, dass es eine schwerwiegende, eine unumkehrbare Entscheidung ist -
trete ich mit dem letzten Glockenschlag zu ihm hinein in den dunklen Raum.


*

Er sitzt ganz hinten, dort wo es am dunkelsten ist, an einem kleinen Tisch, an den nur zwei Stühle passen, an dem nur zwei Stühle stehen, einer wie ein Thron, aus Holz, mit edlen Schnitzereien verziert, der andere mehr ein Schemel, der zudem wacklig und zerbrechlich wirkt.
Vorsichtig lasse ich mich ihm gegenüber nieder und lausche auf das ächzende Geräusch, mit dem das Holz gut einen Zentimeter nachgibt.

„Sie sind also geblieben“,

sagt er und auf einmal ist seine Stimme klar und hart.

„Ja“,

sage ich, während ich denke, dass es doch offensichtlich ist, dass ich geblieben bin.

„Ich trage sehr viel Zorn in mir“,

sagt der alte Mann,

„doch es ist nicht nur Zorn, es ist auch eine tiefsitzende Trauer, aber auch Zorn, Zorn und Trauer, eher mehr Zorn als Trauer“,

sagt er und streicht sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren, wobei mir ein großer silberner Ring an seinem Finger auffällt.

„Hinzu kommt“,

setzt er seine Rede fort,

„dass ich sehr einsam bin, nicht aus dem Grunde heraus, dass die Menschen mich nicht mögen, sondern einzig und alleine aus dem Grund, dass ich sie alle hasse, diese verblendeten, traurigen Gestalten.
Was ich mir trotz allem wünsche, ist jemand, dem ich diesen Zorn und diese Trauer mitteilen kann, weil Zorn erkaltet, wenn er ohne Wände verhallt und weil Trauer Gewohnheit wird, wenn man sie nicht pflegt.
Ich suche einen Freund, aber es soll kein richtiger Freund sein, ich suche jemanden, den ich dafür bezahle, dass er mit mir spricht, verstehen Sie,
ich möchte mir einen Freund kaufen. Wollen Sie mein Freund sein?“

Ich schweige und mache ein angestrengtes Gesicht, so als würde ich darüber nachdenken, während ich denke, dass ich niemals sein Freund sein werde.

„Es ist eine einfache Aufgabe“,

sagt er,

„zugleich aber die denkbar schwerste Aufgabe, die es gibt. Ich zahle Ihnen ein durchschnittliches Monatsgehalt, jede Woche, und erwarte nichts dafür, außer, dass Sie hier bei mir an diesem kleinen Tisch sitzen und mir zuhören. Das ist alles.“,

sagt er,

„alles bis auf eine einzige, aber denkbar wichtige Bedingung: Sie dürfen mir nicht widersprechen, egal, was Sie denken, Sie dürfen mir nie widersprechen.
Verstehen Sie? Nehmen Sie hin, was ich sage, widersprechen Sie mir ja nicht, denn ich bin älter als Sie, ich bin verbitterter als Sie, meine Wahrheit ist wahrer als die Ihre. Wollen Sie mein Freund sein?“



1. Kapitel

Und der alte Mann sprach:

„Ich heiße P., aber wagen Sie es ja nicht, diesen Namen gegen mich zu verwenden. Doch was sind schon Namen. Ich will den Ihren nicht wissen. Es macht die Sache so persönlich. Ich werde „Sie“ sagen, so wie ich mein Leben lang zu allen Menschen „Sie“ gesagt habe.
Ich habe immer „Sie“ gesagt, wenn ich jemanden angeredet habe und warum sollte ich dies ändern, jetzt, wo ich alt bin, nur weil sich dort draußen alle verbrüdert und angefreundet haben und mit ihren Vornamen um sich werfen, so als wäre dies ein Geschenk. Wissen Sie, was Pietät bedeutet?“,

fragt er mich und antwortet dann selber:

„Pietät ist es, wenn man einem Toten ins Gesicht spuckt, oder seine Frau vögelt, ihre Kinder vögelt, oder deren Haustier, verstehen Sie, was ich meine, nein, unterbrechen Sie mich nicht, verstehen Sie, wie ich es meine, nicken Sie nur, oder schütteln Sie mit dem Kopf, nein, nicken Sie nicht, das ist meine Pietät, meine Pietät für die Welt dort draußen. Möchten Sie einen Kaffee? Ich möchte einen Kaffee!“

Damit springt er auf und verschwindet durch eine Tür, die mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war, direkt neben dem ausgestopften Bären, und ich fühle mich unwohl, während es im Nebenraum scheppert und klirrt, dann das sich steigernde Brodeln eines Wasserkochers ertönt, lauter und lauter wird. Dann tritt er zurück durch die Tür, zwei dampfende Becher in der Hand, die er zwischen uns auf den Tisch stellt.

*

„Ich kaufe immer den günstigsten Kaffee“,

sagt er, während er einen Schluck nimmt und das Gesicht angeekelt verzieht.

„Den günstigsten Kaffee, obwohl ich mir den teuersten leisten könnte, verstehen Sie das?“,

fragt er mich und ich nicke,

„nein, das verstehen Sie nicht, Sie ahnen es nicht einmal. Es ist wegen dem Aroma“,

erklärt er,

„wegen diesem Aroma der Ausbeutung, jenem Aroma aus Stockhieben und Kinderschweiß. Stockhiebe und Kinderschweiß. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?“,

fragt er mich und ich nicke, weil ich ahne, worauf er hinauswill.

