362


16 Seiten

Ouray, Colorado - Teil 1

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
Ouray, Colorado war nicht das, was Rick sich vorgestellt hatte, als er aus dem Überlandbus gestiegen war. Das Umsehen nahm nicht viel Zeit in Anspruch und nur der Schnee und die Temperaturen hielten ihn dort, wo er war. Er hatte sich festgefahren – keinen Cent mehr in der Tasche.
Geh dich aufwärmen, buddy.
Ouray wurde die Rekordstadt – siebentausend Einwohner und es dauerte drei Stunden, bis die Cops ihn hatten. Sheriff Norman Overturf, erschreckend kräftig und breitschultrig unter seinem schneebeladenen Hut, war ein Mann der Tat und packte ihn in seinen Dienstwagen, um ihn in die Station zu fahren. Rick saß zusammengesunken in dem Polster, kratzte sich gleichgültig den Bauchnabel und weigerte sich, irgendwelche Fragen zu beantworten. In der Station war ein Lockenkopf gerade dabei, genießbaren Kaffee aufzusetzen, es roch so verführerisch, dass Ricks Mund wässrig wurde.
„Wen bringst du denn da mit?“
„Mal sehen“, erwiderte Overturf, „bis jetzt bin ich aus ihm noch nicht schlau geworden.“
Sie betrachteten ihn wie ein seltsames Tier, ließen ihn vor dem Schreibtisch Platz nehmen und schienen zu knobeln, was mit ihm zu tun sei. Verhöre hatten immer das gleiche Schema, besonders, wenn es um nichts ging. Rick hatte nichts angestellt, dazu hatten sie ihn zu früh aufgegriffen. Er hatte versucht freundlich zu sein, aber manchmal nützte das eben nichts.
„Wie ist dein Name? Was hat dich hier her verschlagen? Hast du hier Freunde oder Verwandte? Besuchst du jemanden? Hast du was auf dem Kerbholz? Spuck’s aus, wir kriegen das sowieso raus.“
„Rick Scanlon“, antwortete Rick, „ich bin unterwegs und das Geld ist mir ausgegangen. Ich will keinen Ärger mit euch Typen. Ich bin einfach nur abgebrannt.“
Ist gut, dass es Winter ist. Im Sommer hätten sie mich irgendwo ’ne Straße asphaltieren lassen.
Der Deputy, auf dessen Namensschild am Hemd H. Herbert stand, grunzte ganz tief aus seiner Kehle, hielt noch immer den Becher Kaffee auf Mundhöhe, obwohl er noch keinen Schluck genommen hatte. Der Geruch der Bohnen reichte aus, um Rick daran zu erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte.
„Ouray ist eine kleine Stadt“, sagte Overturf, „wir leben von der Holzindustrie und haben ein wenig Skitourismus. Jeder von uns muss sehen, dass er seine Familie über die Runden bekommt. Scanlon, du kannst dir ausmalen, dass wir Typen wie dich hier nicht gerne sehen.“
„Vorgestern“, murmelte Rick.
Sheriff Overturf zog die Brauen zusammen, stützte sich mit den Handflächen auf dem Schreibtisch ab und schien sich zu fragen, ob er soeben verarscht worden war.
„Was?“
Rick war verdammt müde, hungrig und durchgefroren. Als er irgendwann in Utah in den Bus gestiegen war, hatte er noch gehofft, die nächste Stadt würde besser werden, irgendwann mussten Pechsträhnen ja mal enden, aber allein schon von zwei Cops verhört zu werden, nur weil man im Diner (und nicht mal in einem besonders eleganten) eingeschlafen war, deutete auch weiterhin auf Sturm.
„Vorgestern hab ich das letzte Mal was gegessen“, erklärte er, „mir hängt der Magen so weit durch, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Das letzte Geld ist für die Fahrkarte draufgegangen.“
„Das ist nicht unser Problem.“ Overturf schien besänftigt, aber Mutter Teresa der Berge war er nicht. „Wir werden keine Kollekte für dich veranstalten.“
Rick konterte: „Es würd mir schon helfen, wenn ihr mich laufen lasst.“
Overturf und Herbert sahen ihn mitleidig an. Natürlich ließen sie ihn nicht laufen.

Rick saß vier Stunden in einer der beiden Zellen, zusammen mit einem Junkie auf Entzug, der nur noch zitterte und nicht mal mehr sein Namen kannte. Rick starrte bewegungslos die Wand an, wartete auf das Unausweichliche, das kommen würde, und es kam, als der Sheriff ihn aus der Zelle holte, um seine Personalien zu kontrollieren, wie er es nannte. Die Prozedur war auch bekannt und so unangenehm wie eh und je. Rick musste sich ausziehen und sie filzten seine Sachen.
„Du bist also ohne Gepäck unterwegs?“
Alles, was er noch besaß, war in seinen Jackentaschen. Sie fanden ein Feuerzeug, eine halbe Packung Zigaretten, einen Kugelschreiber, ein leeres Röllchen Aspirin, ein Stück Draht und sein Messer.
„Oh Junge, zum säubern der Fingernägel ist das aber ein wenig zu groß, findest du nicht?“
Sie begutachteten ihn wie Metzger ein Stück Vieh, ließen ihn nackt und frierend im Zellenvorraum stehen, die Arme ausbreiten, sich umdrehen und die Beine spreizen. Sie kommentierten jede Narbe, jeden Fleck, jedes Härchen, jedes Tattoo. Sie fragten, in welche Chemikalie er seinen Schädel gesteckt und ob er das gern gemacht habe.
