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Lilly (Kapitel 23)

Romane/Serien · Fantastisches
Mark wollte nicht mehr im Krankenzimmer sein. Er drehte sich seitlich zur Tür hinaus und Tanja folgte ihm. Beide nahmen sie Platz auf den Stühlen in der Wartezone, unweit des Stationszimmers entfernt. Tanja legte ihm eine Hand auf das Bein und spendete ihm so stummes Mitgefühl. Er rieb sich durchs Gesicht und stöhnte unzufrieden auf.
„Sie muss hier raus, unbedingt“, meinte er sicher.
„Ich weiß, Mark. Wir haben das besprochen und uns wird noch was einfallen“, antwortete Tanja, die sonst auch nicht weiter wusste.
Insgeheim gab sich Mark die Schuld an allem. Hätte er seine Tochter einige Tage zuvor nicht ins Krankenhaus gebracht und lieber auf Tanja gehört, die ihm noch empfohlen hatte, abzuwarten, stünden sie nun nicht vor diesem Riesenproblem. Hätte er nur ein bisschen abgewartet, vielleicht hätten sich Lillys Anfälle von alleine zerstreut und sie könnten nun sicherer in die Zukunft blicken. Hätte,… hätte… hätte… . Alle Überlegungen waren nur reine Hypothese. Tanja hätte ihm gesagt, er sollte sich nicht so fertig machen. Er würde es nicht geahnt haben wozu seine Handlungen führten und er hätte nur das Beste für sein Kind gewollt. Und das konnte man ihm nun wirklich nicht übel nehmen. Er wusste, wie sie auf seine Selbstbeschuldungen reagieren würde. Sie hatten sich vor einigen Tagen über seine Entscheidung ausgesprochen und bildeten nun wieder eine Front, ein Team.
„Es ist nicht deine Schuld“, sprach Tanja beruhigend, die ahnte, wie er sich gerade fühlte.
„Das versuch ich mir auch immer wieder klar zu machen, aber ich kann nicht aufhören, mir Vorwürfe zu machen. Auch wenn ich nur im Sinne für Lilly gehandelt habe, ich würde mir trotzdem große Schuld dafür geben, wenn ihr am Ende etwas zustößt. Was ist, wenn sie sie uns wegnehmen? Was ist, wenn sie ihre Anomalien im Gehirn erforschen wollen und sie am Ende noch sezieren, oder so was?“ Aus tränenfeuchten Augen sah er sie eindringlich an.
„Schatz, du darfst jetzt nicht an so was denken. Natürlich wär das schlimm, keine Frage, aber denk jetzt lieber daran, dass alles gut ausgehen wird. Wir holen unser Mädchen hier raus, ganz sicher.“
Wieder seufzte Mark tief und rieb sich durchs Gesicht. Es schien fast so, als wollte er damit seine Vorwürfe wegwischen um danach den Kopf für positives Denken frei zu haben.


Adam drehte sich halb um und sah zur Tür. Die Eltern waren weg, bestimmt nur einen Kaffee trinken. Auf jeden Fall waren sie kaum weit weg gegangen. Er wandte sich wieder seiner kleinen Patientin zu, die mittlerweile tief schlief. Zwei Spritzen Beruhigungsmittel musste er ihr verabreichen, bis sie endlich Ruhe gab. Eine Dosis, die selbst für einen Erwachsenen viel zu viel war. Adam machte sich größte Sorgen, dass es sich negativ auf ihr Gehirn auswirkte.
„Sehen Sie alle halbe Stunde nach ihr und wenn es erste Anzeichen für einen Rückfall gibt, dann rufen Sie mich“, murmelte er der Nachtschwester Anne zu.