*

Wir trinken beide Kaffee, kurz ist es still und der Kaffee schmeckt entsetzlich, geradezu grotesk, viel zu stark,
schwarz, dass es einem die Tränen in die Augen treibt, und ich frage nicht nach Milch, weil ich ahne, dass er niemals Milch in seinen Kaffee gießen würde, weil es nicht passt, weil es nicht seinem Wesen entspräche etwas zu verdünnen, das so unerträglich ist.

„Ich mische immer etwas Gift in meinen Kaffee“,

sagt er beiläufig, so als wäre es eine Nebensächlichkeit.

„Aber in Ihren Kaffee habe ich kein Gift gemischt, seien Sie beruhigt. Das werde ich nur tun, falls Sie mich einmal darum bitten.“

*

„Warum mischen Sie sich Gift in den Kaffee“,

frage ich und er nickt erfreut, so als hätte ich meine Sache gut gemacht.

„Wissen Sie“,

sagt er,

„ich habe einen Herzfehler, nein, ich hatte einen Herzfehler, von Geburt an hatte ich immer Scherzen in der Brust. Sie waren immer da, sie sind gewissermaßen mit mir groß geworden, manchmal so mächtig und schmerzhaft, dass sie mich zu Boden warfen, manchmal schwach und stichelnd, so als wollten sie mich nur daran erinnern, dass sie da sind.
Verstehen Sie, ich habe immer Schmerzen gehabt, 72 Jahre lang Schmerz, jeden Tag, jede Nacht Schmerz. Ich habe noch nie eine ganze Nacht geschlafen. Verstehen Sie“,

fragt er mich und ich nicke, weil ich glaube, dass ich verstehe.

„Sie verstehen es nicht“,

redet er weiter,

„gehen Sie sparsamer mit ihrem Nicken um, hören Sie, verstehen Sie“,

fragt er und ich unterdrücke mein Nicken.

„Vor etwa einem halben Jahr hatte ich einen besonders schlimmen Anfall, einen besonders schlimmen Anfall mit besonders schlimmen Schmerzen und der Zufall wollte es, dass meine Nachbarin, diese Hure, dass sie zu eben jenem Zeitpunkt in meiner Wohnung war, diese Hure, und dass sie es gewagt hat, einen Arzt zu rufen. Ahnen Sie, was passiert ist? Schütteln Sie ruhig den Kopf! Dieser Kurpfuscher von Arzt hat in einer Blitz-OP, so heißt dies heute, Blitz-OP, hat also in einer Blitz-OP in Blitzesschnelle, in einer halben Stunde, jenen Herzfehler korrigiert, verstehen Sie, korrigiert,
jene Schmerzen, die mich 72 Jahre lang gequält haben, mich in meinem Leben keine einzige Nacht schlafen ließen, beseitigt, einfach so, ohne mich zu fragen. Aber ich habe sie alle überlistet. Wenn ich das Gift nehme, kommen die Schmerzen wieder, hier in der Brust“,

er reibt sich mit der flachen Hand über die Brust,

„das habe ich herausgefunden. Ich muss es nur richtig dosieren. Verstehen Sie diese unglaubliche Wandlung?
Ich habe 72 Jahre lang gelitten und konnte nichts dagegen tun. Nun leide ich weiter, aber ich habe jederzeit die Macht dieses Leiden zu beenden. Verstehen Sie, dass mich das glücklich macht“,

fragt er mich und lacht laut, vielleicht um zu demonstrieren, wie glücklich er ist.

„Kommen Sie schon, lachen Sie mit“,

ruft er mir zu,

„grinsen Sie nicht so wie ein Lackaffe, lachen Sie, wenn man lacht, sieht man Ihre Zähne“, haben Sie einmal darüber nachgedacht? Sie zeigen einen Teil Ihres nackten Schädels. Man zeigt ein Stück seines Todes, wenn man lacht“,

sagt er, dann schweigen wir eine Weile.
*******







Kapitel 2

Und der alte Mann sprach:


„Sind Sie ein gläubiger Mensch“,

fragt er mich und ich sage

„nein“,

weil ich denke, dass er dies hören will, aber auch

„nein“,

weil es stimmt, weil ich kein gläubiger Mensch bin.

„Welchen Sinn macht es dann überhaupt für Sie zu leben? Dann ist es doch sinnlos, oder sind Sie so wie ich, nein“,

er schüttelt den Kopf.

„Die meisten Menschen, die vorgeben nicht gläubig zu sein, sind es nämlich doch, müssen Sie wissen.
Gerade bei den Christen ist es so, dass sie gerne ihren Glauben verleugnen, da die gesamte Geschichte des Christentums nichts als die Geschichte einer Verleugnung ist, von Judas bis hin ins Dritte Reich.
Interessieren Sie sich für Geschichte? Machen Sie schon, nicken Sie, ja, so ist es gut. Ich war bei der Flak, habe Flugzeuge abgeschossen, Flugzeug um Flugzeug vom Himmel geholt und es hat mir Spaß gemacht, es war wie ein Spiel, und ich würde es gerne noch einmal erleben, Krieg erleben, doch die Zeiten sind vorbei, ich bin zu alt, habe keine Kondition mehr.
Schauen Sie mal hier. Ich bin niedergeschossen worden.“

Er hebt seine Uniformjacke ein Stück weit in die Höhe und streicht mit dem Finger über eine gewaltige, mit groben Stichen genähte Narbe, aus der zwei dunkelrote bis braune Flecken hervorleuchten.