Währenddessen begann der Junkie in der Zelle zu lamentieren. Sein Geheul lenkte die Polizisten nur unwesentlich von ihrer Tätigkeit ab.
„Das sind Knast-Tattoos. Wo hast du gesessen? Weswegen?“
„Bist du auf Bewährung?“
„Wer hat da versucht dich abzustechen?“
„Weiß deine arme alte Mutter, was du da mit dir angestellt hast?“
Overturf kommentierte jede von Ricks knappe Antworten mit einem Nicken oder Kopfschütteln, aber das System dahinter wurde nicht ersichtlich.
Sie kochen mich ab, dachte Rick.
Er war müde und wütend zugleich, dass diese Show kein Ende fand.
Als er sich endlich wieder anziehen durfte, war der Junkie in seiner Zelle ohnmächtig geworden, aber niemand ging nachsehen, ob er nicht mittlerweile an seiner eigenen Kotze erstickt war.
„Du verschwindest“, sagte Overturf, „ich buchte dich nur nicht ein, weil mir der heulende Trottel da drin schon zu viel ist. Den hat sein Vater hergebracht, um ihn von den Drogen loszukriegen, aber ich betreibe keine verdammte Betty-Ford-Klinik und auch keine Notunterkunft.“
Während er sein Statement abgab, zog Rick sich an, stand dann auf löchrigen Socken vor dem Sheriff und wartete. Irgendwann hörte er nicht mehr zu, seine Gedanken schweiften hierhin und dorthin, dann bekam er gerade noch mit: „... du verschwindest in den nächsten Stunden aus der Stadt und machst einen großen Bogen um den Bezirk, falls du dich irgendwann mal wieder in diese Gegend verirren solltest. Du setzt dich in den Bus oder gehst zu Fuß, das ist mir egal. Sollte ich dich irgendwo aufgabeln, verfrachte ich dich eigenhändig ins Bezirksgefängnis. Hast du’s kapiert?“
Natürlich hatte er verstanden, jeder Idiot hätte bei dieser Drohung die Beine in die Hand genommen.
Sie ließen ihn tatsächlich laufen, bis auf das Messer bekam er seine Sachen zurück und musste dafür unterschreiben. Seine Unterschrift war krakelig und windschief und war kaum zu entziffern. Sein Messer würde er vermissen, aber so etwas war nicht unersetzlich, nur ein ärgerlicher Verlust. Overturf und H. Herbert warfen ihn auf die Straße.
Es musste noch einige Grade kälter geworden sein, seine Nase begann zu laufen und sein Atem stand in einer weißen Wolke vor seinem Gesicht. In Colorado gab es jede Menge Schnee, einen halben Meter hoch in der Stadt, wo er nicht geräumt war und Rick dachte, dass er nicht trampen würde. Das war etwas für trockene und warme Gegenden und für Zeiten, in denen man sich nicht beide Füße abfror.
Warten wir auf den nächsten Bus, der irgendwo hin fährt, dachte er.
Er war zwar pleite, aber um die Bezahlung machte er sich keine Gedanken. Er konnte in neunundzwanzig Sekunden einen Wagen aufbrechen, kurzschließen und grinsend davonfahren; aber den Besitzer nicht merken zu lassen, dass in seinen Wagen eingebrochen worden war, dauerte etwas länger.
Hier in Ouray schien es angebracht, ein wenig mehr Zeit zu investieren.
Er klapperte eine Reihe geparkter Wagen ab, hielt nach den Cops Ausschau, ob sie ihm gefolgt waren, aber er fühlte sich sicher. Auf sein Gefühl konnte er sich immer verlassen. Overturf hatte ihm seinen Draht zurückgegeben, dumm genug von dem Sternträger, den Rick jetzt dazu benutzte, eines der Autos aufzubrechen, in dessen Hutablage er eine Handtasche entdeckt hatte. Er war nur scharf auf das Bargeld, alles andere interessierte ihn nicht. Mascot hatte ihm beigebracht, sich nur das zu nehmen, was er brauchte und daran hielt er sich noch immer, weil es eine gute Regel war. Denn manchmal brauchte man auch alles und man konnte es sich nehmen, ohne diese Regel zu brechen.
In der Handtasche fand er ein Portemonnaie und darin einhundert Dollar, die er sehr dankbar einsteckte. Bevor ihn jemand in dem fremden Wagen erwischen konnte, legte er die Handtasche zurück, stieg aus und schlug die Tür ins Schloss. Mit einhundert bucks kam er schon weiter, selbst, wenn er sich mehr leisten wollte als nur eine Busfahrkarte in eine wärmere Gegend.
Die Kälte kroch tief bis in seine Knochen, ließ ihn zittern und noch hungriger werden, trotzdem entschied er sich für den Bus. Er kaufte sich ein Ticket, ohne sich wirklich für die Route und das Ziel zu interessieren, stieg ein und hatte mit Ouray bereits abgeschlossen.
Der Bus war noch nicht einmal halb voll. Der Fahrer trug eine dicke Lammfelljacke und eine Strickmütze, die seine Segelohren betonte, er musterte Rick kurz und nickte dann freundlich. Rick setzte sich weit nach hinten in eine Reihe, nahm den Fensterplatz. Seine kalten Füße tauten etwas auf, ebenso wie seine Hände. Er dachte an ein gutes Frühstück in dem Nest, wo der Bus als nächstes halten würde. Der Motor wurde angeworfen, Rick sah aus dem Fenster, wo die letzten Passagiere die Beine in die Hand nahmen. Ein paar Jugendliche in Thermojacken und Moonboots stiegen ein, füllten den Greyhound mit Geplapper und Gelächter. Die hydraulische Tür neben dem Fahrer schloss sich, der Bus rollte an und bahnte sich seinen Weg durch die schneebedeckte Straße.