„Ja, Doktor.“
Er sah wieder hinab auf den Körper des Mädchens. Er konnte sich nicht erklären, wieso die Nadel beim ersten Versuch abbrach. So stark konnte niemand seine Muskeln anspannen, dass sie einen undurchdringlichen Schutzwall bildeten. Und dann war da noch die mehr als bemerkenswerte Zunahme an Körpergröße. Fast fünfundzwanzig Zentimeter wuchs das Kind innerhalb von Minuten! So etwas hatte Adam Mendelbaum noch nie zuvor gesehen und etwas in der Art war medizinisch gesehen auch komplett unmöglich! Einen Grund musste es dafür unbedingt geben und er hatte die glorreiche Aufgabe, diesen Grund zu ermitteln.
„Ich werde morgen gleich eine Röntgenaufnahme anordnen. Vielleicht auch noch eine CT-Untersuchung.“
„Denken Sie denn, das wäre sinnvoll?“ fragte Anne vorsichtig, die die Entscheidung des Arztes keineswegs anzweifeln wollte.
„Was meinen Sie?“
„Naja, als sie in der Besprechung erwähnten, was im CT geschah, dachte ich irgendwie, dass das Kind Angst bekam und deswegen diese… diese Dinge bewirkte.“
„Sie meinen also, es würde wenig Sinn machen, weil sie den CT wieder unschädlich machen würde?“ Nachdenklich kaute er auf der Zunge herum. „In diesem Falle würde ich sie in ein künstliches Koma versetzen. Das würde zwar verhindern, dass ich die elektrischen Ströme ihres Gehirns nicht so gut messen könnte, wie wenn sie bei Bewusstsein wäre, aber ich könnte sie ganz in Ruhe untersuchen.“ Die letzten Worte sprach er immer leiser vor sich hin.
Anne spürte zwar ein unbehagliches Gefühl bei des Arztes Gedankengängen, aber sie wollte ihm auch nicht widersprechen. Es schien ihr nur nicht recht, weil die Eltern dieser Prozedur kaum zustimmen würden und er dann heimlich vorgehen müsste. Auch wenn so wichtige Erkenntnisse gewonnen werden konnten, die das Leben des Kindes womöglich retten konnten, würde sie sich ganz klar gegen ein künstliches Koma entscheiden. Nicht mal ein Beruhigen mit Tabletten oder Spritzen bis zur Bewusstlosigkeit fände sie empfehlenswert.


„Herr Doktor“, rief Tanja, als sie den Arzt aus dem Zimmer laufen sah.
„Frau Jenssen“, er nickte beiden nacheinander zu. „Ihr Kind ist fürs erste beruhigt und sollte die Nacht durchschlafen.“
„Ich würde gerne bei ihr bleiben.“
„Wenden Sie sich bitte an die Nachtschwester, die macht Ihnen dann ein Bett zurecht.“ Adam drehte schnell bei und ließ die Eheleute alleine. Eigentlich wollte er weniger, dass diese Frau ihr Kind bewacht, aber was hätte er ihr für eine Erklärung anbieten sollen, wieso sie nicht die Nacht im Krankenhaus verbringen durfte.
„Ich bleibe auch hier“; meinte Mark dann entschlossen zu seiner Frau.
„Nein, einer reicht. Du bleibst zu Hause und kümmerst dich da um alles.“
„Um was soll ich mich denn da kümmern? Einkaufen, etwa?“
Tanja beugte sich etwas zu ihm hin und hob ihren Kopf so nah an seinen, dass kaum jemand anderes ihr Gespräch belauschen konnte. „Ich werde hier bleiben und sehen, dass sie nichts mit ihr anstellen, was ich nicht genehmigen würde und du bleibst zu Hause und wartest auf meinen Anruf. Kann sein, dass wir etwas brauchen wenn es losgeht. Du weißt was ich meine.“
Natürlich wusste er es. Wenn Lilly anfängt, sich zu verändern, dann brauchte sie jemanden an ihrer Seite, dem sie vertrauen konnte. Und sollten sie ihren Plan, Lilly aus dem Krankenhaus zu entführen, da man davon ausgehen musste, dass Doktor Mendelbaum sie nicht so einfach gehen lassen würde, wahr machen, musste jemand sie schnell abholen. Proviant einpacken, eine Decke mitnehmen, alles Dinge, die nicht schon im Wagen lagen. Er verstand so langsam die Logik in Tanjas Vorschlag.