„Man hat mir in den Bauch geschossen, gleich zweimal“,

sagt er,

„wie dumm kann man sein?
Ein Schuss in den Bauch, ein Schuss in den Kopf, so haben wir es gelernt, aber nein, dieses Bürschchen, dieses Russenbürschchen schießt mir gleich zweimal in den Bauch, dafür ist er aber auch gestorben, dieser verdammte Russe, hören Sie, gestorben ist er dafür, dieser verdammte Russe“,

schreit er gegen die Bücherwände.

„Wissen Sie, wie weh ein Bauchschuss tut“,

fragt er mich und ich schüttele den Kopf.

„Zwei Bauchschüsse schmerzen mehr als einer, müssen Sie wissen, zumal er mir mit dem ersten Schuss meinen Darm verletzt hat, während der zweite meine Lunge gestriffen hat. Ich bin seitdem kurzatmig, wenn Sie darauf achten, bemerken Sie ein kleines Geräusch, wenn ich tief Luft hole, was ich aber eben darum selten tue, es klingt wie ein Tropfen, wie ein Tropfen Schleim, der aus einiger Höhe auf einen glatten Boden fällt, können Sie es sich vorstellen? Ich glaube, es ist Blut, das aus meiner Lunge in den Körper und von dem Körper wieder zurück in die Lunge sickert. In allen meinen Körpersäften ist Blut, vielleicht habe ich die reinsten Körpersäfte, weil ich ein so unreines Leben geführt habe und noch immer führe, doch überall ist Blut, das gibt einem doch zu denken, wenn man ständig sein Blut vor Augen hat. Möchten Sie vielleicht eine Zigarette rauchen, kommen Sie schon, rauchen Sie, rauchen Sie nur, ich rauche auch.

*

Wir rauchen gemeinsam, während ich schweige und er sich noch immer darüber amüsiert, dass ich meine Zigarette selbst gedreht und eine aus seiner Packung abgelehnt habe.

„Ich rauche immer die billigsten Zigaretten, die billigsten Zigaretten, obwohl ich mir die teuersten leisten könnte“,

sagt er zwischen zwei gierigen Zügen, die seine Zigarette ungleichmäßig abbrennen lassen.

„Sie wissen ja warum“,

fragt er und ich antworte

„wegen dem Aroma“,

was ihn lächeln lässt. Er wartet sehr lange, provozierend lange mit dem Abaschen, so dass ich mich frage, ob ich es erwähnen soll, doch ich schweige, schließlich werde ich dafür bezahlt.

„Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich zu schwach bin, diese Hure, dabei war sie es, die schwach war, schwächer noch, als ich es in meinen schwächsten Momenten gewesen bin, schwach und getrieben war sie bis zu ihrem Tod, diese Hure. Verstehen Sie, was ich mit Pietät meine?“,

fragt er und lacht bitter:

„Nein, ich erzähle Ihnen jetzt nichts über meine Familie, nichts über den seelischen Schmerz, der zu den körperlichen Schmerzen kam, ich sage Ihnen nichts, weil ich Sie nicht kenne, und da ich niemanden kenne, werde ich wahrscheinlich nie darüber sprechen, aber es ist gut, dass ich sie erwähnt habe, diese Hure, die mich in ihrer Abscheulichkeit in die Welt gepresst hat. Ich habe es ihr nie verziehen. Wie könnte ich es auch, leide ich doch noch heute. Wie ist es mit Ihnen?
Haben Sie Familie, haben Sie eine Mutter?“

„Ja, ich habe eine Mutter“,


lüge ich und schäme mich dafür, dass es nahezu entschuldigend klingt.

„Wir haben ein gutes Verhältnis“,

füge ich hinzu, während er mich aufmerksam betrachtet.

„Ein gutes Verhältnis“,

sagt er mehrmals mit unterschiedlichen Betonungen, dann lächelt er boshaft.

*
„Wissen Sie, ich hatte lange Zeit eine Katze“,

sagt er und blickt sich suchend in dem halbdunklen Raum um, so als wäre sie hier irgendwo.

„Eigentlich mag ich keine Katzen, mochte sie noch nie, man könnte sogar sagen, dass sie mir stets von allen Tieren, wohlgemerkt von allen domestizierten Tieren, am widerwärtigsten erschienen und zudem war sie hässlich, meine Katze, ein Bastard, mit geschecktem Fell. Ich habe mich lange gefragt, warum ich ihr wohl Zugang zu meiner Finsternis gewährt habe, weiß es aber bis heute nicht. Sie war auf einmal einfach da, saß immer dort, ungefähr dort, wo Sie jetzt sitzen, und putzte ihr Bastardfell, so als könne sie es reinigen. Vielleicht war es das, was ich an ihr gemocht habe, jene Sinnlosigkeit des Fellputzens, das mich immer an die Sinnlosigkeit meiner eigenen Körperhygiene erinnert hat, verstehen Sie, wie ich es meine, die Sinnlosigkeit des Zähneputzens, die Sinnlosigkeit des Haarewaschens, die Sinnlosigkeit von alledem, was dem modernen Menschen gemeinhin als sinnvoll erscheint, eben weil sie alle modern geworden sind. Ich pflege stattdessen meinen Geist“,

sagt er und weist mit der Hand auf die endlosen Bücherreihen, welche die Wände säumen.

