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39 Seiten

Broken Fingers - Teil 2 und Ende

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
„Ich warne euch vor einem Überfall und werde dafür direkt wieder verknastet. Was ist los mit euch Jungs? Das ist nicht komisch, das riecht faul.“
„Ich kann mich erinnern, dass du die Stadt verlassen wolltest.“
„Ich kann doch meine Meinung ändern, wenn mir verdammt noch mal danach ist.“
„Deputy Baker traut dir den Überfall auch nicht zu.“
McNallen beugte sich etwas vor und machte ein Gesicht, als versuche er einen Haufen kleiner Kinder zu erschrecken.
„Geht da was zwischen euch beiden vor, von dem ich nichts weiß?“
„Ich weiß nicht, was sie nicht wissen.“
Ich will raus aus dem Knast, aber Pyper wird direkt an der nächsten Ecke lauern. Meine verdammten Finger. Pyper wird sie mir abhacken, wenn er mich schnappt.
Corry ... da war etwas an ihr. Rick vergaß ihre Uniform, er sah nicht mehr den Deputy an ihr, nachdem sie sich so lange unterhalten hatten. Sie hatte von sich erzählt, immer mit einem Augenzwinkern und sie ließ ihn vergessen, dass für ihn aus Mt. Vernon nur schlechtes gekommen war. Er konnte es mit anderen (mit ihren) Augen sehen. Ihr alter Vater hockte in einem Pflegeheim und vegetierte vor sich hin, ihre Mutter war seit Jahren tot und sie selber hatte sich noch immer nicht entschieden, ob sie ihr Leben in Benton mochte oder nicht.
Corry war eine Menge Frau, kein Zweifel, sie konnte zupacken und hatte genug Fleisch auf den Rippen, umso manchen Kerl neben sich dürr und mickrig aussehend zu lassen, Rick imponierte so etwas zwar nicht, aber im Bezug auf Frauen hatte er sich noch immer nicht festgelegt und würde es wohl auch nie tun. Es reizte ihn an der einen Frau, dass sie schlank war und an der anderen, dass sie Hüften wie eine Seekuh hatte – vor Überraschungen war er nie sicher und es wurde nie langweilig. Wer hatte sich nicht schon alles mit ihm eingelassen, Frauen, bei denen er es nicht für möglich gehalten hätte; Sophie war ganz eindeutig eine Klasse zu hoch für ihn gewesen, aber die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war großartig gewesen. Nun, er hatte es verbockt, was aber nicht heißen sollte, dass er nicht gern an sie dachte. Mit etwas Sehnsucht – vielleicht.
Corry war das handfeste Mädchen vom Lande, die versuchte in der Männerwelt Karriere zu machen, besser den Landkreis verlassen hätte und doch hängen geblieben war.
„Scanlon“, sagte McNallen überfreundlich, „es gibt einige Dinge, die ich überhaupt nicht leiden kann und das sind unter anderem dumme Antworten. Wenn mein Deputy irgendwas über dich weiß und es aus welchen Gründen auch immer, nicht sagt, solltest du damit rausrücken. Wenn du hier bald aus der Zell raus willst.“
„Wir haben uns nur über ein paar gemeinsame Bekannte unterhalten.“
McNallen glaubte ihm nicht, aber er konnte nichts machen, er konnte Rick nicht auf den Kopf stellen und schütteln. Bei seiner Sorte würden dann nur noch mehr Lügen herausfallen.
„Wann komm ich hier raus?“
Er will gar nicht wissen, was der Typ mit dem dicken Schlitten ausgesagt hat. Er kennt ihn. Nummernschild aus New Jersey, dunkle Gestalt, bewaffnet. Mit Lizenz, Okay, keine handhabe, aber wozu fährt so ein Mann bewaffnet herum in dieser Gegend? Hat behauptet, auf der Durchreise zu sein, Antipathie gegen das Fliegen, wer’s glaubt, wird selig.
„Ich mach die Papiere fertig, dann sind wir dich los.“
Es war Corry Baker, die die Papiere fertig machte, weil Officer McNallen dringend nach Hause musste und für ein paar Stunden verschwand.
Corry fluchte und nannte ihren Boss einen faulen Hund, wusste aber, was los war.
„Er lässt sich gerade scheiden“, sagte sie zu Rick, „und die Kinder sind schon zwei Meter lang, so sehr zerren sie an ihnen.“
„Er trägt seine Probleme im Gesicht.“
Corry grinste und meinte: „Man sieht es ihm sofort an, wenn ihn etwas beschäftigt. Hat seine Vorteile – man weiß immer, wann man ihn in Ruhe lassen muss.“
„Du hast mir noch nicht erzählt, ob du einen Freund hast.“
„Ich bin verlobt.“
Dad, das ist Joey, er möchte sich dir vorstellen. Dad? Ich hab dir doch letzte Woche von ihm erzählt, wir möchten uns verloben. Das weißt du doch noch, oder? Joey, Dad. Ja. Mein Freund.
Es war eine harte Angelegenheit gewesen, ihrem senilen Vater erklären zu wollen, wer Joey war und was er wollte und wozu er mitgekommen war.
Nein, er ist nicht der junge Mann, der dir morgens die Zeitschriften bringt, Dad.
Monate später konnten sie darüber lachen und Corry nannte ihn eine ganze Weile den Zeitschriftenmann, und oft dachte sie an die Formel ‚Tragödie x Zeit = Komödie’. Wer immer das herausgefunden hatte, er hatte verdammt recht damit.
„Wirst du ihn heiraten?“
„Er hat mich noch nicht gefragt.“
Über Hochzeit und Kinder hatten sie sich schon oft unterhalten, nie ernsthaft, mehr so nebenbei neben Fernsehen und dem gemeinsamen Essen, und Corry hatte jedes Mal das Gefühl, ihr würde das alles mehr bedeuten als ihm. Deshalb drängte sie ihn nicht.
Dränge sie zu sehr und sie sind weg.
Die Papiere waren Okay, es hatte alles seine Ordnung und Rick konnte gehen. Er verschwand aus der Polizeistation, verschwand um die Ecke und aus Corrys Blick, die ihm durch das Fenster nachgesehen hatte; fast verträumt, wie zwei ihrer Kollegen bemerkten, die sie dabei beobachteten, wie sie am Fenster stand und erst nach Minuten an ihre Arbeit zurückging. Die beiden feixten in sich hinein und Corry dachte, als sie an ihnen vorbeiging: Blöde Kerle. Was die wohl wieder zu grinsen haben.

