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10 Seiten

Lilly (Kapitel 06)

Romane/Serien · Spannendes
Noch eine Stunde, bis die Gäste eintreffen sollten. Im Hause Jenssen herrschte totales Durch-einander. Lilly hatte Geburtstag, sie wurde heute sechs Jahre alt. Sie hatten ein echtes Glück mit diesem Tag. Die ganze Woche über war schlechtes Wetter nur am Freitag, heute, schien die Sonne und es war superwarm. Im Wetterbericht hieß es auch Sonne bis 30 Grad für den Tag und das gesamte Wochenende. Die Gäste, die zur Party kommen sollten waren einige Kinder aus dem Kindergarten. Lilly war zwar einverstanden damit, schien sich aber nicht so wohl dabei zu fühlen. Sie hatte öfters gesagt, dass die anderen Kinder sie immer komisch ansahen und dass man nicht so gerne mit ihr spielte, weil es dann immer irgendwie nicht richtig lief. Was auch immer das bedeuten mochte, die fünf anderen Kinder waren demnächst da und die Torte verschwand eben erst im Backofen. In einer Stunde sollte sie fertig sein, also gerade noch pünktlich zum Beginn des Festes. Bliebe also noch genügend Zeit sich selbst etwas herzurichten und den Garten weiter zu dekorieren.
Lilly saß in ihrem Zimmer und spielte mit den Barbies, die sie am frühen Morgen von ihren Eltern zum Geburtstag bekam. Sie hatte bis auf ihre Unterwäsche nichts an, denn sie sollte eigentlich längst im Badewasser sitzen. Die Mutter hatte ihr gesagt, sie sollte sich bitteschön selber baden diesmal, sonst würde die Party beginnen, während die Vorbereitungen noch auf Hochtouren liefen. Eigentlich konnte Lilly sich auch schon längst alleine baden, doch dieses Mal schweifte sie ab und vergrub sich in ein Spiel mit ihren neuen Puppen.
Mark lief an ihrem Zimmer vorbei in Richtung Badezimmer und wollte sie gerade aus dem Wasser holen, da bemerkte er im Augenwinkel, wie sie auf ihrem Gymnastikball saß und auf und nieder wippte. Sie sprach in einem Flüsterton mit ihren Barbies.
„Warst du schon baden, Liebes?“ fragte er sie, als er sich ihr näherte. Lilly fuhr herum und warf automatisch einen Blick auf die Uhr. Viertel nach zwei.
„Ähm…“, es war ihr peinlich und Mark würde es merken, dass sie noch nicht gebadet war.
„Oh, das gibt’s doch wohl nicht!“ Er schlug eine Hand vor seine Augen. Im nächsten Moment hatte er seine Tochter bereits unterm Arm und schleppte sie ins Bad. Noch während des unbequemen Transports entledigte er sie ihrer Kleidung und warf das Kind in das überschäumende und leicht ausgekühlte Badewasser. Kommentarlos brauste er ihr Haar ab, wusch sie und holte sie nach nur drei Minuten wieder raus.
„Ich will aber noch etwas plantschen“, protestierte die frischgebackene Sechsjährige.
„Keine Zeit, deine Freunde sind gleich da. Sollen sie dir etwa gratulieren, während du hier in der Badewanne hockst?“
Sie streckte ihre Hände aus und ließ es mit sich machen. Mark hob sie aus der Wanne, trocknete sie ab und versuchte dann, wieder im Kinderzimmer, ihr das Kleid anzulegen, das sie sich gewünscht hatte. Letzte Woche waren Lilly und ihre Mutter in der Stadt und suchten das Kleid für sie aus.
„Du tust mir weh“, wimmerte sie, als Mark ihr die Schnüre an der Hüfte zuband. „Das ist zu fest.“
Als Vater und Tochter das Kinderzimmer verließen, wären sie beinahe in Tanja gerast, die sich ihre Haare im Bad richten wollte. ihr Blick fiel auf Lilly, die zwar das Kleid anhatte, deren Haare aber noch feucht und völlig verstrubbelt aussahen. „Komm schon, Lilly, deine Haare sehen ja fürchterlich aus!“
Mark wollte die beiden Damen nicht weiter stören und ging hinunter. Er entschloss sich, alles noch mal zu kontrollieren und die Verpackungsreste der Luftballons zu entfernen. Wie sah das denn aus, wenn die Gäste kommen und überall lagen Plastikbeutel und Gummiringe rum?