Irgendjemand, wahrscheinlich die Jugendlichen, hatte ein Radio eingeschaltet und die plärrende Musik erfüllte den ganzen Bus. Rick lehnte seine Stirn gegen die kalte Glasscheibe, die sich durch seinen Atem zu beschlagen begann.
Das war’s, Ouray, dachte er, noch ein weißer Fleck auf meiner persönlichen Landkarte.
Im langsamen Tempo fuhren sie aus der Stadt heraus, kamen nach einigen Meilen an einer einsam gelegenen Villa vorbei, die wie eingesunken im ebenmäßigen Schnee lag. Zwei Fahrspuren parallel hinter sich herziehend konnte Rick in der Nähe des Hauses ein Schneemobil sehen.
Durchgeknallt und zuviel Geld, dachte er, schloss einen Moment die Augen, wer immer da durch die Gegend fährt – Sorgen hat der nicht.
Die Villa mit dem dunklen Dach ragte wie ein Zeichen aus der Schneelandschaft heraus, dahinter erstreckten sich die Berge, das Skigebiet und die Wälder, ansonsten gab es nichts, das Auge hatte sich auf den wichtigsten Punkt zu konzentrieren.
Rick blinzelte wieder hinaus, sah zu dem Haus hinüber und seine Kopfschmerzen begannen. Das Geplärre aus dem Radio verzerrte sich, waberte in seinem Schädel umher und verstärkte den Druck unter dem Dach. Er drehte sich aus dem Sitz, suchte nach den kids und entdeckte sie zwei Reihen vor sich, auf der anderen Gangseite.
„Hey“, bellte er dem Mädchen entgegen, die sich sofort zu ihm herumdrehte, mit ihrem Kaugummi eine Blase machte, „mach die Kiste aus, Okay?“
Es war in seiner Stimme und in seinem Blick, dass sie ohne Widerworte reagierte. Zwar war sie gekleidet und grell geschminkt wie eine, die auf dem besten Wege war, professionell die Beine breit zu machen und die Knie in die Luft zu strecken, aber ein böses Wort und sie kuschte.
Ein scharfer stechender Schmerz bohrte sich hinter seine Augen, dass er nicht mehr hinaus in den Schnee sehen konnte, zog sich bis in seine Stirn. Mit kalten Fingern begann Rick die Stelle zwischen seinen Augen zu massieren, obwohl er wusste, dass das nicht helfen würde.
Mascot meldete sich, aber seine leise flüsternde Stimme blieb unverständlich.
Komm schon, verflucht, dachte Rick, wenn du was zu sagen hast, werd’s endlich los.
Manchmal war Mascot so laut, dass er glaubte, alle würden ihn hören können, aber das kam selten vor.
Helle Sterne tanzten vor seinen tränenden Augen, vermehrten sich mit rasender Geschwindigkeit. Der Schmerz sammelte sich zwischen seinen Augen, suchte sich das Zentrum und Rick war es egal, was alle anderen Insassen des Greyhounds von ihm halten würden – so weit es die engen Sitzreihen zuließen, beugte er sich zu seinen Füßen herunter, klappte sich zusammen und presste sich den Handballen zwischen die Augen. Dann, als er meinte, es nicht mehr aushalten zu können, zerstoben die Funken in seinem Kopf und es war vorbei. Als hätte jemand das Licht ausgeschaltet.
Er hatte sich nur ganz am Anfang Sorgen deswegen gemacht. Mascot hatte es als sein ‚Radar’ bezeichnet und irgend so etwas war es wirklich, wenn er es sich auch nicht erklären oder auch nur richtig begreifen konnte.
Mit dem Schmerz war auch das Gemurmel verschwunden, er setzte sich wieder gerade hin und tat so, als sei alles in bester Ordnung.
Was ist es diesmal? dachte er, eine verspätete Warnung vor Ouray? Sorry – zu spät. Ich hab bereits das große X gemacht und der Strip, den ich hingelegt hab, war auch nicht von schlechten Eltern.
Es war vernünftig weiterzuziehen, sich irgendwo einzuquartieren, sich satt zu essen und zwei Stunden lang heiß zu duschen. Sich zu rasieren, nach einer Chica Ausschau zu halten und sehen, dass man zum Zuge kam, vielleicht noch etwas Pot rauchen und sich dann erst wieder Gedanken machen, wenn der letzte Cent ausgegeben war.
Der Greyhound wühlte und röhrte sich weiter durch die Winterlandschaft, ächzte sich die Steigungen des Skyrocket Creek hinauf und schien das einzige Fahrzeug auf der ganzen Strecke zu sein. Die Jugendlichen unterhielten sich über irgendwelche Sänger und Schauspieler, stritten darüber, wer besser aussah, wer den hübscheren Hintern hatte und wer „schärfer“ war, während die einzelnen Erwachsenen einfach nur dasaßen und auf das Ziel warteten.