Nachdem er das Gebäude verlassen hatte, war er nicht weit gekommen; direkt nebenan ließ er sich auf einer Bank nieder und wartete. Pyper würde die Sache anders angehen nach seiner Reaktion in der Tankstelle, wahrscheinlich auch eine Gangart härter, weil er sich ärgerte, aber solange noch Augenzeugen unterwegs waren, fühlte Rick sich sicher.
Corry verließ die Station zwei Stunden später und kam an ihm vorbeigefahren in ihrem Dienstwagen, hielt an und kurbelte das Fenster herunter.
„Soll ich dich irgendwo absetzen?“
„Da kannst du einen drauf lassen.“
Pyper, der ganz in der Nähe stand und die Szene beobachtete, dabei eine seiner schwarzen Zigaretten rauchte, nickte aufmerksam in sich hinein und stieg in seinen Chevy.
„Folgen wir ihm“, sagte Pyper.
Rick saß zufrieden neben seinem Lieblingscop, wippte mit den Füßen, als höre er Rock’n Roll oder eine moderne schnelle Variante, obwohl Corry das Radio nicht eingeschaltet hatte. Über Funk kamen nur vereinzelte Meldungen aus der Zentrale und von den anderen Streifen, die irgendwo unterwegs waren. Es war nicht viel los im Äther, teilweise quatschten die Cops über private Dinge, ohne dass sie jemand zur Ordnung rief.
„Wo soll ich dich rauslassen? Hast du noch irgendwas vor hier bei uns oder machst du dich direkt auf den Weg?“
Auf den Weg nach Hause, wo ich schon seit Jahren nicht mehr weiß, wo das überhaupt ist oder jemals war? Sophies Heim ist gestorben für mich, wie alle anderen auch, also welche Alternative hab ich noch? Irgendwohin gehen und neu anfangen. Erstmal die Finger heilen lassen, dem Knie eine Pause gönnen.
„Du hättest mich zu den Martinez fahren können, aber das ist keine gute Idee, besser nicht.“
Corry wollte wissen, was dort vorgefallen sei und weil sie so sensationslos fragte, beantwortete er ihr die Frage.
„Kennst du Ida? Ich glaube, sie hat sich in mich verschossen.“
„Das hört sich nach Schwierigkeiten an.“
„Sex ist immer mit Schwierigkeiten verbunden, oder?“
Eher das, was danach kommt. Das mühselige miteinander umgehen müssen.
Joey war ein lieber netter Kerl, immer bemüht, es ihr recht zu machen, aber manchmal konnte sie seine positive Einstellung dem Leben gegenüber nicht ertragen. Wenn sie vom Dienst nach Hause kam und noch die Bilder eines Autounfalls mit tödlichem Ausgang vor Augen hatte, machte er sie rasend; dann war es das beste, wenn sie noch eine Weile an die frische Luft ging und erst später wiederkam. Corry musste für sich allein runterschalten, um bei Null anfangen zu können, ihr Sturkopf untersagte es ihr, sich sofort zu entschuldigen oder klein beizugeben. Joey warf ihr das nicht vor, er sagte dann, er liebe ihre Macken.
„Mein Problem ist nicht der Sex, mein Problem ist das zusammenleben mit einem Mann“, sagte sie.
Rick biss sich von innen auf die Unterlippe, für einen Moment abwesend und nicht bei der Sache, dachte an sein Unvermögen in der Beziehung mit Sophie.
An Anfang hatte er sich wirklich Mühe gegeben, weil er in Sophie ganz verschossen war, dass Mascot und Hollis schon die Befürchtung äußerten, mit ihm könne irgendwas nicht stimmen, Sophie habe ihn verhext, er hatte die nächtlichen Touren eingestellt und den Konsum von Alkohol und harten Drogen reduziert. Aufhören wollte er damit nicht, aber immerhin schaffte er es, etwa sechs Monate fast trocken zu bleiben und die Zeit ohne Probleme zu überstehen. Dann war einiges schief gelaufen; seine Schulden verlangten, dass er wieder auf Tour ging und das machte ihn so müde, dass er einfach ein paar Aufputscher brauchte, um durchhalten zu können.
Er hatte versucht, in ihrem Leben einen festen Platz zu finden, ohne dass sie ihn umzukrempeln versuchte, aber auf Dauer hatte das nicht hingehauen.
„Ich dachte, sie wäre die Frau fürs Leben, für die ich alles tun würde und ich hab ihr versprochen, mich zu ändern, aber ich konnte es nicht. Meine buddys und ich hatten in New Jersey einen Schrottplatz, auf dem wir mit Zeug gehandelt haben. Es lief klasse, es sah legal aus, dreckig aber legal. Sie hat mich tausendmal gefragt, ob es diesmal was Ehrliches sei und ich hab gesagt, klar mariposa, ich hab dir doch geschworen, dass ich keinen Mist mehr baue, und dann sind wir aufgeflogen. Sie fand das nicht komisch.“
„Du hast sie Schmetterling genannt?“
Rick grinste, verwandelte sich damit in einen Jungen zurück und Corry wusste, wie er es anstellte mit den Frauen. Er zeigte ihr eine kleine Tätowierung an seinem linken Unterarm, die schillernd bunte Zeichnung eines fliegenden Schmetterlings.
„Das hab ich mir in Atlantic City machen lassen und weißt du, was sie dazu gesagt hat? Du solltest aufpassen, dass ich dir nicht davonfliege.“ Er drehte sich im Sitz um, dachte einen Moment lang, er habe Pypers Wagen hinter ihnen gesehen, aber als er die Straße kontrollierte, war er verschwunden.
„Frauen sind ’ne heikle Sache“, sagte er.
Der Rückspiegel war nicht auf seinen Blickwinkel eingestellt, trotzdem versuchte er immer wieder, den schwachen Verkehr hinter dem Polizeiwagen im Auge zu behalten.
„Frauen sind nicht schwierig, Frauen sind anders. Was ist los?“
„Was hat Pyper euch erzählt, weshalb er hier ist?“
„Dieser Typ war mir unheimlich.“
Pyper war höflich und freundlich aufgetreten, hatte plausible Erklärungen für alles gehabt und sie hatten trotz der Waffe keine Begründung für eine Festnahme finden können, trotzdem hatte bei seinem Anblick der Spürhund in Corry laut angeschlagen. Ihr alter Vater hätte diesen Kerl als „halbseiden“ bezeichnet, eine noch zu nette Umschreibung. Seine Augen behielten den harten Ausdruck, auch wenn er lächelte, er war auf allen Ebenen auf dem Sprung gewesen. Der Wagen war in New Jersey zugelassen und es war sehr wahrscheinlich, dass Rick ihn kannte; dass er wegen ihm in Benton war.
„Weswegen ist er hinter dir her?“
„Was hat er dazu gesagt?“
„Jedenfalls nicht die Wahrheit. Er hat behauptet, er sei auf der Durchreise.“
Mit scheinheiligem Gesicht erwiderte Rick: „Warum sollte das gelogen sein?“
„Komm schon“, lachte Corry, „das willst du mir doch nicht erzählen. Der hatte Gangstergeruch an sich, dass mir fast schlecht geworden ist.“
„Von mir wirst du nichts anderes hören.“
Pyper nennst du einen Gangster? Du hast José noch nicht erlebt. Der kann wirklich gemein werden.
José Quintero Ramos, den Rick noch unter einem anderen Namen kennen gelernt hatte, war der einzige, vor dem Rick genug Respekt hatte, dass er sich keine Freiheiten herausnahm. Er nannte ihn seinen Boss, obwohl er nicht für ihn arbeitete und wenn Dom graue Haare hatte, dann nur aufgrund dieser südamerikanischen Beziehung. José war der Retter in der Not, wenn nichts mehr lief, wenn alles den Bach runter gegangen war, dann konnte Rick ihn anrufen und sicher sein, dass der Mann es in Ordnung brachte. Wenn José sagte, dass er ihn innerhalb von drei Stunden aus dem Untersuchungsgefängnis raus habe, dann schaffte er es auch.
Rick wusste nicht (und wollte es auch gar nicht wissen), wie er so etwas drehte und deichselte, aber er hielt sein Wort. Die Gegenleistung, die er von Rick verlangte, waren dagegen Kleinigkeiten, oft schickte er ihn nur zum Kaffee holen oder ließ ihn seine chickas vom Flughafen abholen, aber Rick hatte immer im Hinterkopf, dass José neben seiner herzlichen Art Freunden gegenüber auch eine ganz andere Seite hatte.
Mascot hatte ihn gewarnt, sich mit ihm einzulassen.
„Der Mann ist verrückt“, hatte er gesagt, „so verrückt, dass selbst die Geister ihn in Ruhe lassen.“
Mascot konnte man nicht widersprechen, aber trotzdem war die Freundschaft zu José etwas, worauf Rick sich verlassen konnte – wie verrückt der Kolumbianer auch sein mochte.
„Wo soll ich dich jetzt hinbringen?“ fragte Corry.
„Kein Ahnung, shit. Ich fahr nur mit Gino einkaufen und schon sitz ich wieder bis zum Hals in du-weißt-schon. ’Nen Kaffee könnte ich gebrauchen. Du willst doch auch nach Hause, oder? Dann setz mich doch einfach am nächsten Truck Stop ab, der irgendwie auf deiner Strecke liegt.“
„Okay, wie du willst.“
Corrys Pointer zog noch immer an der Leine und wollte der Spur folgen, deshalb fuhr sie einen kleinen Umweg, um nicht an dem Roadhouse vorbeizufahren, das auf ihrem Weg lag und fuhr ohne weitere Bemerkung bis vor ihre Haustür.
Joey und sie wohnten seit einem Jahr zusammen in dem kleinen Bungalow, hatten es für fünf Jahre angemietet und hofften, sich danach etwas Eigenes leisten zu können. Um diese Uhrzeit würde Joey noch nicht zu Hause sein, sie hatte fast zwei Stunden, die sie mit Rick verbringen konnte.
„Wir sind da“, sagte sie, „bei mir gibt’s den besten Kaffee überhaupt.“

In manchen Situationen, wenn die wait’n-see Taktik angebracht war, konnte Pyper stundenlang wie eine Katze vor dem Mauseloch ausharren, aber diesmal kam ihm alles so seltsam vor, dass ihn die Ungeduld packte.
„Wo wollen die hin?“ rief er seinem unsichtbaren Begleiter entgegen, „wenn Rick den Braten gerochen hat und er uns durch die Lappen geht, buddy, bist du fällig.“
Nach der Niederlage in der Tankstelle spielte Pyper mit dem Gedanken, den Wagen vor sich einfach abzudrängen und Rick mit Gewalt herauszuzerren, ganz egal, was für Konsequenzen es haben würde; sollten diese Vorstadtcops ihn doch suchen, wenn sie Lust hatten. Aber nachdem seine Wut etwas verraucht war, dachte er wieder nur darüber nach, wie er Rick möglichst lange für die Schulden bezahlen lassen konnte und dazu war ihm schon sehr viel eingefallen.
„Fahr ihnen weiter nach“, murmelte er, legte kurz den Kopf mit geschlossenen Augen zurück, „mal sehen, wo sie hin wollen.“