„Diese ganze Pflege ist doch nichts als nationalsozialistische Ideologie, verstehen Sie, wie ich es meine, ich muss es schließlich wissen, verstehen Sie, ja, nicken Sie ruhig, nur zu, nicken Sie.
Habe ich Ihnen eigentlich einmal erzählt, dass ich einen Bruder habe“,

fragt er mich und ich sage:

„Nein, das haben Sie bisher nicht erwähnt.“

„Wir haben auch nicht viel Kontakt, müssen Sie wissen,
wir sind sehr verschieden. Er ist Idealist, dort wo ich Determinist bin, er ist voller Hoffnung, könnte man sagen, voller Hoffnung dort, wo ich nur lache. Haben Sie Lust auf einen Spaziergang? Ich habe Lust auf einen Spaziergang.“




Kapitel 3

Wir sind nun draußen, draußen auf der Straße, und es regnet, nicht sehr stark, aber konstant, und es weht ein scharfer Wind, der uns die Tropfen ins Gesicht peitscht.
Es ist kein gutes Wetter für einen Spaziergang. Zu meiner Überraschung hat er aus einer der vielen dunklen Ecken in seiner Wohnung einen Rollstuhl hervorgekramt, ihn fachmännisch auseinandergeklappt und sogar noch selbst bis zur Tür getragen. Dann hat er sich darauf niedergelassen und ich schiebe ihn, obwohl er durchaus die Kraft hätte, selber zu gehen.

„Schieben Sie schneller“,

ruft er mir von Zeit zu Zeit zu, wobei er es nicht für nötig erachtet, den Kopf in meine Richtung zu drehen, und dann wieder:

„nicht so schnell, wollen Sie mich umbringen“,

worauf ich unser Tempo entweder steigere oder verlangsame.

„Halten Sie hier“,

ruft er auf einmal, als ich ihn gerade unter einigen Bäumen, im Zentrum eines kleinen Marktplatzes, hindurchschiebe.

„Halten Sie genau hier!“

Schwerfällig hebt er sich aus dem Rollstuhl und lässt sich auf einer Parkbank nieder, die

einigermaßen vorm Regen geschützt unter den Bäumen steht.

„Sie fragen sich bestimmt, warum ich mich mit diesem Gefährt schieben lasse, wo es doch durchaus in meiner Macht steht, meine Füße zu benutzen, geben Sie es zu, Sie haben es sich gefragt und ich will Ihnen eine Antwort geben, nein, warten Sie, ich gebe Ihnen keine Antwort. Was meinen Sie? Warum lasse ich mich von Ihnen schieben, wo es mir doch ein Leichtes wäre, den Weg zu Fuß zu bewältigen?
Antworten Sie mir ruhig, sagen Sie mir, was Sie denken.“

„Ich habe zwei Antworten“,

sage ich, und er neigt den Kopf schief zur Seite, in meine Richtung.

“Die erste Antwort ist einfach“,

sage ich,

„und sie ist nahezu prototypisch für alte Menschen. Sie wollen mich erniedrigen, weil ich jung bin und Sie alt, weil ich lebe, weil Sie sterben. Das ist meine erste Antwort, doch ich denke nicht, dass sie auf Sie zutrifft. Darum habe ich zwei Antworten.“

„Was ist die zweite Antwort?“,

bellt er und spuckt verächtlich in meine Richtung, aber an mir vorbei.

„Die zweite Antwort“,

antworte ich,

„die zweite Antwort, und ich halte sie für die bessere, ist die, dass Sie sich selbst erniedrigen wollen“,

sage ich und schweige einen Moment, während ich mich frage, ob ich zu ehrlich war, doch er wollte ja, dass ich sage, was ich denke.

„Das ist gut“,

ruft er voller Begeisterung aus und klatscht in die Hände.

„Sie lernen schnell, glauben Sie mir, Sie lernen schnell.“

*

Es hat aufgehört zu regnen und wir sitzen noch immer auf der Bank.

„Es ist schade, dass es aufgehört hat zu regnen“,

sagt er und schaut gedankenverloren in die Ferne.

„Ich mag den Regen, weil die anderen ihn nicht mögen“,

sagt er,

„aber glauben Sie ja nicht, dass ich mich von den anderen beeinflussen lasse. Es ist umgekehrt, die anderen lassen sich von mir beeinflussen. So war es immer.“

„Nein!“,

ruft er auf einmal,

„warten Sie einen Moment, ich habe Schmerzen, Schmerzen in meinem Bein, ich bekomme immer Schmerzen, wenn ich in diesem Rollstuhl sitze. Eigentlich bin ich auch zu groß für diesen Rollstuhl, ist es Ihnen nicht aufgefallen, zu groß, viel zu groß bin ich für diesen Rollstuhl, aber ich wollte genau ihn, diesen Rollstuhl, weil es ein schlichter Rollstuhl ist. Verstehen Sie, was ich meine? Achten Sie einmal auf die anderen Menschen, die in einem Rollstuhl sitzen. Beobachten Sie aufs Genaueste die Form und das Aussehen ihrer Rollstühle. Ahnen Sie, worauf ich hinauswill?“,

fragt er und ich nicke, weil ich es erahne.

