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4 Seiten

Lilly (Kapitel 18)

Romane/Serien · Spannendes
Lilly drehte sich ab und sah in Richtung Fenster. Mario fand die Geschichte unglaublich. Dass Lilly ihm dieses Vertrauen schenkte und ihm erzählte, was sie offenbar niemanden zuvor erzählt hatte. Niemals würde er dieses Vertrauen missbrauchen und sie verraten.
„Erzählst du es weiter?“ fragte Lilly mit einer belegten Stimme.
„Nein, nicht wenn du es nicht willst“, gab er zurück und er wusste, dass er dieses Versprechen im Leben nicht brechen würde.
„Ich will es nicht.“
Mario dachte scharf nach, wie es jetzt weiter gehen sollte. Dieses kleine Mädchen offenbarte ihm eine Begebenheit aus ihrem Kindergarten, die enorm schaurig war. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass da noch mehr hinter steckte, als bloße Superkräfte. Wieso nur entwickelte sich bei ihr das Gehirn weiter und bei anderen Kindern, bei anderen Menschen nicht? Lillys Eltern wirkten auf ihn wie ganz normale Leute, keine stinkreichen Akademiker, aber auch keine bettelarmen Schlucker, die ihr Kind in einem Karton großzogen. Aber dann war da noch das Gedankenlesen. Sogar ihre Mutter konnte die Gedanken ihrer Tochter empfangen, nach allem was Lilly berichtet hatte.
„Wie ist das eigentlich mit dieser Verbindung zwischen dir und deiner Mutter?“
Lilly drehte sich wieder zu ihm um, blickte ihn aber nicht gleich an. Sie musste sich erst darauf konzentrieren um die richtigen Worte zu finden, es zu beschreiben. „Ich kann meine Mama fühlen, wenn sie bei mir ist oder ich fühle sie nicht, wenn sie nicht bei mir ist. Meinen Papa kann ich auch fühlen. Das kann ich schon ganz lange, so lange wie ich mich erinnere. Weißt du, wenn meine Mama mich im Arm hat, dann fühle ich ihre Berührung auf der Haut aber ich merke auch, wie sie in meinem Kopf ist. Oder in meiner Seele, ich weiß nicht so genau. Und meine Mama kann mich auch in ihrer Seele fühlen, das hat sie mir gesagt. Manchmal wenn ich ganz traurig bin, kann ich sogar mit ihr reden, ohne was zu sagen. Aber nicht so bla bla, sondern dann fühlt sie was ich fühle. Verstehst du, was ich meine?“
Mario jonglierte die Worte Lillys in seinem Kopf hin und her. „Du meinst, ihr habt eine geistige Verbindung und ihr könnt kommunizieren mit Gefühlen oder mit Bildern oder so? Und ihr spürt einander in eurer Seele, so als könntet ihr euch wie mit einem Radar überall wieder finden, wenn einer mal verloren geht?“
Lilly lachte kurz auf. „Ja, so ungefähr.“
Mario blickte ihr tief in die Augen. Er hatte gerade das Gefühl sich gut vorstellen zu können, wie es ist, jemanden in seiner Seele zu spüren. Gerade in diesem Moment fühlte er sich Lilly so nahe, dass er beinahe dachte, sie zu spüren. Aber da spielten ihm seine Fantasien wohl einen Streich. Tatsache war, dass er sie für ihr Talent bewunderte, auch wenn sie beinahe dieses Mädchen aus dem Kindergarten getötet hätte. Scheinbar brauchte Lilly nur etwas Übung im Umgang mit ihren Fähigkeiten.
Lilly erwiderte den Blick von Mario. Sie glaubte erkennen zu können, dass er sie irgendwie beneidete. Sie wollte erst ansetzen ihm zu sagen, dass es keine Notwendigkeit für Neid gäbe, aber das würde ihn sicher nur verschrecken. Diese Geschichte reichte erstmal um ihm zu verstehen zu geben, dass sie nicht wie andere Kinder war. Aber ängstlich war Mario gar nicht. Seltsamerweise schreckte er nicht vor ihr zurück und sah sie angewidert an. Lilly erwartete immer, dass man sie abstoßen würde, wenn sie sich einem offenbarte. Doch dieser junge Mann hörte sich aufmerksam ihre Ausführungen an und schien fasziniert zu sein. Er sprang nicht auf, verriet dem nächst Besten, was er soeben erfahren hatte und löste somit eine Welle der Ablehnung und des Fremdenhasses aus. Lilly hatte sich bisher auch noch niemanden offenbart, aber sie ließ die Begegnung mit Mario nicht als Präzedenzfall für alle nachkommenden sprechen. Es musste nicht unbedingt wieder so gut ausgehen, wenn sie erneut einem Menschen von ihrem Innersten berichtete.
Lilly und Mario blickten sich noch eine Weile so an. Es entstand schon fast eine Art von lautloser Kommunikation unter den beiden, sie verstanden einander, ohne zu sprechen. Allerdings war es nicht so wie bei Lilly und ihren Eltern, aber möglicherweise färbte Lillys Begabung, mit anderen nonverbal zu kommunizieren auf ihn ab, so wie einst auf ihre Eltern. Hoffentlich war es nicht nur Wunschdenken.
