13


5 Seiten

Polarlicht

Kurzgeschichten · Romantisches
Im Leben gibt es viele Momente, in denen man sich ernsthaft Gedanken darum machen sollte, wie viel einem an einer handvoll Menschen wirklich liegt. Nur eine kleine Geste oder ein liebes Wort, ein Dank, ein aufrichtiges Lächeln... mehr braucht es nicht unter lieben Freunden. Aber dennoch ist man vor Schuldgefühlen und Sehnsucht niemals sicher. So sehr man es sich auch wünscht und einredet, man habe alles menschenmögliche versucht, jemanden zu erreichen. Jemanden? Irgendjemanden? Oder vielleicht.... den Einen?
In ihren Augen war es das perfekte Leben. Im Grunde war es vielleicht sogar das Ultimative, was man nur erreichen konnte. Für die Anderen.

Graublauer Himmel, Regenwolken. Vielleicht Alltag hier... irgendwo im Nirgendwo. Für Jaana spielte es längst keine Rolle mehr, wo sie war. Die vorbeisausenden Verkehrsschilder verschmolzen mit dem tristen Drumherum und bildeten ein wahres Spiegelbild ihres Gemüts. Jeder Augenblick, jeder Meter, alles ließ es schwerer um ihr Herz werden. Peitschende Regentropfen rannen ihr entgegen ohne sie zu erreichen, während sie ihre Stirn von innen gegen die kühle Scheibe lehnte, um den stechenden Kopfschmerz zu vertreiben. Die ganze Nacht hatte sie hier verbracht. In ihrer eigenen kleinen Welt gefangen, die sich um all das drehte, was sie nicht haben konnte und wonach sie sich doch so sehr sehnte. Und jede Sekunde, die sie hier verbrachte, unfähig, irgendetwas zu ändern, trieb sie mehr in die Spirale aus Sehnsucht, Selbsthass und Verzweiflung.