Rick dachte an seinen letzten Fick. Er war mit seinem ausgeliehenen Ford in einer Ansammlung von Wochenendhütten liegen geblieben. Dort hatte er es nicht eilig gehabt wieder wegzukommen, denn eine der skifahrenden Frauen, die ihrem Mann auf der Piste nicht hatte folgen können, hatte sich bei ihm den Ausgleichssport besorgt. Er hatte sie angesprochen und auf einen Drink eingeladen. Wenn er lächelte und sich Mühe gab, aufmerksam und schlagfertig zu sein, schleppte er auch Bräute ab, die ihn unter anderen Umständen nicht mal unter ihren Wagen kriechen lassen würden. Namen vergaß er sehr schnell wieder, aber er vergaß niemals ein Gesicht. Sie war hübsch gewesen, aber so oberflächlich, dass sie mit seiner tiefen Wut nicht hatte umgehen können. Es war in Ordnung, solange sie sich nur irgendwo trafen, um es miteinander zu treiben, aber sie wollte mehr. Sie wollte mit ihm angeben oder schockieren, die Aufmerksamkeit ihres Göttergatten wieder auf sich ziehen, aber das war nicht Ricks Weltauffassung. Er mochte es, sie zu bumsen, sie zu fühlen und zu sehen, dass es sie ebenso anmachte, aber die Wut brach aus ihm heraus, wenn sie von ihm verlangte, sie auf Partys zu begleiten. Er hatte behauptet, die Tätowierungen seien aus dem Krieg und sie hatte es ihm geglaubt, obwohl er dazu viel zu jung war und als er sich wie eines ihrer Paar Schuhe fühlte, hatte er ihr die Wahrheit gesagt.
„Das hier ist der Vogel einer irischen Münze und die hab ich aus dem Knast von Indianapolis. Scanlon ist ein irischer Name, meine Alten hatten beide irische Vorfahren. Die beiden hier sind aus New Mexico, den Tatoo-Shop hab ich nur gefunden, weil ich zu besoffen zum weiterfahren gewesen war. Ich hatte ungefähr zehn Stunden hinter dem Lenkrad gesessen, mit einer Flasche Jameson zwischen den Beinen, während sich mein buddy auf dem Rücksitz von einer mexikanischen Hure einen runterholen ließ. Das hier ist ein Andenken aus New York. Da hab ich auf Rikers Island gesessen und hab für ein paar Zigaretten und Dope jedem ein paar Zähne ausgeschlagen. Willst du noch immer, dass ich mit auf eine verfickte Party gehe?“
Sie hatte erst geheult, dann irgendwas nach ihm geworfen, weil sie das vielleicht bei ihrem Mann tun konnte, aber Rick hatte sie sich gegriffen und ihr zweimal kräftig rote Wangen verpasst. Manchmal konnte auch er mit seiner Wut nicht umgehen – aber im Bett war sie wirklich gut gewesen.
Darüber dachte er nach, die Stirn wieder an die Scheibe gelehnt, die Augen halb geschlossen und die Füße weit unter dem Sitz des Vordermannes, als er ein tiefes Dröhnen und Brummen hörte. Er spürte die Vibration, die nicht von dem Bus kam, in seinem Brustkorb und in seinem leeren Magen. Es war, als würde ein Flugzeug über ihnen hinweg fliegen. Die Gespräche verstummten in dem Bus, die Rothaarige sah sich beunruhigt um. Rick zuckte zusammen, als habe er einen Stromschlag erhalten, presste sich in das Polster und Mascots Stimme zog einmal durch jede Faser seines Körpers. Im selben Moment, als er an eine Lawine dachte, trat der Busfahrer mit aller Macht auf die Bremse, so dass der Greyhound mit einem harten Ruck nach vorn die Passagiere von ihren Sitzen holte. Auf der glatten Straße brach er zur Seite aus, rutschte ungehindert weiter und schien ewig nicht zum Stillstand zu kommen. Ein Baby begann zu kreischen, jemand schrie kurz und abgehackt und verstummte wieder. Eines der Mädchen zog asthmatisch die Luft ein. Rick hockte in seinem Sitz, bohrte die Knie in den Vordersitz und hielt die Schultern hochgezogen, das Gesicht hatte er von dem Fenster abgewandt, um sich vor den Glassplittern zu schützen, falls die Scheibe bersten sollte.
Endlich kam der Greyhound zum Stehen, quer zur zweispurigen Straße und wenige Meter vor der glänzenden Außenhaut des Busses ging eine gewaltige Lawine von der Steilwand ab. Das Dröhnen und Vibrieren hielt noch immer an, übertönte die anderen Geräusche im Bus und Rick beobachtete atemlos, wie die unübersehbaren Massen von Schnee und Geröll über die Fahrbahn rutschten, sich mit Tempo nach unten und vorwärts schoben und dann irgendwann zum Erliegen kamen. Von seiner Position aus konnte er nicht sehen, wie breit die Lawine war, aber der Schnee türmte sich über der Straße höher als der Bus auf. Einzelne dicke Baumstämme steckten in dem Schnee, wie Zahnstocher in Rührei, der sich noch immer schwach bewegte, hier und dort noch nachrutschte und alles in Bewegung hielt.
Wie versteinert hockte der Busfahrer mit ungläubigem Gesicht auf seinem Fahrersitz, hielt noch immer das Lenkrad umklammert und starrte aus dem Fenster.
„Junge“, flüsterte er, „Junge Junge.“
Er drehte sich mit blassem Gesicht zu seinen Passagieren um, die ihre herumgewirbelten Habseligkeiten einsammelten. Bücher, Handtaschen, Brillen, Getränkedosen und das Radio, das alles fand mehr oder weniger schnell seinen Besitzer wieder.
„Möchte jemand mit nach draußen sich das ansehen?“ fragte der Fahrer.