„Sie fangen an, ihre Rollstühle individuell zu gestalten, mit bunten Aufklebern, Anhängern oder irgendwelchen Taschen, die man anbringen kann. Verstehen Sie, sie personalisieren ihre Schwäche, bemalen ihr Leid in bunten Farben, wie erbärmlich ist das doch, nicken Sie, ist es nicht erbärmlich? Würden Sie Ihre Prothese, Ihre Augenklappe, Ihren künstlichen Darmausgang nach modischen Gesichtspunkten auswählen, nein, schütteln Sie mit dem Kopf. Ich wiederum reduziere meinen Rollstuhl auf seine Funktion, er ist mir nichts als ein Rollstuhl und es ist mir unangenehm auf ihm zu sitzen, verstehen Sie das, probieren Sie es aus, setzen Sie sich auf den Rollstuhl, nun machen Sie schon, zieren Sie sich nicht so, sehen Sie, wie es ist, warten Sie, ich werde Sie ein Stück schieben.“


*

Er schiebt mich, langsam, mit geradezu grotesker Vorsicht, den Weg zurück, den ich ihn hin, zu der Bank, geschoben habe. Ab und zu hält er inne und stöhnt vor Erschöpfung, doch immer wieder, wenn ich ihm anbiete die Plätze zu tauschen, lehnt er dies zornig ab.

„Ich habe gelegentlich Erektionsprobleme“,

ruft er laut in die Richtung von zwei älteren Damen, als wir an einer Ampel auf die Weiterfahrt warten.

„Ich habe Ihnen ja gesagt, dass in allen meinen Körpersäften Blut ist und gerade deshalb überprüfe ich, soweit es mir möglich ist, regelmäßig meine Körpersäfte auf Blut. Sie werden Sie noch zu Gesicht bekommen, meine Körpersäfte. Ich habe mir bestimmt eine Geschlechtskrankheit geholt, eine Geschlechtskrankheit von den ganzen Huren, die ich gefickt habe. Ich habe sie immer sehr hart gefickt, diese Huren, weil sie mich durch ihr Hurendasein erniedrigt haben, diese Huren, verstehen Sie, wie ich es meine? Vielleicht habe ich mich auch verletzt an einer dieser Huren, was schauen Sie mich so an?“,

schreit er auf einmal voller Zorn hinüber zu den beiden alten Frauen, die in einem sicheren Abstand zu uns ebenfalls vor der Ampel warten und nun erschrocken in unsere Richtung blicken.

„Tun Sie bloß nicht so, als ob Ihr Kot nicht stinken
würde, denn ich weiß, dass er stinkt, ich rieche ihn“,

schreit er und ist tatsächlich außer sich vor Zorn.

„Konzentrieren Sie sich ruhig auf Ihr Sterben“,

schreit er weiter,

„sterben Sie zwischen Kaffee und Diabetikerkuchen, konzentrieren Sie sich auf ihr Sterben unter den gierigen Augen Ihrer entarteten Brut!“

Dann schiebt er mich seelenruhig weiter, weil die Ampel auf Grün umgesprungen ist und die Autos angehalten haben.

„Ich habe gelegentlich Erektionsprobleme“,

wiederholt er, diesmal leiser und in meine Richtung,

„aber ich lasse mich nicht entmutigen.“

*

„An sonnigen Tagen wie dem heutigen befällt mich manchmal Furcht“,

sagt er, als wir wieder in seiner Wohnung, in dem Raum mit dem Bärenfell, an dem kleinen Tisch sitzen und blickt mich dabei durchdringend an.

„Es ist nicht so, als dass ich Angst vor dem Tod hätte, denn was ist schon der Tod, aber manchmal, wenn die Sonne so scheint wie heute, dann bekomme ich es mit der Angst zu tun. Haben Sie manchmal Angst an sonnigen Tagen?“,

fragt er mich und ich schüttele den Kopf, weil es für mich an einem sonnigen Tag nichts Erschreckendes gibt.Tag e

„Dann können Sie es nicht verstehen“,

sagt er,

„wie meine Frau, diese Hure, die es auch niemals verstehen konnte. Wissen Sie, was sie immer gesagt hat, nein, Sie können es nicht wissen, schütteln Sie ruhig mit dem Kopf. Sie hat immer gesagt:
‚Wenn die Sonne scheint, dann ist die Welt schön’,
verstehen Sie, wie naiv Sie war, diese Hure, wegen des bisschen Wärme und der Illusion des Frühlings. Es gibt keinen Frühling, müssen Sie wissen. Alles strebt stets auf den Winter zu und jeder kleine Trieb, der sich, wenn der Druck der Kälte nachlässt, seinen schmachvollen Weg aus dem Dunkel der Erde zu eben jener heuchlerischen Sonne emporkämpft, wächst ja
doch nur dem Tod entgegen. Verstehen Sie? Alles wächst dem Tod entgegen und nur, weil es noch entfernt von ihm sein Dasein fristet, darf man es nicht Frühling nennen. Merken Sie sich meine Worte:
Alles wächst dem Tod entgegen und es gibt keinen Frühling, Frühling ist Heuchelei, alles wächst dem Tod entgegen. Hinzukommt“,

sagt er,

„dass mir die regnerischen trüben Tage naturgemäß lieber sind, weil sie einen Teil der Welt verstecken, denn die ganze Welt ist schlecht, verdorben und entartet und je weniger ich von ihr sehe, desto freier kann ich atmen. Ich mag den Nebel, verstehen Sie, weil der Nebel barmherzig ist, ebenso wie der Schnee, auch der Schnee ist barmherzig, wobei Sie niemals die Barmherzigkeit der Natur mit der geheuchelten, stinkenden Barmherzigkeit
der Menschen verwechseln dürfen, verstehen Sie“,

fragt er mich und ich nicke, weil ich ihn zu verstehen glaube.