Der Mann aus New Jersey
„Was sagt dein Kerl dazu, dass du deine Arbeit mit nach Hause bringst?“
„Du bist nicht meine Arbeit, wir sind praktisch Nachbarn gewesen, wenn wir uns auch wissentlich nie begegnet sind. Es ist schon in Ordnung.“
Sie ließ ihm den Vortritt in das Haus, drückte die Tür ins Schloss und wollte wissen, wie er seinen Kaffee wolle.
„Junkie. Mit viel Zucker.“
Das Haus war hell und nüchtern eingerichtet, die Möbel nicht mehr neu, aber alles sauber und ordentlich, in der Küche stand nicht einmal Obst offen herum. Rick setzte sich in einen der Sessel, nur um zu vermeiden, dass Corry sich dicht und eng neben ihn setzte. Der Kaffee kam in einer dicken weißen Bürotasse mit „LAPD“ Schriftzug und sie hatte so viel Zucker hineingetan, dass seine Zähne zogen.
„Ich geh mich schnell umziehen“, rief sie, „ich muss endlich aus der Uniform raus. Mach es dir in Zwischenzeit gemütlich, schalt ruhig den Fernseher ein.“
Das tat er, allerdings wanderte er mit der Fernbedienung in der Hand herumschaltend durch die angrenzenden Räume, blieb lauschend vor der Schlafzimmertür stehen, halb hoffend, halb fürchtend, sie würde sich etwas überziehen, was ‚gemütlicher’ wäre, also so gut wie nichts.
Sophie hatte sich nie ‚ausgezogen’, sie nannte es ihr ‚Badezimmerkostüm anziehen’.
Hinter der Tür summte und trällerte Corry, Türen klappten, eine Schublade quietschte und wurde mit einem energischen Tritt wieder zugeschoben. Rick sah im Bad nach dem rechten, fand dort einen Medizinschrank an der Wand, direkt neben dem Rasierspiegel, aber da stand nichts Härteres als Aspirin und das auch nur in kleinen Mengen.
In den Ecken der Dusche blühte der feuchte Schimmel, auf dem Fensterbrett stand eine vertrocknete Grünpflanze, deren Blätter ein wenig wie Cannabis aussahen. An den Wänden der anderen Räume hingen abstrakte Drucke in Glasrahmen, aber keine Fotos, die Corry mit ihrer Familie zeigte oder Haustiere, die sie als Kind gehabt hatte; nur ein kleines Kruzifix hing neben der Eingangstür. Die Fenster, die zur Rückseite des Hauses lagen, ließen den Blick frei über eine grüne Hügellandschaft, in der nur vereinzelte andere Häuser standen.
Wohnen in ruhiger Lage, dachte er, keine Fotos, toter Jesus, sauber und ordentlich.
„Hat dein Typ das Haus ausgesucht?“ rief er in Richtung Schlafzimmer, der einzige Raum, den er noch nicht gesehen hatte.
Corry erschien in einer weiten abgetragenen Jeans und Sweater, in breiten Hausschuhen und ohne Socken; wirklich gemütlich und nicht freizügig. Rick wusste nicht, ob er es bedauern sollte.
„Joey hat es angeboten bekommen und er hat zugesagt. Es ist kein Palast, wie du siehst, aber es reicht.“
„Joey.“
„Ja.“
„Klingt wie ’n kleiner Junge in einem gestreiften Pyjama.“
„Er ist Betriebsleiter.“
Im Sessel sitzend schaltete Rick durch ein paar Fernsehprogramme, blieb nirgends lange genug hängen, um die Sendung identifizieren zu können und schlürfte seinen Kaffee. Er war müde und es wurde nicht besser, obwohl er den Kaffee trank und sich zu konzentrieren versuchte, die Musik und Stimmen aus dem Fernseher zogen unbeachtet an ihm vorbei und nur ganz kurz fühlte er im Augenwinkel etwas; ein flackernder Blitz, dann ein Brennen zwischen den Augen und schon war alles wieder vorbei.
Er brauchte einen Eisbeutel, sein Fuß knirschte bei jeder Bewegung. Draußen vor der Tür tat sich irgendwas; dort war etwas nicht so wie sonst.
Corry brachte ein cool-pack, machte den Fernseher leiser und fragte: „Willst du mir erzählen, weshalb der Mann aus New Jersey hinter dir her ist?“
„Nein“, sagte Rick, „das will ich nicht, aber er ist hier, weil ich ihm Geld schulde. Ich bin mit dem Vorschuss durchgebrannt und die Lieferung hab ich auch nicht gemacht. Er ist so angepisst, dass er mir das Gesicht auf den Rücken dreht, wenn er mich in die Finger kriegt. Pyper ist ein Arschloch, aber du hättest sein blödes Gesicht in der Tanke sehen sollen.“
„Rick, ich hab mit deinem Bruder gesprochen.“
Du bist zu nichts zu gebrauchen, du kleiner Bastard. Sieh dir deinen Bruder an. Sieh dir Curtis an. Als er so alt war wie du, hat er...
Curtis war jetzt ungefähr dreißig, was für ein Alter, wo der Wind ihn wohl hingetrieben hatte. Hatte Vietnam ihn verändert? Wusste er, wo Sheila und Frank waren?
„Wer gibt dir das Recht, in meinem Leben herumzupfuschen? Es reicht schon, wenn die anderen hinter mir her sind, muss jetzt auch noch Curtis wieder auftauchen?“
Rick beugte sich vor, hielt den wegrutschenden Eispack am Fuß fest, die geschienten steifen Finger so weit geknickt, dass es wehtat.
Corry wartete auf einen richtigen Ausbruch, aber er hatte sich unter Kontrolle, es schien in Ordnung, es ihm erklären zu wollen.
„Ich hab ihm nicht gesagt, dass du hier bist, ich wollte nur von ihm wissen...“
„Du hattest kein Recht dazu.“
Rick betonte jedes Wort so genau, als wäre Corry schwer von Begriff oder als habe er noch immer Probleme, sich zu konzentrieren.
„Ich musste wissen, worauf ich mich einlasse, wenn ich weiter ermittle.“
„Curtis hat noch weniger Ahnung als alle anderen, soviel ist sicher.“
„Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich meinen Job mache.“
Rick war zweigeteilt in seiner Wut; einerseits die Erinnerung an das nahe Mt. Vernon und an seinen Bruder Curtis, an den er nur als jugendlichen pickeligen Besserwisser denken konnte, und auf der anderen Seite eine bohrende Unruhe, die er nicht zuordnen konnte. Etwas warnte ihn, etwas verlangte nach seiner Aufmerksamkeit, die er im Moment nicht schenken konnte und diese innere Unruhe nahm mit jeder Sekunde zu.
Der Sessel hielt ihn nicht mehr, er humpelte fluchend umher, den Kopf gesenkt und konnte nicht hören, was Corry noch zu ihrer Erklärung zu sagen hatte. Der Kaffee schwappte gefährlich aus der Tasse, kleckerte auf den hellen Teppich, Rick blieb erst stehen und hörte auf, als Corry laut und heftig „Hey“ brüllte. Lautstärke war das einzige, was zu ihm durchdrang.
„Hörst du mir endlich einmal zu?“ fuhr Corry sanfter fort, „begreifst du, was ich zu tun versuche? Ich will dich verstehen, ich will wissen, was passiert ist, nur deshalb grabe ich herum. Ich will dir helfen. Als ich mit deinem Bruder telefoniert habe, war das ein Drahtseilakt und ich war so vorsichtig, wie ich nur sein konnte. Er hat von mir nichts erfahren, nichts davon, dass du hier bist oder wie es dir geht. Was hätte ich auch sagen sollen, als er wissen wollte, wie es dir geht. Das, was er mir erzählt hat, hat mein Bild abgerundet und nichts von dem wird an meinen Boss gehen. Es ist meine Privatsache, unsere Privatsache, Okay?“
Sie wartete, ob Rick bis dahin etwas zu sagen hatte.
„Wenn du ein Problem damit hast, sag es. Dann setz ich dich an der Straße nach Evansville ab und du kannst dahin gehen, wo du hinwolltest, irgendwann einmal, als du noch ein Ziel vor Augen hattest.“
Rick blieb stumm, das Gesicht so ausdruckslos, als sei sein Verstand vorübergehend in Urlaub gegangen.
Er wägt es ab, er versucht herauszufinden, was am besten für ihn ist. Er ist kein Dummkopf. Dad hätte sich die Zähne an ihm ausgebissen und dabei seine wahre Freude gehabt.
„Wieso wird eine Frau wie du Cop? Du solltest einen Haufen Kinder großziehen oder eine Apfelplantage in Maine besitzen oder ein Fingernagelstudio in San Francisco aufmachen. Erzähl mir nicht, dass du in die Fußstapfen deines Vaters treten wolltest.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so konservativ eingestellt bist.“
Sie entdeckte die Kaffeeflecken, nahm Rick im Vorbeigehen die halbleere Tasse aus der Hand und verschwand in der Küche, gefolgt von Ricks ausdruckslosem Blick.
„Ich bin nicht konservativ, verdammt.“
„Nein?“
„Und du hast meine Frage nicht beantwortet.“
Die Müdigkeit kam zurück, kroch langsam von unten nach oben, aber er konnte sie aufhalten, indem er über Corry Baker nachdachte. Sie kam mit Lappen und einer Sprühdose Teppichreiniger zurück, schob ihn zur Seite und erwiderte, während sie in die Knie ging: „Ich muss dir leider sagen, dass ich wirklich die Familientradition fortführe. Ja, mein Dad war tatsächlich ein Cop, als er noch gesund war und nicht mal ein schlechter. Er mochte die Menschen in seiner Stadt und hat sich gekümmert. Ich versuche mich auch zu kümmern, so gut ich kann. Es ist meine Aufgabe, Cop zu sein, deshalb habe ich kein Fingernagelstudio in Maine.“
„Soll ich verschwinden?“ Das Gefühl kam in sein Gesicht und in seine Stimme zurück.
„Nein, du brauchst nicht zu verschwinden, wie kommst du nur darauf?“
„Unser Haus“, sagte Rick, „war doppelt so groß wie das hier, aber ich hatte kein Zimmer, nichts für mich. Ich habe auf einer Matratze in der Küche geschlafen und wenn meine Mom aufstand, um das Frühstück zu machen, musste ich nach draußen verschwinden. Sie wollte mich nicht sehen. Wenn ich nicht schnell genug weg war, hat sie mich verprügelt oder mit heißem Wasser übergossen.“
Corry sah von dem Kaffeefleck auf, den sie halb entfernt hatte, hörte hinter sich Joeys Wagen in der Einfahrt und sagte: „Du brauchst wirklich nicht zu verschwinden. Sie runzelte die Stirn. „Du hast Joeys Wagen vor mir gehört?“
„Was? Nein.“
Joey schloss von außen die Tür auf, kam herein, stellte seine Aktentasche an der Garderobe ab und rief: „Was für ein Scheißtag, Herz, wie war deiner?“
Er blieb stehen, sah seine Verlobte auf dem Teppich knien und an Flecken herum reiben, die um sie herum waren, als habe ein Kind gekotzt und dann sah er den Mann neben ihr stehen, halb verheilte Verletzungen im Gesicht, mit einem wachen verschlossenen Blick und Klamotten, die darauf schließen ließen, dass er seine jugendliche Rebellenphase noch nicht abgeschlossen hatte.
„Corry?“
„Wir haben mit dem Kaffee gekleckert. Joey, das ist Rick, er ist aus Mt. Vernon und wollte vorbeischauen, bevor er weiterfährt.“
„Ich bin von ihr verhaftet worden“, erklärte Rick ruhig, „ich kann’s nicht leiden, wenn wegen mir gelogen wird.“
Sie würden das später unter sich ausmachen, sobald sie unter sich waren, wechselten nur schnelle Blicke und bevor es unangenehm werde konnte, machte Rick einen Rückzieher. Er nahm Jacke und Rucksack, ignorierte Corrys Einwände, dass er doch noch bleiben könne und verließ das Haus. Auf dem Weg nach draußen fiel sein Blick auf die Pinnwand, an der Einkaufszettel, Rechnungen und Postkarten hingen, aber was ihn ansprang und haften blieb, war der Zeitungsausschnitt „UFO stoppt Zug“.
Wie zum Geier ist sie denn daran gekommen? dachte er.
Joey mochte ein netter Junge sein, aber nach Hause zu kommen und seine Frau auf den Knien mit einem Fremden vorzufinden, war sicher nicht seine Vorstellung von einem gelungenen Feierabend.
In jeder Seiten- und Nebenstraße konnte Pyper lauern, Ricks Nerven flatterten, als er in Richtung Zentrum zurücklief und er war verdammt froh, als er vor sich an der nächsten Ampel Ginos Wagen entdeckte. Er hatte zum Abbiegen den linken Blinker gesetzt, fuhr gerade an und bog ab, gerade als Rick nahe genug heran war, um zu erkennen, dass er allein in dem Wagen saß. Rick bog ebenfalls in die Querstraße ein, hätte ihn aus den Augen verloren, hätte Gino nicht zwei Häuser weiter angehalten. Er stieg aus und ging den Rest des Weges zu Fuß, Rick wenige Meter hinter ihm, ohne es zu bemerken. Zuerst wollte Rick ihm nach pfeifen oder rufen, aber Ginos heimliche verstohlene Art machte ihn misstrauisch – das stimmte etwas nicht. Er sah sich nach allen Seiten um, bevor er in die Einfahrt eines Hauses abbog, dort an der Tür klopfte und schnell hereingelassen wurde, ebenso still und heimlich.
Rick hatte die Frau nur kurz gesehen, aber er kannte ihr Foto. Er wusste, dass sie drei Kinder hatte und dass sie auf dem Papier noch immer verheiratet war. Es schockierte ihn nicht, aber es machte ihn wütend, dass Gino die Ehefrau des Officers McNallen knallte und gleichzeitig so tat, als habe er Sitte und Anstand für sich gepachtet.
Eine Hand legte sich auf Ricks linke Schulter und er reagierte mit einem blitzschnellen Abstauchen, versuchte zu entkommen, aber man hatte dieses Manöver vorausgeahnt und brachte ihn mit einem Tritt gegen die Beine unsanft zu Boden.
„Hallo, mein Freund“, sagte Pyper.