„Fuck ja“, sagte Rick mit vorgetäuschter Begeisterung, blieb aber sitzen, bis der Fahrer die hydraulische Tür geöffnet hatte und selbst ausgestiegen war, dann erst folgte er ihm.
Sollte ruhig erst mal jemand den Kopf riskieren, der dafür auch bezahlt wurde.
Die Rothaarige trennte sich von ihrer Gruppe und wagte es ebenfalls. Das Dröhnen war verstummt, als wäre es nie da gewesen, aber die Lawine war ganz deutlich und unverkennbar – eine Lawine. Mit scharfen Augen starrte der Fahrer die entfernte Steinwand hinauf, an der sich die Lawine gelöst hatte, trat näher an den Berg Schnee heran, der ihn weit überragte. Da würde auch kein Schaufeln und Baggern helfen, die Straße nach Montrose war unpassierbar. Es würde Tage dauern, bis der Verkehr wieder rollte.
Rick besah sich schweigend diese Sache, die ihm sicher noch einigen Ärger einhandeln würde.
„Wir können nicht weiter“, sagte der Fahrer.
„Ein paar Sekunden später und wir wären alle tot.“ Das kam von der Rothaarigen, Rick drehte sich zu ihr um und dachte: Okay, um dich wär’s schade, aber nich’ um den Rest.
„Kein Wort darüber. Wir fahren zurück.“
Der Fahrer scheuchte sie in den Bus zurück und hatte dann arge Probleme, den Greyhound zu wenden und in die Gegenrichtung zu bekommen. Für solche Manöver war das Monster nicht gebaut worden.
Rick fragte den Fahrer: „Krieg ich mein Geld für die verdammte Fahrkarte wieder?“ erwartete aber keine Antwort. In seinem Sitz erwischte er sich dabei, dass er ständig Blicke zur Steilwand hinüberwarf. Es würde sich keine Lawine mehr lösen, aber trotzdem war er erleichtert, als sie die Wand hinter sich ließen und nach wenigen Meilen die Villa wieder auftauchte. Overturf würde ausflippen, dass er noch immer in Ouray war und so schnell nicht verschwinden konnte, aber die Kleinstadt war vielleicht doch schon groß genug, um Rick eine Weile untertauchen zu lassen.
Zieh deine Tarnkappe über, Ricky.
Der Bus rollte in die Station und hielt an. Endlich löste sich die Spannung und alle Passagiere redeten durcheinander und gestikulierten und palaverten, kamen gar nicht schnell genug aus dem Bus, um dieses Erlebnis direkt weitergeben zu können. Rick wusste nicht wohin, also zog er einfach los, hielt die Augen offen und dachte darüber nach, so schnell wie möglich etwas in seinen Magen zu kriegen.


Sammy Joe hatte den Herrgott einen guten Mann sein lassen, war erst gegen Mittag aufgestanden, hatte sich angezogen und war auf ein Frühstück mit Eiern, Schinken und Kaffee ins Diner gegangen. Das Frühstück war für sie immer umsonst, denn sie kannte den Koch und hatte auch noch immer irgendwo den Zweitschlüssel zu seinem Haus herumliegen. Wenn sie irgendwann einmal aufräumte, würde sie ihn finden, ganz sicher. Man sah ihr die lange Nacht mit Tanz und Alkohol an, es hatte ihr fein geschnittenes Gesicht aufgeschwemmt und käsig werden lassen, aber was machte das schon – Partygirls hatten auf Partys gut auszusehen. Der Zustand am nächsten Morgen interessierte niemanden.
Sammy Joe erinnerte sich sehr schemenhaft an den jungen Mann, mit dem sie auf die Toilette verschwunden war, konnte aber nicht mehr sagen, wer er gewesen war. Für schnelle zehn Minuten hatten sie das Bad blockiert, hatten sich nur das nötigste textilfrei gemacht und Sammy Joe hatte dem unbekannten Partygast demonstriert, wie sie ein Kondom mit den Lippen überziehen konnte. Das hatte ihm gefallen. Dafür war er dann leider schnell fertig gewesen. Er hatte sich in sie hinein geschoben, sie gegen die Wand gedrückt und dann gut durchgebumst, wie er meinte, aber Sammy Joe hatte es kalt gelassen. Noch während sie ihr Stöhnen gespielt hatte, konnte sie sich schon nicht mehr daran erinnern, weshalb sie eigentlich mit ihm mitgegangen war.
Im Nachhinein war es wieder etwas, wofür sie sich schämte und deshalb dachte sie über vergangene Dinge nicht gerne nach. Besonders nicht über Dinge, die auf Partys passiert waren. Das Frühstück hier brachte sie immer in die Realität zurück; ließ sie vorsichtige Pläne machen, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte, aber meist war das alles am Nachmittag schon wieder vergessen. So lief ihr seltsames kleines Leben in Ouray, es würde sich auch nie etwas dran ändern, wenn sie es nicht selbst änderte.
Eine Wintersaison hatte sie sich einen Touristen angelacht und war der Vorstellung erlegen, er könne sie mitnehmen wollen, aber als sie so etwas angedeutet hatte, hatte er nur schallend gelacht und gemeint, sie solle mit diesen blöden Scherzen aufhören; seine Freunde könnten noch auf den Gedanken kommen, dass sie es ernst meinte. Sie sei ein Urlaubsfick und mehr nicht.
Sie trank viel Kaffee mit Süßstoff, bis sie sicher sein konnte, dass ihre Augen von allein auf blieben.