Es wirkte alles perfekt vorbereitet, die Party konnte stattfinden. Der Ofen arbeitete unter Hochdruck daran, die Torte noch rechtzeitig fertig zu stellen, die Mädels waren im Bad und machten sich die Haare und er konnte sich etwas entspannen. Die klassischen Geburtstags-spiele standen auch bereit. Dieses Jahr würden wieder einige alte Spiele stattfinden, wie damals bei ihm. Letztes Jahr feierten sie in einem Freizeitpark, der in einer Halle aufgebaut war. Dafür hatte man eine Turnhalle einer ausrangierten Grundschule umgebaut. Der Eintritt war zwar teuer und die Luft da drinnen nicht von bester Qualität, aber für eine einmalige Sache war es gut. Lilly hatte ihren Spaß, sie störte sich nicht an dem Schweißgeruch oder den fettigen Pommes Frites, die es im Restaurant gab, das ebenfalls in einer Ecke der Halle war. Heute standen mal wieder Topfschlagen und Blinde Kuh auf dem Programm.
Eine knappe halbe Stunde später, die Torte kühlte auf der Theke in der Küche aus, klingelte es an der Tür. Es war fünf nach drei Uhr. Der erste Gast war gekommen, es war Anke Rosenthal mit ihrer fünfjährigen Tochter Amelie. Das Mädchen trug ein ähnliches Kleid wie Lilly, nur war es grün und Lillys Kleid war blau. Lillys Lieblingsfarbe.
„Hallo Mark“, sprach Anke fröhlich. Sie duzten sich, weil die Elternschaft im Kindergarten sich am ersten Elternabend vor einem dreiviertel Jahr darauf einigte. Schließlich duzte man sich auch mit den Erzieherinnen.
„Kommt rein“, sagte Mark und machte eine einladende Geste. „Oh Amelie, du siehst ja hübsch aus. Geht ruhig schon durch in den Garten.“
Anke war schon sehr beeindruckt. Bisher war sie noch nie bei den Jenssens zu Besuch gewesen. Diese Leute hatten ein echt schönes Haus, besser als meine Dreizimmerwohnung in der vierten Etage, überlegte Anke. Amelie war schon mal zu Besuch gewesen und kannte sich noch gut aus. Sie flitzte voraus in Richtung Garten und legte ihr Geschenk zu zwei anderen Paketen auf einen Tisch neben der Tür. Die beiden anderen Pakete wurden Lilly am Morgen per Express von ihren Großeltern zugeschickt und sie wollte sie erst dann öffnen, wenn sie die Geschenke der Partygäste öffnete.
In diesem Moment kamen Lilly und Tanja die Treppe herunter. Beide sahen aus, als wenn sie geradewegs auf die Bühne zuliefen um die Krone der Schönheitskönigin entgegenzunehmen.
„Puh, was habe ich nur für zwei wunderschöne Mädels im Haus“, schleimte Mark mit einer ehrvollen Handbewegung, als würde er ihnen den Hof machen und sich vor ihnen verneigen.
Die beiden grinsten ihn an und Lilly kicherte verlegen.
„Anke und Amelie sind schon da, die anderen sind sicher auch gleich da.“
Lilly rannte sofort in den Garten um die ersten beiden Gäste zu begrüßen, da klingelte es erneut. Diesmal standen die Eltern von Tom und Luisa mit den beiden zweieiigen Zwillingen vor der Tür. Kurz darauf trafen auch die beiden anderen Kinder ohne ihre Eltern ein, weil sie direkt im Haus gegenüber wohnten und nicht gefahren werden mussten. Es waren Marie und Svenja, beide waren bereits vor drei Wochen sechs Jahre alt geworden. Sie waren nicht nur beste Freundinnen, sie hatten auch noch am gleichen Tag Geburtstag.