„In Ordnung, bleib du bei ihr. Aber wenn es irgendwas Neues gibt, dann ruf mich an. Ich lass das Handy immer eingeschaltet, auch wenn ich einkaufe oder unter der Dusche stehe.“
„Einverstanden.“
Aus Reflex lugte Tanja auf ihr Handy und sah zufrieden, dass der Akkuladestand bei vier von fünf Balken stand. Sicherlich reichte er noch einige Tage aus, bis er wieder aufgeladen werden musste.
Mark drehte sich nach einem Kuss unvermittelt in Richtung Ausgang und Tanja ging zurück ins Zimmer von Lilly. Die Nachtschwester sorgte gerade dafür, dass Lillys Kopf bequem im Kissen lag. Als sie sie fragte, ob sie ein Bett für sie bereitmachen konnte, nickte diese respektvoll und verschwand.
Tanja strich ihrem Kind übers Haar. Es klebte schweißnass an ihrer Stirn. Bei der Berührung überkam Tanja ein vertrautes Gefühl, es war nur wesentlich stärker, als jemals zuvor. Es war wie im Kindergarten vor einigen Wochen, als die Erzieherin sie zum Gespräch bat. Die ganze Zeit fühlte sie ihr Kind nahe bei sich, als wäre sie eine flüsternde Stimme hinter ihrer Stirn. Jetzt war das Gefühl erneut da, aber sie war keine flüsternde Stimme mehr, sondern ein Chor aus vielen Stimmen, aus vielen Empfindungen, die sie wie Fotos für ein Album sortieren musste. Es war nicht leicht, zuzuordnen, was reale Empfindungen, Ängste über was war und was kommen wird und was davon Träume waren, aber es waren allesamt sehr starke Empfindungen. Eines der stärksten Emotionen, die Lilly ihr übermittelte, war Schmerz. In ihr brodelte ein Vulkan, der bereits mehrmals ausbrach, doch es war wie bei einem Erdbeben nur ein Vorgeschmack. Die wirklich schlimmen Erschütterungen, die auch eine Vielzahl an Opfern mit sich brachte, standen noch aus.
In diesem Wirrwarr an Gedanken und Empfindungen entdeckte Tanja einen Hilferuf. Sie merkte gar nicht wie sie sich einen Stuhl holte und sich neben dem Bett ihrer Tochter niederließ, so sehr war sie in telepathischem Kontakt zu Lilly befangen. Dieser Hilferuf richtete sich speziell an Tanja. Sie verstand was er bedeutete. Es waren auch eher Bilder als Worte, die sie wahrnahm. In all den Bildern las sie dennoch eine klare Botschaft: holt mich hier raus, sonst bin ich bald tot!
Tanja kämpfte heftig gegen ihre Tränen an. Nach endlosen Minuten verlor sie den Kampf und brach über Lillys Decke zusammen. Sie versuchte nicht zu viele Geräusche zu machen, aber die starke unnahbare äußere Schale, die Tanja den Ärzten präsentierte, fing an zu bröckeln. Mark würde sie sicher beruhigen wollen und sie in den Arm nehmen, aber Tanja hatte einfach keine Lust, es zu unterdrücken. Sie hielt an dem Glauben fest, dass sie sich erstmal ausweinen musste, und dann würde es ihr besser gehen. Mit angestauten Emotionen ließ es sich nicht vernünftig nachdenken, wie die nächste Zukunft aussah. Schließlich hörte Tanja allmählich auf zu weinen und fiel in einen unruhigen, traumlosen Schlaf. Das einzige, was ihr den Schlaf trotzdem als eine Erholung vorkommen ließ war die geistige Verbindung zu Lilly, die sich die ganze Nacht aufrecht hielt.
 
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