Aimee setzte sich zu ihr, zog sich Mantel und Handschuhe aus und bemerkte: „Du musst deine Haare nachfärben. Ich kann den Ansatz erkennen.“
„Selber Hallo. Was machst du hier?“
„Der Bus wäre beinahe verunglückt. Drei Meter vor uns ist eine Lawine runtergekommen und wir mussten umdrehen. Gute Nachrichten. Es kann Tage dauern, bis die Straße wieder frei ist.“
„Ich will hier gar nicht weg, was interessiert es mich, dass die Straße gesperrt ist.“
„Wenn’s den Bus erwischt hätte, wären wir jetzt alle tot.“
Sammy Joe sah auf, zuckte mit den Schultern und sagte sehr ungnädig: „Irgendwann erwischt es uns alle.“
„Du solltest für ’ne Weile die Partys aussetzen – sie bekommen dir nicht.“
Aimee kam aus einer guten Familie mit Geld, war verlobt (obwohl sie das stets abstritt) und bei ihr war es nicht tragisch, dass sie fröhlich in den Tag hinein lebte und sie keinen Job hatte. Sie würde sowieso heiraten und vermutlich schon schwanger sein, bevor die Flitterwochen richtig angefangen hatten.
„Die Partys halten mich am Leben“, erwiderte Sammy Joe.
„Hast du was Besonderes vor heute?“
In Ouray waren die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung eingeschränkt, aber sie waren da. Es gab ein paar Bars, einen ‚Pinball’, in dem Rennen gefahren und Leute abgemurkst wurden, der aber trotzdem bei den meisten noch immer Flipperbude hieß, ein Ballroom, der nur Freitags und Samstags geöffnet hatte und noch andere weniger interessante Dinge. Sammy Joe wäre am liebsten zurück in ihr Bett gekrochen, aber das brauchte sie gar nicht erst zu versuchen.
„Mach’n Vorschlag“, sagte sie.
Aimee zupfte abwesend an ihrem roten Haar herum.
„Für die guten Sachen ist es noch zu früh, aber was hältst du von einer Runde Fußgängerkill?“
„Okay.“
Es schien immerhin besser, als hier weiter herumzuhängen und Kaffee zu trinken, bis ihr Herz sich überschlagen würde. Aimee hatte immer genug Kleingeld in der Tasche und sie war sich nie zu schade, ein paar Runden am Automaten zu spendieren. Und es war Okay, die Stunden bis zum Abend so zu verbringen und dann zu sehen, ob irgendwo eine Party angesagt war. Im Pinball, der Joystickhölle, trafen sie die bekannten Gesichter von Ouray, man kannte sich, weil man gemeinsam zur Schule gegangen war, aber man mochte sich nicht besonders. Aimee und Sammy Joe hatten sich irgendwann aus den Cliquen ausgekoppelt. Sie teilten sich eine Ballermaschine, spielten lustlos und nur, um sich die Zeit zu vertreiben, nicht um Punkte zu machen. An der Bar tranken sie eine Coke, sahen sich gelangweilt um und Aimee bemerkte: „Der war auch mit im Bus.“
„Wer?“ fragte Sammy Joe, verdrehte den Hals und brummte enttäuscht, als Aimee unverfroren mit dem Finger quer durch den Raum deutete und auf jemanden zeigte, den sie nicht kannte. Er sah aus, als würde sie ihn auch nicht kennen wollen – kein Partytyp.
„Den hab ich noch nie in Ouray gesehen.“
„Ich auch nicht“, sagte Aimee, „er war nur mit im Bus und er hat nicht begeistert ausgesehen, als wir umgedreht sind.“
Sie erwähnte nicht, dass er sie in dem Bus heftig angeblafft hatte, weil ihr Radio zu laut gewesen sei. So etwas vergaß sie prinzipiell sofort wieder.
Sie gingen zurück an die Alienkillermaschine, vertrieben sich die Langeweile, es war wie an jedem Tag in Ouray.
Sammy Joe wusste nicht, was los war mit ihr; sie fühlte sich unruhig und daneben, hätte gern ein paar Bier getrunken, aber die Bude hier schenkte keinen Alkohol aus, natürlich nicht. Anstatt sich auf das Spiel zu konzentrieren, drehte sie sich immer wieder um, tat dabei so, als müsse sie ihr Haar richten oder ihren Pullover zurechtzupfen, aber Tatsache war, dass sie immer wieder in die Ecke stierte, wo der Typ aus dem Bus saß. Sie wollte sehen, was er machte.
Es war sehr deutlich, dass er sich von allen anderen Typen in der Spielhölle unterschied. Er war älter als die meisten, sah abgebrannt und verloren aus, aber nicht hilflos.
Trank da seinen Kaffee, als hätte er lieber etwas anderes in der Tasse, behielt sehr offensichtlich den Eingang im Auge.
Oder, dachte Sammy Joe, er fürchtet, dass irgendjemand reinkommt, den er nicht sehen will.
Aimee stieß sie unsanft an und maulte, dass sie sich aufs Spiel konzentrieren solle.
„Mach ich doch.“
„Verarsch mich nicht, Sam. Du schießt ständig daneben.“
Einer der Partygänger, Duncan, kam hereingeschneit, tat begeistert, die beiden Mädchen zu sehen und sagte, dass am Abend eine kleine ‚Private’ steigen würde, eine der Partys, zu denen nicht jeder eingeladen wurde, hauptsächlich, weil dort die harten Drogen die Runde machten und man sicher gehen wollte, nicht bei nächster Gelegenheit verpfiffen zu werden.