Als Mark auch die letzten beiden Gäste in den Garten lotste, war dort bereits die Party im vollen Gange. Es lief eine Kinderkassette im Hintergrund und Tanja schnitt gerade die Torte an. Die Kinder liefen im Garten umher und erkundeten das wundervoll dekorierte Ambiente. Weiter hinten blühten schöne bunte Büsche und ein kleiner Teich lag versteckt am hinteren Ende des Gartens. Das Haus lag in Richtung eines Waldrandes. Mark und Tanja hatten beim Hauskauf Glück, denn sie hatten den größten Garten in der Nachbarschaft. Die meiste Fläche blieb aber ungenutzt, das hieß sie hatten keinen Swimmingpool oder ähnliches, wie manch andere ihrer Nachbarn. Tanja begeisterte sich im Pflanzen und legte im Frühjahr immer einen tollen Garten an, in dem sie nicht nur Blumen anlegte sondern auch Kohl und Tomaten pflanzte. Wenn der Sommer einsetzte, wuchsen sogar Erdbeeren und daraus machte sie dann immer einen Kuchen oder Marmelade.
„Kommt ihr dann mal alle zusammen!“ rief Tanja in den Garten hinein. Sie war die Organisatorin des Kindergeburtstages. Mark kümmerte sich zwar sehr gerne um sein Kind und verstand es sehr gut mit ihr zu reden, aber wenn größere Aktivitäten mit anderen Kindern anstanden, so wie heute, konnte Tanja viel besser damit umgehen. Sie wünschte sich immer eine ganze Schar an Kindern und wollte mal früher Kindergärtnerin werden. Tanja konnte gut mit Kindern umgehen, Mark hingegen nur gut mit seinem eigenen Kind.
Die sechs Kinder kamen aus den unterschiedlichsten Richtungen angerannt und versammelten sich auf der Holzbank, die als Geburtstagstafel gedeckt war. Eigentlich war es bloß eine ganz normale Bierzeltgarnitur, bestehend aus einem klappbaren Tisch und zwei Bänken aus Holz, die zu beiden Seiten am Tisch standen. Doch mit eine Tischdecke, vielen Kerzen und Luftschlangen wurde es zu einem richtig bunten Kindertisch.
Lilly setzte sich an die Stirnseite des Tisches, wo man ihr einen Gartenstuhl mit Luftschlagen und Ballons dekorierte. Sie bekam eine selbst gebastelte Krone aufgesetzt, die sie aus dem Kindergarten mitbrachte, wo man am Vormittag ihren Geburtstag bereits feierte. Dazu sang man immer ein Wunschlied und spielte ein Spiel. Anschließend bekam das Kind dann noch eine Kleinigkeit aus einer Geburtstagskiste und dann ging man in den normalen Alltag über.
Tanja stellte die Torte mit den sechs Kerzen direkt vor Lilly auf den Tisch. Das Mädchen bemerkte die Blicke der anderen auf sich ruhen. Man erwartete von ihr, dass sie die Kerzen ausblies. Zweimal atmete sie tief ein, dann schoss sie ihren Atem wie eine Kanonenkugel in Richtung Torte. Alle bis auf eine Kerze erloschen sofort, die letzte hob sie sich für ihren Wunsch auf. Bitte, lass nichts passieren. Ich will einen schönen Tag mit den anderen haben, nur dieses eine Mal, wünschte sich Lilly innig, schloss die Augen und blies die letzte Kerze aus. Als sie ihre Augen wieder öffnete, spürte sie die viel versprechende Energie ihres eigenen Wunsches in sich aufsteigen. Sie sah alles etwas anders, es konnte jetzt nichts mehr schief gehen. Dieses Mal nicht.
Tanja verteilte die Torte unter den Kindern und auch den Eltern der meisten Gäste blieb noch etwas übrig. Während die Kinder später miteinander spielten und sich Mark mit den Eltern unterhielt, bereitete Tanja Topfschlagen vor. Marie und Svenja wollten zusammen arbeiten und boten sogar eine Ausdehnung des Terrains an, aber Tanja bestand auf die Einhaltung der Spielregeln. Lilly sollte als Geburtstagskind beginnen.
Tanja verband ihr die Augen und führte sie ein wenig in die Irre. Amelie wurde auserkoren, den Topf mit dem Schokoladen überzogenem Schaumkuss innerhalb des bestimmten Bereichs zu verstecken. Lilly bekam einen Holzlöffel in die Hand und wurde angewiesen, nun den Topf ausfindig zu machen. Sie irrte auf dem Boden umher und man schleuderte ihr vage Richtungsanweisungen entgegen. Jeder schien ihre Entfernung zum Topf anders zu empfinden, denn „heiß“ und „kalt“ wurde wild durcheinander gerufen. Vielleicht mochten die Kinder sie doch nicht so wirklich, wie Lilly das immer empfand und man führte sie absichtlich in eine falsche Richtung. Aber ihre Mama würde sich doch um sie kümmern und ihr den rechten Weg zeigen. Wer weiß, sie vermochte eventuell nicht zu ihr durchzudringen. Unbehagen stieg in ihr auf. Es war ihr Geburtstag und sie begann sich zu ängstigen. So etwas hatten die anderen bestimmt noch nie auf ihrer eigenen Party erlebt.