Der vergangene Sommer war unvergesslich geworden. Zweifel gab es für sie nicht. Es war einfach kein Platz mehr. Alles war erfüllt von Glücksgefühlen und unbändiger Liebe. Schmetterlinge im Bauch und gelegentliche Adrenalinschübe machten aus Jaana ein unberechenbares kleines Feuerwerk, dass immer dann losbrach, wenn man es einfach nicht erwartete. Aber genau das war es, was ihn so sehr an ihr faszinierte. Ihre Widersprüchlichkeit zog ihn wie magisch an. Die Aufgedrehtheit in einem Bruchteil einer Sekunde, die sich schlagartig in diese Ruhe wandeln konnte, trieben Jaana voran. In der Realität und in ihren Träumen. Er hingegen war das, was man als typisch finnische Mentalität auslegen konnte: ruhig und zurückgezogen. Sie ergänzten sich auf einzigartige Art und Weise. Es waren die ersten Wochen, nachdem er sich endlich ein Herz gefasst und es ihr zu Füßen gelegt hatte. Waren sie unter sich, flüsterten sie. Waren sie unter Menschen, blieben sie still, ließen Blicke sprechen. Ihre kleine wunderbare Illusion schien unzerstörbar.
Die lauwarmen Sommernächte verbrachten Jaana und Jari weitab vom Trubel der Großstädte, irgendwo weit draußen auf einer weitläufigen Wiese und träumten sich zu den Sternen.
"Ich habe gehört, du fährst..." unterbrach Jari die eigentlich angenehme Stille flüsternd.
"Mhm...", summte Jaana mit geschlossenen Augen, "September."
"Oh..."
"Was ist?" suchte Jaana nun leise die Konversation und öffnete die Augen, um weiter in die Sterne zu sehen, als ob sie dort eine Antwort finden könnte.
"Ach nichts.."
"Ich kann es nicht ändern. Auch wenn ich gerne würde deinetwegen."
"Ja, natürlich. Du musst dich nicht unnötig rechtfertigen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass du hin und wieder unterwegs bist."
Hin und wieder wäre schön, dachte Jaana innerlich seufzend und drehte ihren Kopf ein Stück zur Seite, um Jari anzusehen.
"Es macht dir echt nichts aus? Zweieinhalb Monate können lang sein.."
Ein sanftes Lächeln legte sich auf Jaris Züge.
"Ich habe fast 20 Jahre ohne dich überstanden, was sind da schon zehn Wochen."
Dazu fiel ihr nichts ein. Sicherlich würde er die zehn Wochen Trennung locker wegstecken, immerhin blieb er ja vor Ort und konnte sich bei seiner Familie und Freunden ausheulen, wenn es hart auf hart kam. Sie hingegen würde zehn Wochen auf engstem Raum mit ihren beiden Brüdern und ihrer besten Freundin festsitzen und versuchen, sie nicht auch noch mit in ihr kleines schwarzes Loch zu ziehen. Der Preis der Unabhängigkeit und Akzeptanz in der weiten Welt war nunmal Einschränkung.
"Jari?" brach Jaana nach einer Weile erneut die nächtliche Stille. "Vermisst du mich?"
"Nein."
Nein? Erschrocken richtete sie sich halb auf und ließ ihre Blicke über sein entspanntes Gesicht wandern. "Nein?" kaum es als nahezu tonloses Wispern über ihre Lippen, während sich ihre Augen allmählich mit Tränen füllten.
"Nein. Wieso sollte ich dich vermissen? Du bist doch hier."
"Idiot." Gespielt empört knuffte sie ihm leicht gegen den Arm und wischte hastig die Tränen aus den Augen, ehe sie sich ins weiche Gras zurücksinken ließ.
"Ich beneide dich irgendwie..." durchschnitt Jaris Seufzer eine weitere Schweigeminute. "Du nimmst dein Leben selbst in die Hand und erfüllst dir jeden deiner Wünsche aus eigener Kraft."
Jaana blieb still. Sie kannte das Bild, das andere von ihr hatten. Aber die meisten sahen wohl eher lediglich das, was sie sehen wollten. Bereits als Teenager hatte sie den Pfad als Musikerin angestrebt und zog es konsequent durch, selbst gegen die verständlichen Zweifel ihrer Eltern. Und nun stand sie vor der
Schwelle, die bedeutete, dass sie sich endgültig von ihrem normalen Leben zu lösen hatte. Sicherlich würde nach diesen zehn Wochen Tour nichts mehr so sein wie früher. In dieser Zeit würde sich beweisen, wer wirklich an ihrer Freundschaft Interesse zeigte und wer einfach nur als Mitläufer fungierte. Zu welcher Gruppe sich Jari wohl gesellen würde? Schnell versuchte sie den letzten Gedanken wieder zu vertreiben. Wieso zweifelte sie nur auf einmal an allem, was sie sich aufgebaut hatten in diesem Sommer? Er liebte sie, sie liebte ihn. Oder?
"Jari?"
"Hm?" Verträumt lächelnd sah er sie an.
"Liebst du mich?"
Sein Lächelnd erstarb kurz. "Du machst Witze, oder? Natürlich liebe ich dich. Oder denkst du, ich spiele dir das hier alles nur vor?"
"Nein, nein natürlich nicht." kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
"Was soll dann die Frage?"
"Ich weiß nicht..."
"Hey..." Jari schob sich ganz nah an seine Liebste heran und nahm sie sachte in den Arm. "Ich lasse dich doch nicht einfach fallen, nur weil du einen Höhenflug nach dem anderen durchlebst momentan."
"Ehrlich?"
"Sehe ich aus, als würde ich lügen?"
Jaana schüttelte den Kopf.
"Na siehst du. Ich freue mich lieber darauf, wenn ich dich nach der Tour wieder im Arm halten kann."
Tränen der Rührung bahnten sich ihre Wege über Jaanas Wangen.
"Du bist so süß..."
Die beiden lagen noch eine ganze Weile im weichen Gras.
"Weißt du, was komisch ist, Jari?"
"Was denn?"
"Naja... ich bin fast 19 und habe mein ganzes Leben hier in Finnland verbracht, aber trotzdem habe ich noch nie Polarlichter gesehen..."
"Echt noch nie?!" In Jaris Stimme lag ernsthafte Staunen. "Ach du meine Güte..."

Die Sache mit dem Polarlicht... Jaana öffnete die müden Augen und hob ihren Kopf von der eisigen Scheibe ab. Das war das letzte Geständnis gewesen, dass sie ihrem Liebsten gemacht hatte. Danach hatten sie die Nächte nur noch verträumt auf der Wiese verbracht oder sich über belanglose Dinge ausgetauscht. Bis zu dem Tag ihrer Abfahrt. Für diese eine Stunde hasste sich Jaana zutiefst. Eine Stunde lang hatte sie vor seiner Tür gestanden und es nicht gewagt, auch nur in die Nähe der Klingel zu kommen. Ob es die Angst vor einem schmerzhaften Abschied gewesen war, die sie dazu verleitet hatte, sich einfach davon zu machen, hatte sie bisher immer verdrängt. Er war der Einzige gewesen, der nicht in den Genuss ihres Abschieds gekommen war. Sie hatte ihm nicht einmal das genaue Datum genannt... Der Herzschmerz überrannte sie erneut und sie zog sich abermals in ihre eigene perfekte kleine Welt zurück.