„Ihr Hübschen seid eingeladen“, grinste er, reichte eine hellblaue Visitenkarte, die er zwischen zwei Finger geklemmt hielt, an Sammy Joe. Er mochte sie, trotz ihrer schwarzen Klamotten und ihres schwarzen Haares war sie immer schnell zu begeistern ohne hinterher anhänglich zu werden. Duncan bevorzugte solche Mädchen.
Es war die Party seines besten Freundes, und er zog schon seit drei Stunden durch die Stadt, um die passenden Gäste zu finden. Eintritt hatte später nur, wer die Visitenkarte vorweisen konnte. Sammy Joe nahm die Karte und lächelte, versuchte so begeistert wie möglich auszusehen, dass Duncan übersehen würde, dass sie ungeschminkt wie der lebendige Tod aussah. Der lebendige Tod in einer elektronischen Spielhölle.
Diese geheimen Privatpartys zogen sich meist bis in den frühen Morgen hin und fanden ihren Abschluss bei einem Frühstück und Aufputschern aus der chemischen Welt. Sammy Joe war für solche Partys zu haben und da Aimee nicht zu ihrem Freund nach Montrose konnte, würde sie mitkommen.
„Du kommst doch mit, oder?“
„Würde ich dich allein gehen lassen?“
Diese blaue Visitenkarte mit Name und Adresse war das Ticket zu einem ausgeflippten Abend, aber es fehlte Sammy Joe die richtige Vorfreude darauf. So, wie sie sich momentan fühlte, würde es ihr nichts ausmachen, diese Party ausfallen zu lassen, aber was sollte sie statt dessen machen?
Mit verstohlenen Blicken suchte sie wieder den Typen aus dem Bus, er saß noch immer dort, wie eine Institution an der Theke, er drehte sich halb um und sein Blick blieb an ihr hängen. Sie taxierten sich sekundenlang. Es sprangen nicht gerade Funken über, vielleicht erkannten sich einfach nur zwei einsame Seelen, bevor ihnen der Verstand in die Quere kam und einen Strich durch die Rechnung machte.
Mit so was bist du noch nie rum gezogen, dachte Sammy Joe, also fang jetzt nicht damit an. Hör auf, dauernd zu ihm rüberzustarren.
Sie versuchte vergeblich, sich auf das Spiel zu konzentrieren.

Diese Spielhölle, das Pinball, war kein schlechter Ort, um sich für eine Weile auszuruhen, nachdem er sich in dem Diner ordentlich den Bauch voll geschlagen hatte. Chilli Con Carne und Kaffee hatte er sich dreimal nachreichen lassen. Aber da sie ihn dort beim Schnarchen erwischt hatten, hatte er nach dem Essen die Biege gemacht.
Hier hatten die kids ihren dummen Spaß, aber sie taten niemandem weh dabei, und Rick ließ sich an der Theke nieder, behielt den Eingang im Auge und bestellte sich etwas zu trinken. Es war ein gutes Gefühl, wieder Geld in den Taschen zu haben. Er fühlte sich einigermaßen sicher, aber nicht sicher genug, um vollkommen zu entspannen. Diesen Nerv sah man ihm an und deshalb ließen ihn die Brüder in Ruhe, die ansonsten auf Krawall aus waren.
Er trank den Kaffee und dann Orangensaft, wegen der Vitamine, und als er die Rothaarige entdeckte, dachte er wieder daran, wie tödlich es war, in einer Kleinstadt zu leben, ob Colorado oder Indiana.
Jemand drängte sich an seinen Barhocker, um ein Glas von der Theke zu nehmen, stieß Rick dabei unsanft an.
„Pass auf“, murmelte Rick. Er meinte es nicht unfreundlich, es war einfach nur ein ‚Pass auf’, aber es hatte Folgen. Dann gab es da doch noch einen in dem Pinball, der Lust auf einen handfesten ausgedehnten Streit hatte.
„Was, Blondie? Worauf soll ich aufpassen?“
Das „Blondie“ war eine harmlose Anspielung auf sein gebleichtes kurzes Haar, das eine ganze Farbpalette zwischen weißblond und orange abdeckte und den Sheriff darüber hatte grübeln lassen, ob er den Kopf in Chlorbleiche gesteckt habe. Die Lösung der Preisfrage war relativ einfach – manchmal war es Vonnöten, sein Aussehen etwas zu verändern und manchmal ging etwas beim Färben schief. Rick betrachtete sein Gegenüber mit einem Ausdruck, der stark in Richtung Mitleid ging, er grunzte, bevor er antwortete. Das Kerlchen schien eine chica beeindrucken zu wollen, oder seine Gang schwachsinniger kids – dämlich genug, sich mit einem über zwanzig anzulegen.
„Hör mir zu“. Ricks Dialekt war fremdartig in dieser Region, es schwang etwas Spanisches mit, ohne nach Einwanderer zu klingen, es war New York und Bodensatz, ohne den Anteil von Streetgangmachoismo.
„Mir haben schon ganz andere Typen ans Bein gepinkelt, du bist einfach nur lächerlich, mozo. Du kannst von Glück sagen, dass ich verfickt gute Laune habe, sonst würde ich dir jetzt deine stinkenden Eier abreißen.“
„Willst du mich anmachen?“
„Ich knips dich aus, chico.“
Rick saß noch immer auf dem Barhocker, die Füße auf den Querstreben und die Hände ruhig auf den Oberschenkeln, hatte alle Muße, den Jungen vor sich gelassen anzusehen, der verzweifelt versuchte wütend und bedrohlich auszusehen. Er hatte ein hübsches Gesicht. Vermutlich hatte er es nicht nötig, so eine Show anzuziehen, aber vielleicht wollte er auch nur beweisen, dass er kein Weichei war.