Wo sollte sie nur hin? Sie irrte hin und her, schlug mit dem Löffel vor sich auf den Boden…
Sie versuchte die Zurufe einzuteilen. Wurde mehr „kalt“ oder mehr „heiß“ gerufen? Sie konnte es nicht auseinander halten. Verzweifelt schlug sie um sich, traf aber nur ins Leere.
„Sieh sie dir an, wie blöde die rumschlägt“, wisperte Marie Svenja zu. Die beiden besten Freundinnen hatten immer schon eine gewisse Antipathie gegen Lilly, waren aber nie offen gegen sie. Sie haben sie nie angegriffen oder sie beschimpft, sie machten sich immer nur gerne lustig über sie. Lilly wusste das und es machte sie sehr traurig. Wieso konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Und wieso waren die beiden überhaupt zu ihrer Party gekommen? Ihre Mama lud sie ein, weil sie sich mit ihren Müttern gut verstand und weil sie die beiden irgendwie süß fand. Außerdem fand sie, dass eine Freundschaft unter den dreien gut für Lilly wäre, aus ihrer Isolation auszubrechen.
„Die findet den ollen Pott nie“, kicherte Svenja leise zurück. Offenbar nicht leise genug, denn Lilly bekam jede Silbe ihres Spotts mit. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Sie wurde immer unruhiger und bekam furchtbare Angst. Wäre sie in einen Raum eingesperrt, würde sie das Gefühl bekommen, die Wände bewegten sich auf sie zu. Sie empfand keine Wut auf die beiden gehässigen Mädchen, obwohl sie die beiden noch immer lästern hören konnte.
Ihre Angst, ihre übermäßige Verzweiflung war zu stark, als dass sie wütend wurde. So war Lilly immer gewesen. Sie war eine Kämpfernatur, aber wenn es um ihre innersten Gefühle ging, war sie sehr sensibel. Lilly versuchte der Angst zu widerstehen.
Ich lasse mich einfach von meinem Instinkt leiten, entschied die Sechsjährige. Zielstrebig kroch sie ihrem Ziel entgegen ohne wirklich zu wissen, ob es sich überhaupt vor ihr befand. Die Menge um sie herum tobte und feierte. Näherte sie sich etwa dem Topf oder entfernte sie sich von ihm? Das laute Rufen der Leute konnte ihr die Antwort nicht geben, es wäre beides möglich gewesen.
Konzentriere dich! Du schaffst es, wenn du den Topf in deinem Kopf siehst. Lilly hielt in ihrer Bewegung inne. Sie atmete tief durch die Nase ein, als könnte sie den Topf erschnüffeln wie ein Hund. Vor ihrem inneren Auge sah sie ganz deutlich den Topf, doch wo befand sich dieser?