„Ich will mich nicht streiten, Joey“, sagte Corry, obwohl Joey noch keinen Ton gesagt hatte und er einfach nur dasaß und darauf wartete, dass sie etwas von dem erklärte, was vorgefallen war.
„Ich hätte dir von dieser Sache schon früher erzählt, aber ich wollte sicher gehen, dass ich alles soweit unter Kontrolle habe, bevor...“
„Das klingt wie ein biologisches Experiment.“ Joey seufzte und lächelte gleichzeitig, noch immer wartend.
„Mit Biologie hat das nichts zu tun, Joey, es geht um ein Leben, um ein einziges Leben, das mich nicht loslässt. Wenn ich es dir alles erklären will, muss ich uns eine Flasche Wein dazu aufmachen.“
„Wo ist er hin verschwunden?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Corry, „aber er taucht sicher wieder auf.“


„Früher oder später kriege ich immer, was ich will, das weißt du doch. Warum also läufst du vor mir weg?“
„Das ist angeboren.“
Pyper trat ihm auf den Fuß für diesen dummen Spruch, dann setzten sie sich auf die Kante des Bürgersteigs, wie zwei alte Freunde, die auf den Bus warten und sich eine heimliche Flasche Bier teilen.
„Was soll ich mit dir anstellen, Scanlon?“ Pyper sprach nicht in seine Richtung, er redete mit dem Asphalt, den Kopf gesenkt und schob mit einer langsamen Bewegung seine dunkle teure Designer-Sonnenbrille zurecht.
„New York ist für mich gestorben.“
„Oh. Oh? Was soll das heißen?“
Rick betrachtete seine geschienten Finger, an denen sich das Leukoplast zu lösen begann, seine Fingernägel waren abgebrochen, gesplittert und dreckig, noch immer farbverschmiert, er vernachlässigte alles an sich, seit er seinem großen Hobby nicht mehr richtig nachgehen konnte.
„Ich bin fertig mit der Gegend, deshalb gehe ich nicht zurück, aber ich bezahle meine Schulden. Ganz, wie du willst bezahl ich sie.“
„Das genügt mir nicht.“ Pyper trug diese Sonnenbrille, weil er wieder rasende Kopfschmerzen hatte, das machte der Stress und seine Unfähigkeit einmal abzuschalten, er überlegte immer wieder aufs Neue, wieder und wieder, was er mit Rick tun sollte, was er mit allen anderen tun sollte. Seine geistige Stütze war sein Baby daheim im Haus in Newark und er wollte so schnell wie möglich wieder bei ihr sein, aber dazu musste er erst die Sache mit Rick klären.
„Ich werde dich höchst persönlich bei deinen irischen Eiern packen und nach NYC zurückschleifen, damit du da weitermachst, wo du aufgehört hast. Du stehst noch immer bei vielen in der Kreide.“
„Die anderen haben dich doch noch nie interessiert.“
„Wozu hast du das ganze Geld gebraucht?“
Rick hatte einiges umgeschichtet, bevor er verschwunden war, und Pyper war nicht der einzige, der sich fragte, wieso er das getan hatte.
„Sophie hat sich vor einem halben Jahr einen Wagen auf Pump gekauft und ich hab die restlichen Raten bezahlt. Ich wollte, dass sie morgens mit dem Wagen in die Stadt fährt und an mich denkt. Dann hab ich noch überall kleine Schulden beglichen. Hollis kann wieder im Albatros saufen.“
„Du verschwindest und möchtest, dass man dich in guter Erinnerung behält, Junge, das ist wie ein Abschiedsbrief an alle vor dem Selbstmord. Was ist los mit dir?“
„Darüber werde ich nicht mit dir sprechen, Pyper.“
Ein Pajero rollte an ihnen vorbei, aus der Fahrerkabine hallte laute wummernde Musik und die Jugendlichen, die hinten auf der Rückbank saßen, drehten sich kollektiv zu Rick und Pyper herum. Sie begannen mit obszönen Gesten und es endete mit einem Schwall dreckiger Schimpfereien, in denen Rick und Pyper als Tucken bezeichnet wurden.
Rick ignorierte es, stellte sich blind und taub, aber Pyper sprang hoch und rannte neben dem Pajero her, trotz seiner hämmernden Kopfschmerzen, zeigte mit drohendem Zeigefinger auf die halben Kinder und schrie ihnen entgegen, dass er sie fertig machen würde, falls sie den Mumm hätten, anzuhalten und auszusteigen. Es sah komisch aus, wie er in seinem schwarzen Anzug neben dem Wagen her rannte, scheinbar mühelos auf gleicher Höhe blieb und auf die Hohngesänge der kids noch wildere Drohungen ausstieß.
Wenn er seine Knarre zieht und herumballert, dachte Rick, wird er sich nicht wieder rausreden können wie in der Tankstelle.
Er blieb geduldig sitzen und wartete, bis Pyper zurückkam, sich wieder neben ihm niederließ.
„Scheißbande. Sind doch überall gleich.“
„Es lohnt sich nicht, sich mit ihnen anzulegen.“
„Feiglinge“, sagte Pyper verächtlich. Langsam beruhigte sich sein Atem wieder, er wischte sich den Schweiß von der Stirn und legte Rick in einer freundschaftlich aussehenden Geste den Arm über die Schultern.
„Ich sage dir das jetzt ganz ruhig und leise, aber nur das eine mal. Du begleitest mich nach New York zurück. Zwar bin ich mir noch immer nicht sicher, wie du deine Schulden begleichen wirst, aber mir wird noch was einfallen, glaub mir. Du wirst dir wünschen, nicht mit einem Geld abgehauen zu sein.“
„Du“, erwiderte Rick genauso freundlich, „kannst mich mal kreuzweise.“
Es wunderte ihn nicht, wie schnell man sich eine blutige Nase holen konnte, Pyper schlug nur einmal mit dem Ellebogen zu und schon sah er Sternchen. Es drehte sich alles, Pyper hielt ihn fest, ein unterdrücktes Glucksen in der Kehle, von dem Rick wusste, dass es ein Kichern war.
„Du hast Nerven“, hörte er, das Blut schoss ihm aus der Nase und lief über sein T-Shirt bis runter auf die Jeans, er wollte sich nach vorn beugen, um es auf den Asphalt tropfen zu lassen, aber Pyper hielt ihn noch immer fest, zwang ihm den Kopf nach hinten. Ricks Augen tränten und er bekam keine Luft mehr durch die Nase, aber das hinderte ihn nicht, noch ein gemurmeltes „Fuck you“ loszuwerden.
Pyper hätte ihm wirklich das Gesicht auf den Rücken gedreht, wäre nicht in dem Augenblick der Pajero mit den grölenden Kids zurückgekommen. Sie hatten an der Kreuzung gedreht, es sich offensichtlich überlegt, so eine Herausforderung nicht auf sich sitzen zu lassen und der Fahrer, einer der Söhne des Kerls, der Rick als erster auf die Finger getreten war, steuerte bei guter Geschwindigkeit auf den Bordstein zu. Pyper riss Rick mit sich, als er aufstand (er war ohne Handicap), sie taumelten rückwärts und entkamen dem Kühler und der Motorhaube nur um handbreit.
Rick zog die Nase hoch und spuckte das Blut aus, einmal, zweimal, bekam wieder Luft und erwartete die nächste Attacke.
Die Reifen des Pajeros hinterließen schwarze Gummispuren auf dem aufgeheizten Asphalt, es roch, als hätte jemand seine Gummipuppe auf der Heizung liegengelassen. Pyper fluchte nicht und er rannte dem Wagen auch nicht nach, der ein Stück die Straße runter fuhr, drehte und zurückkam; er griff unter seine Jacke.
„Hältst du das für eine gute Idee?“ fragte Rick.
„Mit den Arschlöchern hier werde ich schon fertig, meinst du nicht?“
Shitfuckinhell.
„Hoffentlich glaubt mir nachher jemand, dass das nicht auf meinem Mist gewachsen ist.“
Der Pajero kam auf sie zugerollt, überwand holpernd die Kante des Bürgersteigs und noch waren die Jungs erwartungsvoll still, grinsten in sich hinein, zwei hatten Bierdosen in den Händen, tranken und rülpsten abwechselnd im Chor.