Es war Mitte Dezember, als der schwarze Tourbus sich wieder in Bewegung setzte und die Vier vor ihrem Zuhause zurückließ. Die restlichen Tage waren besonders mühsam gewesen und mittlerweile waren alle heilfroh, wieder Zeit für sich zu haben. Von Kummer gezeichnet nahm Jaana die Stufen bis zur Haustür hinauf unendlich viel langsamer, als ihre Brüder.
"Schaffst du es heute noch?" klang ihr eine vertraute Stimme entgegen und sie sah vorsichtig auf.
"Jari?" kam es ganz zaghaft über ihre Lippen. Jaana war verwirrt. War er jetzt real oder spielte ihre Gefühlswelt ihr einen hinterlistigen Streich. über den sie nun gar nicht lachen konnte? Plötzlich war sie des unerträglichen Ballasts durch ihre Reisetasche entledigt und Jari schloss sie in seine warmen Arme.
"Du hast mir so gefehlt, meine Süße.."
Unfähig, irgendetwas zu erwidern, begann Jaana einfach nur noch zu klammern.
"Bitte verzeih mir..."
"Schhh..." Sanft strich er seine Liebsten über den Rücken. "Kommst du mit mir?"
"Wohin?" fragte Jaana mit tränenerstickter Stimme und suchte seinen Blick.
"Ach weißt du... ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was ich dir zu Weihnachten schenken könnte."
Verwirrt sah sie ihm in die Augen. Was sollte das denn jetzt? War er gar nicht sauer, dass sie ihn einfach so zurückgelassen hatte?
"Also? Begleitest du mich?"
Wie in Trance war Jaana nur noch zu einem Nicken fähig und ließ sich von Jari die Stufen wieder nach unten schieben bis zu seinem Wagen, ehe er ihr die Augen verband.
Es muss einfach funktionieren..., dachte er immerzu bei sich, während er mit seiner nunmehr 'erblindeten' Freundin durch die verschneite finnische Landschaft außerhalb Helsinkis fuhr.
"Du machst mir Angst..." wisperte Jaana auf dem Beifahrersitz zusammengekauert.
"Entschuldige..."
Das war alles, was er ihr für den Rest der Fahrt entgegenbrachte. Irgendwann stoppte er den Wagen und betrachtete erwartungsvoll den Nachthimmel. Wenn das jetzt wirklich schief ging, würde er ihr wohl so schnell nicht mehr unter die Augen treten können.
"Jari?"
"Hm? Oh, natürlich.." Hastig lockerte er den Knoten in der Augenbinde.
Blinzelnd sah sie sich um.
"Und jetzt?" Unsicherheit beherrschte ihre Stimme.
Jari wurde verlegen.
"Naja.... eigentlich hatte ich mir das hier anders vorgestellt, weißt du? Normalerweise wollte ich.." Jari unterbrach sein Geständnis abrupt, als er feststellte, dass sich die Aufmerksamkeit seiner Freundin deutlich auf etwas anderes fixierte.
"Schau mal..." piepste Jaana überwältigt und starrte durch die Windschutzscheibe an den Nachthimmel in ein wundervolles Farbenspiel. "Bist du deswegen hier her gekommen?"
"Also eigentlich... zum Teil... oder... ja, schon.. irgendwie."
Er fing ihre unsicheren Blicke auf.
"Ich dachte mir, dass es dir vielleicht eine Freude macht. Immerhin hast du vorher noch nie eins gesehen und..."
"Und?"
Er atmete tief durch. "Du kannst so viel haben in deinem Leben. So viel.. Materielles, so viele Freunde... aber manchmal braucht man eben .. Glück?"
Jaanas Gesicht hellte sich auf.
"Idiot." grinste sie frech und haucht ihm einen Kuss auf die Lippen.
"Wieso?"
"Wozu brauch ich denn Glück, wenn ich DICH haben kann."
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Gefällt auch mir. Herrlich verträumt, passt genau in die Rubrik "Romantisches."

Jochen (11.06.2009)

Süüüüß! Eine ganz süße Liebesgeschichte. Sie ist kurz aber mit ganz viel Herz geschrieben. Einfach toll!

Petra (11.06.2009)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De