Endlose Minuten irrte sie von einer Ecke des Gartens in die andere. Ihre Knie fühlten sich wund und aufgescheuert an doch an eine Aufgabe war nicht zu denken. Ich muss es schaffen, sonst lachen die blöden Hühner noch viel lauter. Dann fuhr Lilly plötzlich rum. Sie setzte sich aufrecht hin. Den Löffel hatte sie in einem kurzen Anfall von Klaustrophobie schon längst in die Büsche verbannt. Ihr Kopf warf sich herum und die Menge verstummte. Was sie wohl vorhatte, mussten sie denken. Sie spürte förmlich, wie man den Atem anhielt. Als könnte sie aus diesem Schweigen ein Anzeichen für ihre Position ersehen, griff Lilly geistesgegenwärtig nach links neben sich. Ihre Hand traf genau auf den Topf und hob diesen leicht von Gras hoch. Mit der anderen Hand entfernte sie die Augenbinde und blickte nicht nur auf den Topf in ihrer linken Hand, sondern auch in die fassungslosen Gesichter der Partygesellschaft. Niemand sprach ein Wort. Lilly erhob sich und blickte stolz um sich. Ihre Mutter fand ihre Leistung durchaus beachtlich. Aus ihrer Perspektive irrte Lilly verängstigt um sich und es tat ihr schon sehr schnell leid, sie überhaupt mit diesem Spiel beunruhigt zu haben. Doch dann blieb ihr Kind plötzlich stehen und verhielt sich wie ein Löwe, der die Witterung einer nahen Antilope aufnahm. Mit einem Male schien sie genau zu wissen, wo sich der Topf befand und schoss zielsicher auf ihn zu. Noch bevor sie das tat, wirkte sie wie alleine auf der Welt und warf entmutigt den Löffel ins Blumenbeet. Als sie erneut innehielt, warteten alle gebannt auf ihre nächste Handlung, denn sie saß genau neben dem Topf. Als sie ihn zielstrebig entdeckte, waren alle verblüfft, denn die Richtungsanweisungen waren zu verworren um aus ihnen eine eindeutige Richtung zu lesen. Nichts deutete daraufhin, dass sie wissen konnte, wo sie saß. Und dann hatte sie den Topf in der Hand und war sichtlich stolz.
Svenja und Marie tuschelten noch immer. „Ja, die ist voll komisch“, hörte Lilly die beiden einander zuflüstern. Jetzt waren die Angst und die Verzweiflung verflogen und es war Platz für Wut. Lilly ging schnurstracks auf die beiden intriganten Kichererbsen zu. Als sie merkten, dass Lilly auf sie zuhielt, verstummten sie, konnten ein letztes Grinsen aber nicht unterdrücken.
„Ihr findet mich also komisch?“ Lillys Stimme überschlug sich beinahe.
Keine Antwort der beiden Mädchen. Genau das wollte sie auch, die beiden Lästermäuler mal sprachlos sehen. Monatelang musste sich Lilly ihren Spott im Kindergarten gefallen lassen, doch damit war ein für alle Mal Schluss.
„Ich finde, ihr seid zwei böse Mädchen. Wieso müsst ihr immer auf mir rumhacken?“ fuhr sie fort. Sie musste eine Träne unterdrücken, so sehr nahm sie das Ganze mit, aber es tat auch gut, endlich mal reinen Tisch zu machen.
„Weil du komisch bist“, rief Marie in einem Motzton. „Überall wo du dich rumtreibst, passieren komische Sachen und keiner mag dich.“
„Bei dir kriegt man eine Gänsehaut, du Ungeheuer!“ warf Svenja bitterböse hinterher. Lillys Wut stieg explosionsartig. Ihr Körper versteifte sich unter dem Druck, der sich in ihr aufstaute. Es würde nicht mehr lange dauern und sie explodierte innerlich. Sie war also besser beraten, es rauszulassen.
Svenja und Marie sahen in Lillys Augen das leidenschaftliche Feuer des Hasses auflodern und erschraken. Sonst war sie doch immer die Stille, die den Ärger über sich ergehen ließ und anfing zu heulen. Doch diesmal war sie stinksauer.
Plötzlich zerplatzten sämtliche Luftballons, die an einer Leine geknotet über Lilly hingen. Alle platzten gleichzeitig, als hätte ein Zeitzünder ausgelöst. Wie konnte das nur passieren?
Das Feuer in Lillys Augen schien sich zu entspannen, verschwand aber nicht ganz. Dafür ängstigten sich Svenja und Marie nun. Lillys Brustkorb hob und senkte sich unbeschreiblich schnell. Ihr Puls musste doppelt so schnell gehen, wie normal.
Lillys Wut hatte sich kurzfristig in die Ballons entladen. Sie konnte ihre Gegenwart erfühlen, dabei waren es nur seelenlose Gegenstände. Bevor sie sich aber an den beiden Mädchen vergriff sollten diese seelenlosen Ballons dran glauben und so lud sie alle überschüssige Wut in sie ab. Der Druck war zu stark für die Luftballons. Sie brachen zusammen und hinterließen nur einen lauten Knall und ein verwirrtes Publikum von Partygästen. Eins stand fest: die Party war abrupt gesprengt. Lillys Wut war noch nicht völlig abgeebbt. Sie fühlte sich schon etwas leichter, weil sie einen Teil ihrer Wut ableiten konnte und weil die beiden Mädchen, die sie seit ihrem Eintritt in den Kindergarten triezten, endlich zu spüren bekamen, dass Lilly sich das nun nicht mehr gefallen lassen würde. Von nun an würde sie den verdienten Respekt erhalten. Oh ja, Lilly Jenssen war eine Kämpfernatur, und was für eine. Und sie hatte gerade erst begonnen!