Troy, rothaarig wie ein protestantischer Ire, wuchs mit seinen Geschwistern bei seinem geschiedenen Vater auf, hätte nach dem Willen seiner Mutter eigentlich den großen Bruder spielen müssen, aber er bevorzugte es, mit seinen Freunden durch die Gegend zu fahren, Mädchen aufzureißen und seine Geschwister links liegen zu lassen. Er war siebzehn, spielte Football wie ein Weltmeister und war dumm wie ein Stück Scheiße. Seine Freunde nannten ihn „T“.
Er hielt den Wagen an, sprang als erster heraus, noch bevor die anderen die Türen aufhatten und fühlte sich deutlich überlegen mit seinen fast zwei Metern. Pyper sah vor ihm aus wie ein Wiesel, ein gut gekleidetes Wiesel mit einer Hand unter der Achsel, während Rick einen Schritt zurück machte.
„Wer von euch beiden...“ begann Troy, wusste genau, was er sagen wollte, aber er kam nicht mehr dazu, es auszusprechen. So flink und abrupt (Sag dank dem asiatischen Kampfsport), wie er Rick die Nase blutig geschlagen hatte, zog er seinen Revolver aus dem Halfter und hielt ihn dem Jungen unter die Nase, ließ ihn praktisch daran schnuppern.
„Wer von uns beiden hat was?“ fragte er. Er bewegte sein Handgelenk von rechts nach links und wieder zurück, Troys Augen folgten dieser Bewegung wie hypnotisiert. Die umherstehenden Kids zeigten keine Regung, das war keine New Jersey Gang, die auf eine solche Bedrohung mit Pumpguns geantwortet hätte, das waren brave Kleinstadtkids, die etwas über die Stränge schlugen. Rick hätte Pyper davon abgehalten, wenn ihm die Kids Leid getan hätten.
Troy, in den Augen seiner buddys plötzlich nicht mehr der coole T, der jede Situation im Griff hatte, brachte außer unverständlichem Gestammel nichts mehr heraus, seine Zunge und sein Hirn waren gelähmt. Er hatte furchtbare Angst, dass diese Kanone unter seiner Nase losgehen könnte, und in dem Gesicht dieses schmalen Mannes mit der Kurzhaarfrisur war nur zu lesen, dass es ihm nichts ausmachen würde, nicht die Bohne. Er wusste, wer Rick war, denn sein Vater hatte ihm in seiner Bierlaune erzählt, was sie mit dem Herumtreiber, den sie beim Autoknacken erwischt hatten, gemacht hatten, er fürchtete, der Typ könnte eine Art Beschützer sein.
„Was ist mit euch, Jungs?“ fragte Pyper in die Richtung der anderen Jugendlichen, ohne Troy aus den Augen zu lassen, „habt ihr noch irgendwas zu sagen?“
„Mann, das Ding könnte losgehen“, flüsterte einer von ihnen.
„Das Ding geht nur los, wenn ich es will. Möchtest du deinem Freund auf die Sprünge helfen? Ich fürchte, er findet im Moment nicht die richtigen Worte, um sich zu entschuldigen.“
Er legte den Kopf schief und wartete.
Rick zog wieder die Nase hoch und spuckte, wandte sich dabei von der Gruppe ab, sagte dann aus sicherer Entfernung: „Entschuldige dich, chico, sonst geht die Spritze doch noch los.“
„Entschuldigung“, flüsterte Troy, das Gesicht hochrot, kleine Schweißperlen auf der Stirn.
Pyper hatte vor einem halben Jahr in einer ähnlichen Situation seinen Revolver dicht neben dem Ohr des Mannes abgefeuert, der ihn provoziert hatte, mitten in der Cocktailbar eines Hotels in Newark, die Kugel war in den Spiegel hinter der Theke eingeschlagen, ohne direkten Schaden anzurichten, aber dem Mann war das Trommelfell geplatzt und das Mündungsfeuer hatte seinen Bart in Brand gesetzt. Rick fürchtete, dass diese jämmerliche Entschuldigung nicht ausreichen würde, um Pyper zufrieden zu stellen, er war so hartnäckig wie er nachtragend war.
„Hast du was gehört, Rick?“
„Lass mich aus der Sache raus, Mann. Ich hab damit nicht angefangen.“
„Ich hab deinen Arsch gerettet.“
„Vielen Dank auch.“
„Zu dir, mein Freund. Du nimmst deine buddys, steigst in deinen Wagen und verschwindest, klar? Das nächste Mal solltest du dir überlegen, auf wen du losgehst und wen du beschimpfst.“
Er ließ sie abziehen, erwartete, dass sie aus sicherer Entfernung wieder laut und überheblich werden würden, aber es blieb ruhig bis auf das knatternde Motorengeräusch des Pajeros.
Pyper steckte seinen Revolver ein, kontrollierte den Sitz seines Jacketts, in sich hineingrinsend, als hätte er in der Lotterie gewonnen.
„Ich hab dich noch gar nicht gefragt, was du hier eigentlich treibst“, sagte er.

Als Gino sich von Mrs. McNallen verabschiedete und das Haus verließ, dachte er sich nichts dabei, als er den Gummiabrieb auf der Straße sah, er ging zu seinem Wagen, der um die Ecke geparkt war und fuhr nach Hause. Er hatte noch einiges zu erledigen.

Ich werde dir nichts von den alten Geschichten erzählen, ganz bestimmt nicht, aber je länger ich darüber nachdenke, um so neugieriger werde ich, was Curtis wohl sagt, wenn ich ihn einfach anrufe. Wenn ich mich einfach bei ihm melde und behaupte, dass es mir saugut geht und ich in Kalifornien Surfbretter verleihe. Oder Pornos produziere. Ich muss ihn ja nicht sehen, es reicht schon, nur mit ihm zu sprechen. Zu hören, wie es ihm ergangen ist, ob er es bei den Alten noch lange ausgehalten hat. Du hast ja keine Ahnung, weshalb ich nervös bin, wenn ich Mt. Vernon höre. Zuviel passiert, was ich nicht vergessen kann. Warum hat’s verdammt noch mal mich getroffen und nicht Curtis. Weshalb stecke ich in meiner Haut.

Officer McNallen wusste seit drei Monaten von dem Verhältnis seiner Frau, seiner fast Ex-Frau Harriet, aber erst seit wenigen Wochen ahnte er, wie ernst die Lage wirklich war. Sie würde ihn verlassen; sie nahm die Kinder und verschwand aus seinem Leben. Sie steckte ihm ein Messer ins Herz, und als sie ihm sagte, dass der Glückliche Gino Martinez sei, drehte sie es damit in der Wunde einmal herum. Wenn schon Trennung, dann wollte er, dass sie aus der Gegend verschwand, aber sie hatte wohl vor, auf die Martinez-Farm zu ziehen. Seine Kinder würden mit dem kleinen Hosenscheißer Kenny aufwachsen. Das Leben war nicht fair. Er würde es ihnen schon klar machen, dass diese Laune ihrer Mutter nichts bedeutete, dass sie eine größere Familie bekamen und bald auf ihrem eigenen Stück Land leben würden; er wollte seine Jungs und seine Prinzessin behalten, er wollte, dass sie bei ihm blieben, obwohl sein Anwalt ihm angekündigt hatte, dass es schwer werden würde. Kinder gehörten zu ihrer Mutter, hatte er gesagt. Er war Police-Officer und arbeitete den ganzen Tag, hatte keine neue Frau zu Hause, die auf die Kinder acht geben konnte. Das hielt ihm der Anwalt vor, als wäre es ein Verbrechen, sein Leben und seine Gesundheit für den Landkreis zu opfern. Das brodelte seit Wochen in ihm, machte ihn wirklich unleidig seinen Männern gegenüber und ohne, dass es ihm bewusst wurde, verlor er den Blick für seine Arbeit. Wenn er es deutlich hätte ausdrücken können, hätte er allen gesagt, dass ihm die Sache mit Scanlon und diesem anderen Typen aus New Jersey am Arsch vorbeiging, aber er bewahrte sich einen letzten Rest von Haltung und machte seinen Job. Nur in seinem Inneren wusste er schon, dass er das nicht mehr lange durchhalten würde, wie bei einem Läufer, dem die Beine schwer werden und der weiß, dass er sich nur noch mit letzter Willenskraft vorwärts quält, sah sein alter Verstand das Ende nahen.