*

„Meine Frau ist an Krebs gestorben, hören Sie, an Krebs gestorben. Verfault ist sie, diese Hure, und ich konnte nichts tun, als ihr Faulen zu beobachten und es zu leugnen, wenn sie mich danach gefragt hat. Ich bin mein Leben lang immer ein ehrlicher Mensch gewesen, müssen Sie wissen, nicht aus moralischen Gründen, glauben Sie das bloß nicht, sondern einzig und alleine, weil es für mich nie etwas gab, das des Lügens wert gewesen wäre, aber meine Frau, diese Hure, nein, sie war keine Hure, es ist falsch, das in diesem Zusammenhang zu sagen, aber meine Frau, die habe ich über Jahre hinweg belogen, aufs Genaueste und Gewaltigste belogen, bis schließlich jeder Satz nur noch Lüge war. Ich habe ihr gesagt, dass sie schon besser aussieht, als sie längst nichts mehr war als ein Gerippe, um das sich die Tumore zu einer Haut spannten. Ich habe in ihr grinsendes, weil sterbendes Krebsgesicht geblickt und gelogen, nicht weil ich sie trösten wollte, und was wäre das auch für ein Trost gewesen, nein, belogen habe ich sie, weil ich sie belügen wollte. Glauben Sie ja nicht, dass ich mich schuldig fühle, sehen Sie mich nicht so an, ich empfinde keine Schuld, habe nie Schuld empfunden, weil Schuld etwas für die ist, die schwach sind, die zu schwach sind um zu verachten. Wissen Sie, ich habe früher nie mit meiner Frau gesprochen, weil ich sie immer dafür verachtet habe, dass sie mich geheiratet hat, weil ich mich dafür verachtet habe, dass ich sie geheiratet habe.
Ich habe so gut wie nie mit ihr gesprochen und sie hat es akzeptiert, weil sie dachte, dass es meine Strafe für sie wäre, meine Strafe für ihren Betrug, aber ich habe nie mit ihr gesprochen, weil ich sie verachtet habe. Ich habe es ihr nie gesagt, bis zuletzt habe ich nicht mit ihr gesprochen und dann habe ich sie nur noch belogen.
Das ist meine Pietät, verstehen Sie, begreifen Sie langsam, was meine Pietät ist? Ich habe für sie gekocht, aber nicht mit ihr gesprochen, habe ihr nasse Umschläge gegen das Fieber gemacht, aber geschwiegen, habe die klebrigen Verbände über den vereiterten und eiternden, nahezu eitersprudelnden Wunden gewechselt, Tag für Tag ihren Gestank, ihre Verwesung eingeatmet und sie dann belogen. Nur über meinen Glauben habe ich stets die Wahrheit gesagt:
’Es geht auf zur Hölle’, habe ich ihr gesagt, wenn sie wieder vor Schmerzen geschrien hat, und dann wurde sie ruhig, bis sie schließlich nur noch ruhig, aber tot war, doch was ist schon der Tod, nichts als eine Illusion, wenn Sie mich fragen, ebenso, wie auch das Leben nur eine Illusion ist, denn eigentlich sind wir schon immer auf den Tod ausgerichtet, abgerichtet. Wir wachsen dem Tod entgegen, glauben Sie mir, wir wachsen dem Tod entgegen, selbst, wenn wir es manchmal vergessen.“

*

Von einer Sekunde auf die andere schweigt er, schließt die Augen und sein Kopf sinkt auf dem Sesselpolster zur Seite. Da mir nichts einfällt, das ich ergänzen oder fragen könnte, schweige ich auch, und er tut gut, jener Moment der Ruhe, jenes Ordnen der Gedanken. Ich warte einige Minuten, doch er schweigt weiter und als er selbst auf mein mehrfaches Räuspern nicht reagiert, begreife ich, dass er eingeschlafen ist. Vorsichtig erhebe ich mich und trete zu ihm, betrachte die alte Haut, die sich um seinen Schädel spannt, die tiefen Falten, die dunklen Augenringe. Fast sieht er aus, als wäre er gestorben, einfach so, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, doch da ist ein Zucken um seine Mundwinkel herum, das mir sagt, dass sich noch Leben in diesem gebrechlichen Körper findet.
An der Wand habe ich ein altes Bettgestell ausgemacht, das sich quietschend und ächzend, aber mit einigen Handgriffen auseinanderklappen lässt. Vorsichtig hebe ich ihn von seinem Stuhl hinunter und trage ihn hinüber zum Bett, wobei mir auffällt, wie leicht er ist, wie wenig er wiegt. Vorsichtig lasse ich ihn auf der durchgelegenen Matratze nieder und finde nach einigem Suchen auch noch eine verschlissene Patchwork-Decke, die ich auf ihn lege. Da mir nichts einfällt, was ich sonst noch tun könnte, blättere ich noch in einigen alten Illustrierten, die achtlos in einer Ecke gestapelt liegen, dann baue ich mir ein behelfsmäßiges Bettlager, zu Füßen seiner Matratze.
Und bin nach wenigen Minuten tief und fest eingeschlafen.