„Bennett“, sagte der Pinballangestellte von der sicheren Seite der Theke, „hör auf mit dem Mist.“
„Der Typ hat angefangen.“
„Du fliegst hier raus, Bennett.“
„Ist das dein Vorname?“ fragte Rick mit einer deutlichen Spur Belustigung in der Stimme und kassierte dafür den ersten Schwinger. Er kippte rücklings vom Hocker, konnte sich abdrehen und den Sturz auffangen und kam mit der Schulter auf. Sein Nasenrücken pochte und prickelte, aber er bekam noch Luft und verschwendete keinen weiteren Gedanken. Langsam stand er auf, rollte seine geprellte Schulter hin und her und ohne ersichtlichen Ansatz stürzte er sich auf den Jungen, der Bennett hieß.
Seine Technik war weder ausgefeilt noch ästhetisch, aber sie war wirkungsvoll. Einige schlechte Erfahrungen hatten ihn zäh und rücksichtslos werden lassen, seine Hemmschwelle lag sehr niedrig und er kämpfte immer mit vollem Einsatz.
Obwohl die Umherstehenden ihn schon nach wenigen Sekunden von Bennett wegzerrten, blieb der Junge betäubt und blutend am Boden liegen, unfähig auch nur den Kopf zu heben. Im Augenblick war er nur benommen, die Schmerzen würde er haben, wenn er am nächsten Morgen aufwachte. Ein passender Zeitpunkt, um an Rick Scanlon zu denken.
Rick machte sich von den Händen los, die ihn noch immer festhielten, wischte sich mit dem Handrücken einmal unter der Nase, er blutete nicht. Sie fühlte sich zwischen den Augen geschwollen an.
Der Kerl hinter der Theke sah ihn strafend an und deutete mit dem Kinn zum Ausgang.
„Das war klar“, sagte Rick.
Seine Wut hatte sich wieder in Gleichgültigkeit verwandelt, die manche fälschlicherweise als Freundlichkeit deuteten; er warf einen letzten Blick auf Bennett, der seine blutende Nase und das blaue Auge seinen Eltern erklären musste und sich nun damit abfinden durfte, dass praktisch die ganze Ouray-Jugend seinen Untergang erlebt hatte.
Rick verzog sich. Er würde sich eine der Bars aussuchen, die ihm ein wenig nach Heimat aussahen. Aber er konnte gehen, wohin er wollte, das beste Guinness gab es noch immer im Albatros und in einer Bostoner Kneipe namens The Green Turf. Dahin würde er wieder gehen, sobald über ein paar Dinge genug Gras gewachsen war.
Er trieb sich herum, hatte seine Freiheit, sein Auskommen und er liebte große amerikanische Wagen. Die brachten ihn in Schwierigkeiten, weil er die Finger nicht von ihnen lassen konnte, aber man musste immer für das bezahlen, was man haben wollte. Ouray war nicht sein Ziel, nur die Station auf dem Weg durchs Land, die Straße war sein Ausdruck der Freiheit.
Ricks Augen waren nicht die Besten, aber sein Gehör war ausgezeichnet; er hörte eine jaulende Polizeisirene in einiger Entfernung und ging in Deckung.
Das Deli, in dem er landete, lag in der Straße wie das Pinball, aber es lockte ein etwas anderes Publikum an, hier waren Ski-Touristen an den Tischen und Rick hoffte nur, dass er dort endlich in Ruhe gelassen werden würde. Er konnte nicht schon wieder was trinken, außer, es hätte Bier gegeben, also verzog er sich in eine ruhige Ecke und bestellte sich das kleinste Gericht von der Speisekarte.
Eine schicke und wirklich gut aussehende chica kam zur Tür herein, klopfte sich den Schnee von den Boots und lächelte in die Runde. Sie sah aus wie eine Ballkönigin, die Bedienung rief ihr „Hi Julia“ entgegen und sie lächelte noch etwas strahlender. Rick fand es bemerkenswert, dass sie ohne Begleitung auftauchte, sich einen freien Platz an der Theke suchte und sich dann einen italienischen Kaffee bestellte. Kein Zweifel, die Frau hatte Klasse.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Das ist ja echt toll, dass es so schnell wieder weitergeht mit den locker, lustigen Geschichten. Habe diesen Teil heute Morgen auf meinem Weg gelesen. Ich wurde direkt wach, was noch nicht mal mit dem stärksten Kaffee zu schaffen ist. So fängt ein Tag gut an und hat mich den ganzen Tag über so beschwingt.

Fan-Tasia (26.05.2009)

Das ist aber schön. Du hältst wirklich Wort, denn hier kommt schon die Fortsetzung von "Ricks" ( Mascot ist noch nicht dabei) Abenteuern. Was mir immer wieder an dieser Geschichte gefällt ist deine humoristische Art mit der du über die Eigenheiten deiner Protas erzählst. Nach einer deftigen Prügelei scheint sich Rick in die gut aussehende Sammy Joe verknallt zu haben. Bin gespannt in welche Schwierigkeiten er sich dadurch bringen wird - denn ohne Schwierigkeiten geht`s bei Rick einfach nicht. So ist er nun mal:))

Jochen (25.05.2009)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
On a Rainy Day - Inhaltsangabe  
Give Blood - Inhaltsangabe  
Open All Nite - Inhaltsangabe  
Ouray, Colorado - Inhaltsangabe  
Broken Fingers - Inhaltsangabe  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De