Joey und Corry stritten sich nicht, es gab keine dicke Luft zwischen ihnen, aber sie hatten keinen schönen gemeinsamen Abend. Die ganze Zeit dachte Joey daran, was an diesem Kerl dran sein mochte, dass Corry ihm auf den Leim ging.
Er war überzeugt, dass Corry ihren Beruf nur vorgeschoben hatte, um den wahren Grund nicht zu nennen. Corry dagegen ärgerte sich darüber, dass Joey so früh nach Hause gekommen war und Rick vertrieben hatte, gerade, als sie das Gefühl bekam, bei ihm durchzubrechen.
Während Rick sich nur unwohl fühlte, dass Pyper ihn erwischt hatte und nun den freundlichen Kumpel raushängen ließ, ließ Corry ihren Frust am Badezimmer aus, sie reinigte die Kloschüssel, kratzte den Schimmel aus den Ecken der Duschkabine und erstickte fast in den Chlordämpfen.
Zur gleichen Zeit sattelte Ida eines der Pferde für einen Ausritt in den Wald, weil sie die Stille und Einsamkeit in dem großen Haus nicht mehr ertragen konnte.
Gino war irgendwo auf dem Land unterwegs und Kenny war auch direkt nach der Schule verschwunden, sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, ihn nach seinen Hausaufgaben zu fragen. Es schien, als habe er in den letzten Tagen nur noch das Bedürfnis, von ihr wegzukommen und Ida grübelte Tag und Nacht, ob sie etwas falsch gemacht haben könnte.
Kenny war mit seinem Rad in Benton unterwegs, nachdem er seine Hütte unberührt gefunden hatte, ein Zeichen, dass Rick dort nicht noch einmal eingebrochen war. Er ging bei seiner Suche ganz systematisch vor, den Straßenplan von Benton klar umrissen in seinem Kopf und begann in den Straßen des kleinen Zentrums, in dem sich die wenigen Läden, Supermärkte und Diners verteilten.
Takis, der Junge aus seiner Klasse, mit dem er sich langsam anfreundete, hatte behauptet, in seiner Familie ginge alles drunter und drüber und Kenny hatte nicht gewagt, ihm zu erzählen, was bei ihm los war. Dass seine Eltern geschieden waren und er darüber unglücklich war, war keine große Sache, die meisten Kinder, die er kannte, kamen aus zerbrochenen Ehen, aber seit er Rick kannte, konnte er nicht anders und musste jemandem von ihm erzählen.
Als Kind einer griechischen Einwandererfamilie war Takis das Chaos von drei Generationen in einer kleinen Wohnung gewöhnt, aber jemanden zu kennen, der durch die Gegend zog und seinen Lebensunterhalt offensichtlich mit dem Klauen von Autos verdiente, hörte sich für ihn phantastisch an.
„Und der wohnt bei euch?“ fragte Takis mit ungläubigem Gesicht, worauf Kenny sich so in die Ecke gedrängt fühlte, dass er nur bestätigend antworten konnte.
„Er lebt vorübergehend bei uns, aber er arbeitet nicht.“
Oh, das klang großartig.
„Er sagt, dass er nicht zur Arbeit geboren wurde.“
„Wer ist das schon“, erwiderte Takis, der zwei ältere Cousins im Knast hatte.
Und jetzt war Rick verschwunden, weil irgendetwas in der Tankstelle passiert war, worüber niemand sprechen wollte.
Wenn er noch in Benton ist, dann finde ich ihn auch. In diesem Nest kann ich ihn gar nicht verfehlen.
Er parkte sein Rad in der Nähe des Parkplatzes hinter dem Supermarkt, wartete dort und fühlte sich ein wenig verwegen, ein wenig cool, und er wünschte, es sofort mit jemandem teilen zu können, dieses besondere Gefühl und diesen Moment. Aber es war niemand da, er war einsam bei seiner Aktion und fühlte ein bitteres Bedauern deswegen.
Nachdem er fast eine halbe Stunde gewartet hatte und dreimal ein Streifenwagen vorbeigefahren war, zog er weiter. Rick würde nicht auftauchen, um einen weiteren Wagen für seine zwecke zu stehlen, wo die Polizei nach seinem misslungenen Versuch ständig vorbeifuhr und nach dem Rechten sah, soviel Verstand sprach er ihm zu.
Wo würde ich hingehen, wenn ich er wäre? Was würde ich als nächstes tun?
Zwei Stunden später wusste Kenny etwas genauer, was er getan hätte, wenn er Rick wäre, denn er fand ihn in der bescheidenen Parkanlage von Benton auf einer Bank, als habe er sich dort zum Taubenfüttern niedergelassen, machte nicht den Eindruck, als sei er ein Mann auf der Flucht.
Kenny fuhr in Sichtweite an ihm vorbei, drehte und stellte sein Rad ab, ging hinter einer ausladenden Trauerweide in Deckung und beobachtete.
Rick saß dort nicht allein, ein Fremder war bei ihm und obwohl sie dort einfach nur zusammen saßen und sich unterhielten, spürte Kenny, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmte. Sie waren nicht befreundet. Kenny hatte oft genug beobachtet, wie Onkel Gino sich mit seinem Dad unterhalten hatte, und bei den beiden hatte es genauso ausgesehen, kein Blickkontakt, keine freundlichen Gesten. Onkel Gino war glücklich gewesen, als sein Dad ausgezogen war, überglücklich, sie hatten sich gehasst wie die Pest.
Pyper hatte Rick zu einem Spaziergang überredet, Ricks geschwollene rote Nase leuchtete in seinem Gesicht, er zog immer wieder mühsam die Luft ein, fühlte den dumpfen Schmerz noch immer zwischen den Augen. Auf der Bank sitzend betrachteten sie den kleinen See, auf dem einige Enten herumpaddelten, zwischen Seerosen und Wasserpest nach fressbarem suchten, Hunde jagten über die Wiesen, verliebte Pärchen hockten herum und turtelten. Diese Idylle stieß Rick sauer auf, während Pyper scheinbar überhaupt nicht reagierte, er hatte sich auf einen entfernten Punkt konzentriert und meinte irgendwann: „Ich weiß, wie es bei dir abgelaufen ist, Rick, was nicht heißt, dass ich deshalb Mitleid mit dir haben werde, was unser kleines Geschäft angeht. Aber wo du hier in dieser Gegend aufgewachsen und abgehauen bist, kann ich es nicht verstehen, dass du wieder hergefunden hast. Ich hätte erwartet, dass du für den Rest deines Lebens einen Bogen um Indiana machst.“
„Was willst du von mir hören?“
„Was dich hergetrieben hat. Rachegedanken? Das interessiert mich.“
Rache wofür? Für eine Kindheit, die keine war? Andere waren schlechter dran als ich, zumindest bin ich nicht verhungert. Rache. Es ist niemand mehr in Mt. Vernon, an dem ich mich rächen könnte, nur noch an toten Gebäuden. Nur die Schatten der Vergangenheit.
„Ich schnüffel auch nicht in deinem Leben herum, Pyper.“
„Ist es Rache?“
„Nein. Selbst, wenn du es mir nicht glaubst, es war Zufall. Ich wusste nicht, dass ich so weit von der Straße abgekommen bin und als ich es merkte, war’s zu spät. Ich sitze hier fest und du bist daran auch nicht unschuldig.“
„Wenn’s nach mir geht, sind wir sofort weg hier. Ich hasse es, ständig durch Kuhscheiße zu laufen.“
Rick beugte sich nach vorn, hängte die Ellebogen über die Knie, betrachtete seine bandagierten Finger.
„Ich geh nicht zurück“, wiederholte er.
„Sturheit zahlt sich nicht aus“, erwiderte Pyper, grinste und erschreckte ein paar Enten, als er Rick am Kragen packte und mit schleifenden Füßen Richtung Teich zerrte.
Auf dem Weg dorthin wäre er fast über einen Jungen mit Fahrrad gefallen, der mit einem Affenzahn den Sandweg entlang kam. Er bremste schlitternd ab, der Hinterreifen rutschte seitlich weg und sie kamen auf gleicher Höhe zum Halten; aus seiner gebückten Position erkannte Rick Kenny, die kleine Nervensäge, der es offensichtlich darauf anlegte, ständig dazwischen zu funken.
„Aus dem Weg“, rief Pyper launig, „ich hab noch was zu erledigen.“
„Ich kenne sie, sie haben gestern schon versucht mich umzufahren“, sagte Kenny und seine Stimme war nicht die eines Kindes, dazu klang er zu entschlossen und zielstrebig einem Erwachsenen gegenüber.
Er war abgesprungen, die Querstange seines Rades verlief wenige Zentimeter unter seinem Schritt und er hielt das Rad ohne Hände in der Balance.
„Und jetzt versuchen sie, mir Angst zu machen. Ich kann mich gerade noch von ihnen losreißen und fliehen, bevor sie mich in den Teich werfen.“
„Hast du irgendwas geraucht, Junge?“ Pyper hielt Rick noch immer im Schwitzkasten, drehte sich nach allen Seiten um, ob Jungs in der Nähe lauerten und das nur ein blöder Streich war.
„Rick wird bezeugen, dass es so gewesen ist, oder?“
Er spielte ihm den Ball zu und wartete. Rick konnte ihn aufheben oder wegtreten, seine Entscheidung. Undeutlich murmelte er: „Und ich hab noch versucht, ihn davon abzuhalten, ich schwöre, dass ich es versucht habe, aber er ist auf den armen kleinen Jungen losgegangen wie ein Pitbull.“
Pyper stieß Rick von sich, der sich im letzten Moment mit dem gesunden Bein abfangen konnte.
„Was habt ihr beiden Arschgesichter ausgeheckt? Seit wann holst du dir halbe Portionen zur Hilfe, Rick?“
Kennys und Ricks Blicke trafen sich, Rick blinzelte unmerklich zu ihm hinüber und antwortete leise auf Spanisch: „So was nennt man Freundschaft, chico, davon hast du keine Ahnung.“
Pyper verstand ihn und diese Andeutung sehr gut, aber er reagierte nicht darauf, weil Kenny sich von ihm abwandte und zu schluchzen begann, laut genug, dass ein vorbeischlenderndes Pärchen aufmerksam wurde.
„Halt’s Maul“, zischte Pyper, erreichte aber nur, dass Kenny noch lauter schluchzte und sich Tränen in die Augen drückte.
„Okay, ich verschwinde schon. Ihr habt gewonnen, für dieses eine Mal. Rick, wenn ich dich das nächste Mal erwische, werde ich es dir heimzahlen.“