Kapitel 4

Ich erwache durch einen lauten Schrei, zumindest glaube ich dies, obwohl es still ist, als ich mich aufsetze und in die Dunkelheit horche. Nur seine prasselnden Atemzüge klingen hohl von den Wänden wider, ab und zu ziehen die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos ein gestreiftes Muster über die vergrauten Wände.

„Schlafen Sie?“,

fragt er auf einmal und ich bin für einen kurzen Moment versucht zu schweigen, mich schlafend zu stellen, doch ich glaube, dass er weiß, dass ich nicht schlafe.

„Ich weiß, dass Sie nicht schlafen“,

sagt er,

„ich höre es an Ihrem Atem.“

Und dann leiser, nahezu ängstlich:

„Schlafen Sie?“

„Ich bin wach!“,

sage ich und setze mich auf, damit ich ihn sehen kann.
Auch er sitzt, halb aufgerichtet, in dem Bett, unnatürlich gebeugt, zusammengesunken. Sein Kopf ist in meine Richtung gewandt.

„Warum haben Sie das getan?“,

fragt er mich fassungslos und ebenso fassungslos frage ich zurück:

„Was, was habe ich getan?“

„Sie haben mich in das Bett getragen, warum haben Sie das getan?“

Ich weiß nicht recht, wie ich darauf antworten soll und schweige, zucke mit den Schultern, obwohl ich nicht weiß, ob er das in der Dunkelheit sehen kann.

„Sie haben mich aus Bosheit in dieses Bett gelegt, geben Sie es zu, nicken Sie, ich kann Sie im Dunkeln sehen. Sie sind es schuld, dass ich mit den denkbar schlimmsten, den

unmenschlichsten

Träumen, und wenn ich unmenschlich meine, dann meine ich dies im wahrsten Sinne, mit den unmenschlichsten, grausamsten Träumen

erwacht

bin. Ich dachte, Sie sind naiv, aber Sie sind voller Bosheit. Ich rieche Ihre Finsternis.
Seit nunmehr zwölf Jahren habe ich dieses Bett nicht mehr aufgeklappt, diese Matratze sehen müssen, die den Schweiß, den Eiter, das Leichenwasser meiner Frau in sich aufgesogen hat. Seit zwölf Jahren schlafe ich jede Nacht in diesem Sessel, sehen Sie den Sessel,“

schreit er und sein Schatten zeigt auf den Sessel,

„seit 12 Jahren schlafe ich in diesem Sessel, nicht weil ich sentimental bin, einzig und alleine, weil ich mich daran gewöhnt habe, an die Schmerzen im Rücken, die Schmerzen im Nacken, all diese Schmerzen, die mir Heimat bedeuten. Und nun liege ich in diesem Bett, sehen Sie, haben Sie es gesehen, ich bin auf dem Bauch erwacht, obwohl ich seit Jahren nicht mehr auf dem Bauch aufgewacht bin, den Mund auf eben jene Stelle gepresst, an dem ihre Füße in den Jahren mit der Matratze verschmolzen, verwachsen sind. Ahnen Sie, mit was für einem Geschmack ich erwacht bin? Sehen Sie nicht selbst bei diesem kaum vorhandenen Licht diesen dunklen Fleck auf dem Laken?“,

schreit er und ich habe Angst, dass er aus dem Bett springt und über mich herfällt, doch dann ist er auf einmal wieder ganz ruhig.

„Sie sind boshaft“,

sagt er und:

„Sie sind krank. Das hätte ich Ihnen niemals zugetraut.“

Damit erhebt er sich schwerfällig und ich betrachte seinen gebeugten Körper, wie er hinüber zum Sessel wankt.

„Setzen Sie sich zu mir, machen Sie schon, Sie sind es mir schuldig“,

sagt er und ich setze mich hinüber auf den kleinen hölzernen Schemel.

*

„Ich hatte einen schlimmen Traum“,

sagt er und ich schweige.

„Ich hatte einen Traum, einen besonders schlimmen Traum“,

sagt er und ich schweige.

„Zur Strafe werde ich ihn Ihnen erzählen.

Ich habe immer schlimme Träume, wenn ich schlafe, doch ich beklage mich nicht, ich bin es gewohnt, weil ich meine Träume auch träume, wenn ich wach bin, aber dieser Traum war selbst im Vergleich zu meinen schlimmsten Träumen kein angenehmer Traum, doch was sind schon Träume? Ich werde ihn Ihnen erzählen.“