Irgendwann erhob sich Mario dann doch. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er eigentlich noch etwas zu tun hatte, bevor er in zwei Stunden Feierabend hatte.
„Ich werd dann mal wieder an die Arbeit gehen.“
„Mario…“ sagte Lilly und winkte ihn noch mal zu sich ans Bett. Er kam zu ihr und näherte sich etwas ihrem Gesicht, weil sie ihn immer noch zu sich heranwinkte, als er bereits neben dem Bett stand. Sie setzte sich auf und gab ihm zärtlich einen Kuss auf die Wange.
„Danke, dass du zugehört hast“, hauchte sie.
„Habe ich doch gerne gemacht. Du kannst immer mit mir reden, wenn du es willst, ich bin für dich da“, sagte er heiser. Er war total von ihrer Reaktion überrumpelt, versuchte sich aber wieder zu fangen. Es war sein erstes Erfolgserlebnis, seitdem er seinen Zivildienst auf der Kinderstation übernahm. Was sein Selbstvertrauen betraf, brauchte er dieses Erlebnis dringend, damit er an sich glaubte, diese Zeit gut überstehen zu können. Und er war bereit, dafür etwas zu tun. Sein erster Schritt in diese Richtung war mit Lilly, die er als Revanche umarmte. Es war eine lockere Umarmung, er wollte sie ja nicht gleich erwürgen. Lilly wusste diese Geste zu schätzen und erwiderte die Umarmung. Ihre Arme versuchten Marios Rücken zu umrunden um sich auf der Rückseite wieder zu treffen, aber sie schafften es nicht. Mehrere Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, verharrten sie in dieser Umarmung und Lilly floss eine Träne aus dem Augenwinkel. Als sie sich aus ihrer Umarmung lösten, stellte Mario fest, dass es Lilly sehr berührt haben musste, aber auch Lilly konnte Gleiches bei Mario erkennen. Auch er hatte angefeuchtete Augen.
„Bis dann, Lilly“, flüsterte er zum Abschied und verließ ihr Zimmer. Lilly sah noch eine Weile zu der Tür, die Mario hinter sich schloss. Ganz so schlimm war es doch nicht, dass ihr Papa sie hier herbrachte. Andernfalls hätte sie Mario nie kennen gelernt, einen Erwachsenen, dem sie endlich mal wieder vertrauen konnte. Nele aus dem Kindergarten vertraute sie auch, aber ihr erzählte Lilly nie etwas über sich in der Tiefe, wie sie es bei Mario tat. Irgendetwas an ihm war anders. Bei ihm spürte sie deutlich diese Ehrlichkeit, diese Treue dem gegenüber, dem sein Herz gehörte. Und ohne, dass es ihm selber bewusst zu sein schien, gehörte nicht nur Lilly sein Herz sondern Kindern allgemein. Mario musste nur noch erkennen, dass er vielen Kindern helfen konnte, wie er Lilly eben half, in dem er nur mit ihnen redete. Wenn er das erkennen und nutzen würde, vielleicht hätte er dann auch eine Vorstellung, wie er seine Zukunft planen könnte. Nach dem Zivildienst war nämlich wieder alles offen für Mario. Sein Bruder war seit drei Jahren Leiter eines Eisenwarengeschäfts. Bei ihm könnte Mario eine Lehre anfangen und dann als stellvertretender Geschäftsführer eine Karriere als Einzel-handelskaufmann beginnen. Doch irgendwie fand er das nicht wirklich als eine lukrative Alternative. Verkaufen konnte doch jeder dumme Bauer und im Endeffekt würde ein Einzelhandelskaufmann nichts anderes tun, als Dinge verkaufen. Mario hatte mit Eisenwaren nicht mal was am Hut.
Kinder mochte er, aber außer dem Wunsch, selbst mal welche zu haben, wagte er sich nicht weiter vor. Beruflich mit ihnen zu tun zu haben, erschien ihm etwas zu viel des Guten. Habgier war eines der sieben Todsünden und seine Begegnung mit Lilly als entscheidender Faktor für seine Berufswahl fungieren zu lassen, schien ihm eine Art Habgier zu sein. Konnte er mit einem Kind gut umgehen, musste er mit jedem Kind gut umgehen können. Nein, Habgier war das nicht, es war Größenwahnsinn. Eine solche Wandlung sah Mario nicht ähnlich. Von selbstunsicher nach größenwahnsinnig in einer Minute war wohl mehr ein Bauchgefühl hervorgerufen durch die überschwänglichen Empfindungen während er mit Lilly sprach. Dieses Mädchen war etwas ganz besonderes, zu speziell, als dass es stellvertretend für andere Kinder stand. Wenn er ähnlich intensive Kontakte zu anderen Kindern bekam, konnte er daraus eine Erfolgsquote ablesen, die ihm Gewissheit bringen würde, ob er mit Kindern gut umgehen konnte oder nicht. Die Zeit wird es zeigen, pflegte seine Großmutter immer zu sagen und obwohl alte Menschen wie sie immer gerne diese alten hohlen Floskeln ausbuddelten, musste er ihr diesmal zustimmen. Abwarten und Tee trinken, um eine weitere zu nennen.
 
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