„Musst du dich ständig einmischen, Kenny?“
„Der wollte dich ertränken, oder was hab ich da mitbekommen?“
Rick zeigte mit dem bandagierten Zeigefinger auf ihn.
„Du solltest dich da wirklich raushalten, ich mach keine Scherze. Der Typ steht nicht auf Kinderkram.“
Er könnte danke sagen, oder? Ist das zuviel verlangt?
Rick hatte diesen Gedanken an Kennys unglücklichem Gesicht abgelesen, wo er eben noch die Tränen vorgegaukelt hatte, schienen sie jetzt echt zu sein.
„Ich weiß, dass ich eine herbe Enttäuschung bin, aber du hast keine Ahnung, mit wem du dich einlässt. Wenn ich dir auch nur die Hälfte von dem erzähle, was ich über Pyper weiß, würde dir das die Schuhe ausziehen. Es bringt nichts, dass du mich zu retten versuchst“, sagte er, „entweder gehe ich mit ihm nach New York zurück, oder ich schaffe es, die Stadt zu verlassen und meine Spuren zu verwischen. Ich hab noch keinen blassen Schimmer, wie ich das hinbiegen soll und du hilfst mir nicht, wenn du dich ständig dazwischen wirfst.“
„Das nächste Mal“, sagte Kenny beleidigt, „das nächste Mal fahr ich einfach weiter.“
Er stellte sich in die Pedale, stieß sich ab und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzudrehen oder auf Ricks kurzen Ruf anzuhalten.
Gut gemacht, buddy.
Ja? Und was hättest du gemacht? Es darauf ankommen lassen, dass Pyper ausflippt?
Der Junge war vielleicht dein Ticket hier raus.



Rick verschwindet
Deputy Heywood, der vor drei Jahren nach Benton gekommen war und seine Arbeit gut machte, aber ständig dadurch auffiel, dass er regelmäßig Montags krank war, fragte Officer McNallen nach einer halben Woche Urlaub und war flink genug, auf die Frage, ob denn eine halbe Woche ausreiche, gleich eine ganze Woche zu nehmen, obwohl er wusste, dass damit die gesamte Personalplanung den Bach runter ging. McNallen genehmigte ihm den Urlaub, ohne noch mal auf die Listen zu sehen und scheuchte ihn aus seinem Büro.
Wenn er anwesend war, telefonierte er die ganze Zeit, aber meistens war er in seinem Dienstwagen unterwegs und meldete sich auch über Funk nicht.
„Was treibt er den ganzen Tag?“ fragte Corry, worauf einer ihrer Kollegen nur meinte, dass er vielleicht einen privaten Überwachungseinsatz hatte.
Sehr privat, Junge Junge.
So ziemlich jeder wusste bescheid über das Verhältnis von Mrs. McNallen, wenn es auch nur unter der Hand weitergegeben wurde, dass es Gino Martinez war, der sie beglückte.
Corry hatte mit Joey darüber gesprochen, schon vor Wochen, bevor Rick nach Benton gekommen war und Joey argwöhnisch wurde, seine hunney Corry könnte etwas haben mit dem fremden Herumtreiber.
„Es ist eine harte Entscheidung, den Ehemann zu verlassen und zum Liebhaber zu ziehen, dazu noch mit den Kindern“, sagte Corry, und Joey erwiderte: „Wenn sie die Kinder bekommt.“
„Zweifelst du daran? Ich würde McNallen nicht einmal einen Goldfisch anvertrauen.“
„Spricht man so über seinen Vorgesetzten?“
Sie zwickte ihn und meinte: „Er will nur nicht, dass die Kinder bei ihr bleiben, weil er sie als seinen Besitz ansieht, wie eine Angel, die er sich gekauft hat oder einen neuen Wagen. Wenn er es genau überdenken würde, würde er seinen Anspruch auf die Kinder aufgeben und sie gehen lassen. Mein Gott, sie sind doch nicht aus der Welt, sie wohnen zehn Meilen außerhalb.“
„Möglicherweise ist ihm das schon zu weit.“
Dann kam die unangenehme Szene mit Rick und über Fremdgehen und Seitensprünge sprachen sie plötzlich nicht mehr.

McNallen überwachte Gino Martinez, Corry tat das gleiche mit Rick Scanlon; als Pyper Rick in der Elias Street in die Mangel nahm, standen ihre Wagen auf Sichtweite auseinander, ohne dass sie sich bemerkten. Als alles vorbei war, Pyper und Rick gemeinsam abzogen, als sei mit den Jugendlichen nichts gewesen, fuhren sie in entgegen gesetzten Richtungen davon, trafen sich erst wieder vor dem Revier und erzählten sich gegenseitig Lügen, was sie den ganzen Tag gemacht hatten.


Kenny war verschwunden. Rick zog es ins nächste Diner, den er finden konnte. Das Kleingeld wurde langsam knapp in seinen Taschen, es reichte gerade noch für eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen oder eines der vertrockneten Sandwiches vom Vortag, bei denen sich der Scheibenkäse in einen fettbeschichteten harten Belag verwandelt hatte und die Salatblätter in dunkelgrüne Gärung übergingen.
Da der Kuchen auch nicht besser aussah, nahm Rick eines der Sandwiches, die noch einigermaßen gut aussahen und an denen er sich nicht den Magen verderben würde. Er saß an der Theke, das Gesicht zur Tür, hockte dort mit rundem Rücken auf dem Hocker und schlürfte den Kaffee, überhörte die Kommentare der Bedienung, die behauptete, ihre Schwägerin sei von Außerirdischen entführt worden und seit dem sei die nicht mehr ganz richtig zwischen den Ohren und würde nur noch vom Ende der Menschheit sprechen. Ein alter Farmer, der ein paar Hocker weiter an der Theke saß, gackerte in sich hinein und erwiderte, dass es um die meisten, die er kannte und zu Hause sitzen habe, nicht schade wäre, von E.T. hochgebeamt zu werden.
„Um dich wäre es auch nicht schade, du alter Holzkopf“, rief die Bedienung.
„Na, um dich etwa? Würde dich jemand vermissen?“
„Ist denn sonst noch jemand hier, der dir deine Burger bringt?“
Rick hätte einiges darum gegeben, einfach sein Gehör ausschalten zu können, um dieses Geschwätz nicht mehr mit anhören zu müssen, aber das blieb reines Wunschdenken. Nicht einmal ein hereinstürmender Amokläufer hätte diesen müden Haufen von den Diskussionen, die zu nichts führten, abbringen können.
Zum Teufel noch mal, was mach ich hier eigentlich?
Rick aß das Sandwich mit langen Zähnen, klappte es vor jedem Bissen ein Stück auf, sah nach, ob sich nicht etwas Lebendiges darunter verbarg. Er machte es so lange, bis die Bedienung die Hände in die Seiten stemmte und mit schnippischer Stimme und lauter als nötig sagte: „Was soll das werden, junger Mann? Was glaubst du, was du da finden wirst?“
„Ich dachte eben, ich hätte Elvis unter dem Salatblatt gesehen.“
Rick sagte das leise und mit seltsamer Betonung, als habe er entweder an etwas ganz anderes gedacht, oder als überlege er, wie er das Abbild des Kings au seinem alten Salatblatt profitabel vermarkten könnte.
„Ein bisschen mehr Respekt, mein Junge, oder weißt du nicht, was sich gehört?“ tönte es von einem anderen Farmer, bei dem Rick befürchtete, er könne entweder aus dem Scanlon oder aus dem McGuire-Clan sein, einer aus der eigenen Sippe. Die Gestik und der Haaransatz sprachen dafür.
„Willst du behaupten, ich würde Sandwiches verkaufen, die nicht mehr frisch sind?“
„Gibt es sonst noch einen Grund, dass sie billiger sind?“ entgegnete Rick.
„Dass sie von gestern sind, heißt nicht, dass sie schlecht sind.“
Der Farmer, der vielleicht nur durch sein schlecht sitzendes Gebiss so alt und verbraucht aussah, schnaufte in sich hinein.
„Man kann von den jungen Leuten keinen Respekt mehr erwarten“, sagte er.
Rick hätte ihm gerne etwas über Respekt erzählt, über die Erfahrungen, die er und Mascot unterwegs gesammelt hatten. Respekt war eine käufliche Hure, besonders in den Landstrichen, in denen die Einwohner großmäulig das Gegenteil behaupteten. Wenn jemand wie Mascot einen Laden wie dieses Diner betrat und nicht bedient wurde, Rick nur nachfragte, ob jemand Probleme habe und zu hören bekam, er solle lieber verschwunden und seinem Freund den Docht in die Kimme schieben, dann wussten sie wieder, welchen Wert das Geld besaß, wenn man es hatte. Wedelten sie mit den Scheinen herum, waren sie überall willkommen.
Sein Hunger war verflogen und statt sich mit diesen Landeiern weiter zu streiten, trat er den Rückzug an, mit Rücksicht auf seine heilenden Finger. Das Geld legte er abgezählt ohne Trinkgeld auf den Tresen, nahm einen letzten Schluck Kaffee und sagte ihm gehen: „Ihr könnt mich alle mal gern haben.“