„Du bist kein Ungeheuer“, sprach Svenja nach einer Weile. „Du bist eine Hexe!“
Das war genau das, was Lilly jetzt brauchte. Einen weiteren Grund, Svenja zu zeigen, wozu sie fähig war, wenn man sie herausforderte. Lillys Wut wuchs wieder und diesmal musste sie alles auf einmal verpulvern. Dummerweise stand ihr Svenja, diese überhebliche kleine Kuh im Weg. Ihr ganzer Zorn übertrug sich in eine konzentrierte Entladung, die Svenja entgegen-schleuderte. Die wusste gar nicht, wie ihr geschah.
Als würde sie auf eine unsichtbare Wand treffen, knallte immenser Zorn auf Svenja und riss sie von ihren Füßen. Ihr kleiner Körper hob vom Boden ab und landete hart rücklings einige Meter weiter hinten im Busch. Lilly brach augenblicklich zusammen. Marie stürzte zu Svenja, Tanja zu ihrer Tochter. Innerhalb weniger Minuten waren alle Gäste verschwunden. Die Eltern von Tom, Luisa und Amelie bekamen es mit der Angst zu tun und wollten ihre Kinder aus der Gefahrenzone bringen. Sie bedankte sich irritiert für die schöne, aber kurze Geburtstagsparty und gingen, noch während sie sich mit durchsichtigen Ausreden entfernten. Marie schleppte Svenja fort. Tanja versuchte den beiden zu erklären was passierte, aber nichts stellte die eingeschüchterten Mädchen zufrieden. Um ehrlich zu sein, sie hörten gar nicht hin, sondern wollten sich nur schnell aus dem Staub machen und ihren Müttern ganz schnell von der unheimlichen Lilly berichten.
Lilly kam wieder zu sich. Es war still um sie herum, als sie wieder das Tageslicht erblickte. Nur ihre Mama und ihr Papa waren bei ihr, keiner der Partygäste. Zunächst wusste sie nicht, wo sie sich befand oder welcher Tag heute war. Sogar ihr eigener Name blieb ihr einige Augenblicke verborgen. Langsam kehrte ihre Erinnerung wieder zurück. Das letzte was sie noch wusste, war Svenja. Sie konnte grad noch sehen, wie das Mädchen von ihr wegflog, durch eine unsichtbare Hand, die sie fortschleuderte. Eine Hand, die seltsamerweise Lilly selbst gehörte.
Ihre Eltern kümmerten sich gut um sie. Sie gaben ihr etwas zu trinken und legten sie im Haus auf die Couch. Lilly war total erschöpft. Sie spürte eine völlige Leere in sich und auch eine Zufriedenheit, endlich mal die Zähne gezeigt zu haben. Doch noch etwas war da, tief in ihr drinnen. Sie konnte es nicht richtig erfassen, sie wusste nur eins: bald wird es soweit sein. Die ersten Anzeichen spürte sie schon seit einiger Zeit in sich aufsteigen, sie konnte sie aber bisher gut unterdrücken. Eigentlich war schon immer etwas in ihr, das herauswollte, aber Lilly konnte es nur sehr selten und dann auch nur für sehr kurze Zeit wahrnehmen. Nie offenbarte es sich ihr so heftig wie eben gerade. Sie spürte gar nicht mal, dass es geschah, sie wusste nur, dass sie die Macht besaß zu tun, was ihr beliebte. Der blöden Svenja eins auszuwischen. Die lässt mich nun in Ruhe, bemerkte Lilly triumphierend. Was das Mädchen dazu brachte, diese Wut in eine physische Energie zu verwandeln, die schließlich ihre Rivalin umwarf, konnte Lilly nicht recht erfassen. Noch nicht. Aber bald würde sich der Schleier der Ungewissheit legen, dass spürte sie deutlich. Und sie spürte deutlich, dass auch ihre Eltern diese Warnung verstanden. Nun hieß es abwarten.
 
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