*

Der Traum des alten Mannes

„In meinem Traum bin ich mein Opfer, verstehen Sie das, nein, Sie verstehen es nicht, es ist gut, dass Sie nicht genickt haben, nicken Sie nicht so häufig, das sieht dumm aus. Ich beobachte mich in meinem Traum, verstehen Sie, ja, ich beobachte mich, weil ich mein Opfer bin. Ich habe keine Zeit mich genauer zu betrachten, ein gehetzter Blick über die Schulter,
mehr ist es nicht, aber ich weiß, dass ich es bin, ich spüre es, spüre meine eigene Finsternis. Ich flüchte also vor mir selbst und ich habe Angst vor mir, weil ich in meinem Opferdasein gleichsam begreife, dass ich Täter bin. Ich fliehe vor mir selbst, fliehe durch eine bleiche Wüste, überall ist Sand und ich bin auch der Sand, über den ich fliehe. Dauernd greife ich nach mir, zerre an mir, ziehe mich hinab und ich bin gleichsam die Sonne, die ungerührt über all dem steht und lacht, Sonnenstrahl um Sonnenstrahl Verachtung, und ich habe immer Durst in jenen Träumen, wobei ich auch der Durst bin, verstehen Sie, ich bin überall und alle schreien gleichzeitig, ich schreie alle gleichzeitig, schreie vor Wut, schreie aus Zorn, schreie vor Angst, schreie vor Schmerz, schreie mich selbst an, aus allen Richtungen und ich höre mich gleichsam schreien aus allen Richtungen, schreien und hören,

schreien mit aller nur erdenklichen Kraft in die eigenen Ohren,

überall Stimmen und dann habe ich Sie gesehen.“


*

Mit diesen Worten schläft er wieder ein, langsam gleiten seine Augenlider nach unten, wobei ich bis zu jenem Moment, als er sie vollständig schließt, das Gefühl habe, dass er mich beobachtet. Er sinkt zurück in eine kleine Kuhle in dem schwarzen Leder, die er wohl in den letzten Jahren in das Material gepresst hat, Nacht um Nacht, Tag um Tag Einsamkeit und der Kopf an der Sessellehne. Ich klappe das Bett wieder zusammen, um die Spuren meiner nächtlichen Tat für den Tag zu verwischen und betrachte jenen dunklen Fleck, von dem er sprach, gehe ganz nahe mit dem Gesicht an ihn heran und rieche jenen Geruch, den er mir beschrieben hat, der mich frösteln lässt. Dann lasse ich mich nieder auf mein zerwühltes Laken, doch ich kann nicht schlafen, bis am nächsten Morgen sein Wecker klingelt.

------------

besucht meinen Blog unter myspace.com/autoralexanderschwarz
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Hallo Doska,
vielen Dank für deinen Kommentar und sorry, dass ich erst so spät antworte. Mir war mein Passwort abhanden gekommen und es hat eine Zeit gedauert, bis ich es wieder hatte.
Du drückst mit Deinen Worten genau das aus, was ich intendiert habe, die Ambivalenz, das Hin- und Hergerissensein des Rezipienten, dazwischen ein gutes Stück Sozialkritik, das sich im weiteren Verlauf steigert. Ich werde diese Erzählung wahrscheinlich im November in einem kleinen Verlag publizieren und habe deshalb nur Auszüge -immerhin aber die ersten 10 Kapitel- online gestellt. Falls Du diesen Text weiterliest, bin ich auf jeden Fall weiterhin an deiner Meinung interessiert, wünsche dir alles Gute
Gruß
AlX


autoralexanderschwarz (27.06.2009)

Ich muss zugeben, erst war ich skeptisch, doch nachdem ich mir alles durchgelesen habe, muss ich sagen: Das ist ja eine höchst ungewöhnliche Story. Habe noch nie so etwas gelesen. Du bescherst uns mit deinen Worten ein Wechselbad an Gefühlen. Einerseits verführst du uns zum Schmunzeln andererseits lässt du uns erschauern. Man ist ständig hin und her gerissen zwischen Mitleid und Entrüstung. Vielleicht nicht jedermanns Geschmack, der meinige schon. Einfach toll!

doska (16.06.2009)

Ich weiß genau was du meinst. Diese ganze Pseydomoral des normalen Konsumenten ist echt zum Kotzen.

anonym (18.08.2008)

Unglaublicher Text!
Kompliment!


anonym (11.07.2008)

Vielen Dank für Deinen Kommentar.
Freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Hast Du die anderen Teile auch gelesen? Bin auf Deine Meinung gespannt.


autoralexanderschwarz (21.06.2008)

Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen und sie ist tatsächlich sehr unkonventionell. Bei solchen Menschen wie dem Alten frage ich mich immer, wie die wohl als Kind gewesen sind... Die Gedankengänge sind wirklich genial, Kompliment.^^

Der Tod dauert das ganze Leben
und er hört auf, wenn er eintritt


diese philosophie kannte ich schon, das meiste vom rest war neu^^


Christina Chrissi (18.06.2008)

Sers,
jetzt haben schon so viele Leute gevotet, dass ihnen die Geschichte gefällt. Wär toll, wenn einer mal nen Kommentar zum Inhalt hinterlassen würde.


autoralexanderschwarz (15.05.2008)

Story geht weiter unter
bis Kapitel 9 unter
http://myspace.com/autoralexanderschwarz


anonym (05.04.2008)

GeHt DeS IrGeNdWo WeItEr???

anonym (04.04.2008)

http://myspace.com/autoralexanderschwarz

autoralexanderschwarz (03.04.2008)

Toll, gruselt einen richtig bei Lesen. Wo gehts denn weiter? Wo finde ich die anderen Kapitel?

anonym (03.04.2008)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Maskaron - Inhaltsangabe  
Der alte Mann und die Finsternis - Inhaltsangabe  
Der alte Mann und die Finsternis - Kapitel 8 - 10  
Maskaron - Kapitel 1  
Der alte Mann und die Finsternis - Kapitel 5-7  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De