Warum hast du den Wagen abbezahlt? würde Sophie fragen, ungläubig und gleichzeitig geduldig, eine Lüge erwartend. Er würde sich dazu wirklich etwas einfallen lassen müssen, denn sie hatte eine Nase für seine Lügen. Oh ja, sie konnte sie riechen. Kleine Notlügen nahm sie hin. („Wo warst du so lange?“ „Ich hatte ’nen Platten.“ „Ja? Wie gut, dass du nie mit einem eigenen Wagen unterwegs bist, Rick.“) Aber irgendwann hörte der Spaß auf. Irgendwann wurde die Sache zu wichtig und dann wollte sie von ihm hören, was los war.
Eine wirklich heikle Angelegenheit, ihre Beziehung.
Was sollte er sagen auf die Frage, weshalb er ihre Schulden bezahlt hatte? Sie nagte deswegen nicht am Hungertuch und die Finanzierung war wirklich günstig gewesen.
Ich weiß, dass du diesen Flitzer liebst. Du kannst an mich denken, wenn du ihn fährst, obwohl so eine Maschine in New York wie ein Rennpferd in einem Laufstall ist. Ich wollte nur danke sagen, Okay?
Nein, danke durfte er nicht sagen, denn darauf würde sie sofort anspringen und wissen wollen, wofür er sich bedankte.
Wie konnten wir uns nur so auseinander streiten, wo wir uns doch so verdammt gut kennen?
Rick wachte zuckend auf, schlug mit den Armen um sich, bevor er langsam wusste, wo er war. Schnaufend und keuchend wühlte er sich aus den Jacken, unter denen er zusammengerollt gelegen hatte, konnte auf seinem kranken Bein kaum stehen und hinkte zu dem vernagelten Fenster hinüber, sah durch die Ritzen hindurch auf die Straße. Es war warm, die Sonne schien durch vereinzelte Wolken und eigentlich war es ein schöner Tag, aber Rick hockte schon seit dem Morgen in dem verlassenen Haus in der Black Lane. Sozusagen war er untergetaucht, wollte die Dunkelheit abwarten und dann mit dem nächstbesten Wagen, den er finden und knacken konnte, endlich abhauen. Er war schon längst nicht mehr neugierig auf Mt. Vernon und es lag ihm nichts mehr daran, seine Vergangenheit vor irgendjemandem auszubreiten. Sophie hielt ihn noch immer umarmt, obwohl er nahe daran war, wegen Corry den Verstand zu verlieren. Sie und Joey mochten ein Traumpaar sein, aber war da nicht irgendetwas zwischen ihm und ihr vorgegangen? Aber sicher war es das, verdammt, sonst würde sie nicht in seinem Kopf herumspuken und ihm keine Ruhe lassen.
Bevor er Benton verließ, würde er einen harmlosen kleinen Besuch machen, wogegen Joey nichts haben konnte, selbst ein misstrauischer eifersüchtiger Joey konnte nichts dagegen haben. Er wollte ihr noch etwas sagen, noch etwas erklären, was ihm auf der Seele lag und dann in Richtung New Mexico verschwinden. Mascot mochte mit den Güterzügen im Land unterwegs sein, in Tijuana sitzen und Würfel spielen oder vielleicht war er auch noch auf der Suche nach seiner versprengten Verwandtschaft in den Reservaten von New Mexico. Er würde ihn schon finden, ihre Geister würden früher oder später wieder zusammenkommen.

Rick war wie vom Erdboden verschluckt, wen Kenny auch ansprach und wo er auch suchte, er konnte ihn nicht finden. Verzweifelt und müde fuhr er nach Hause, platzte mitten in einen Streit zwischen seiner Mutter und ihren Bruder. Die beiden waren so in Rage, dass sie ihn kaum beachteten. Es fielen einige verletzende Worte, bösartige Bemerkungen auf beiden Seiten, dass Kenny sich schleunigst in sein Zimmer flüchtete. Er hatte nur noch den Wunsch, sich in sein Bett zu verkriechen und unter der Decke zu verschwinden, bis am nächsten Morgen alles vorbei wäre. Weinen wollte er nicht, daran klammerte er sich fest, auch, als unten in der Küche Glas und Porzellan zu Bruch gingen und die wütenden Schreie seiner Mutter in Schluchzen über ging. So heftig hatten sie sich noch nie gestritten, allerdings hatten sie auch noch nie einen Rick Scanlon im Haus gehabt, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. Sie prügelten sich dort unten wegen einer Frau, die Gino kennen gelernt hatte und Ida ihm das bitterböse zum Vorwurf machte, obwohl Kenny das nicht ganz verstand. Im Gegenzug warf er ihr in harten und lauten Worten vor, etwas mit Rick gehabt zu haben, nur sagte er das noch sehr viel direkter.
Kenny konnte es kaum glauben, begriff es nicht, wie seine Mutter das, was sie mit seinem Vater getan hatte, auch mit fremden Männern tun konnte; andere Frauen oder andere Mütter waren ihm egal, die mochten durch die Gegend vögeln, wie sie lustig waren, aber nicht seine eigene Mutter. Bei ihr glaubte er das nicht. Und es war von Onkel Gino nicht fair, ihr so etwas vorzuwerfen, nur weil er sich verteidigen wollte.
Welche Frau? dachte Kenny, er drehte sich auf die andere Seite, zog die verstopfte Nase hoch.
Als er endlich eingeschlafen war, verschwitzt und unruhig, kam Ida in sein Zimmer geschlichen, setzte sich schweigend neben ihn und strich ihm das Haar aus der Stirn. Sie wollte warten, bis er wieder aufwachte, ihm dann etwas zu essen machen und es ihm erklären, aber Gino trat neben sie und sagte, sie solle nach unten kommen. Als sie nicht reagierte, setzte er bemüht freundlicher hinzu: „Es tut mir leid, Ida. Ich hätte das nicht sagen sollen.“
Das konnte diesen Streit auch nicht ungeschehen machen, wo sie ihm doch nur etwas über die Konsequenzen seiner Liaison hatte aufklären wollen. Monatelang hatte er sie angelogen über seine heimliche Freundin und dann erklärte er ihr brühwarm, dass es Harriet McNallen sei, war dann noch wütend darüber, dass sie entrüstet reagierte.
„Hast du keine Angst, dass McNallen dich abknallt?“
„Sie lässt sich von ihm scheiden.“
„Das macht für den Officer keinen Unterschied.“
Sie hatten keine Kraft mehr zum streiten, konnten sich nicht in die Augen sehen, weil die ausgesprochenen Gemeinheiten noch frisch zwischen ihnen standen. Wahrscheinlich würden sie sich in den nächsten Wochen noch bei jeder Begegnung und bei jedem Gespräch unwohl fühlen.
„Glaubst du, er taucht hier irgendwann mitten in der Nacht auf, um mich abzuservieren?“
„Das diskutieren wir nicht vor dem Kind, selbst wenn er schläft.“

Der unsichtbare Volvo
Etwas fehlte Corry Baker. Noch konnte sie nicht sagen, was es war, aber es machte sie unruhig und als Joey sie zu trösten versuchte, reagierte sie sehr unleidig. Sie fauchte ihn an, er solle sie in Ruhe lassen, sie brauche Zeit, um nachzudenken. Das einzige, was Joey darauf erwiderte, war: „Hast du mit ihm geschlafen?“
Das ‚mit wem meinst du?“ erübrigte sich, weil Corry schon geraume Zeit an nichts anderes mehr denken konnte und sie war nur wütend darüber, dass er so etwas überhaupt in Betracht zog. Sie polterte und schimpfte, verfluchte das gemeinsame Haus und rannte hinaus zu ihrem Wagen. Sie musste noch einmal zurück, um sich Schuhe anzuziehen und die Wagenschlüssel zu holen, strafte Joeys Erklärungsversuche mit Missachtung und fuhr davon.
Was ist es? dachte sie, ich war noch nie im Leben so unruhig, innerlich unruhig und warum muss ich ständig daran denken, was mit Rick passiert ist? Er hat die Stadt verlassen, er ist verschwunden und wohlmöglich hat dieser Typ aus New Jersey etwas damit zu tun. Es sollte mich nicht kümmern, weil ich die Wahrheit nie erfahren werde. In dem Moment, als er sich öffnen wollte, ist Joey hineingeplatzt mit seiner Ich-hatte-einen-scheiß-Tag-Litanei. Wenn ich mir schon um jemanden Sorgen machen sollte, dann um McNallen, der hat in den letzten Tagen so abgebaut, dass es schon unheimlich wird. Möglicherweise steckt er doch hinter dem Unfall, will es uns nur nicht sagen.
Troys Vater war wieder mit seinen Kegelbrüdern in der Gegend unterwegs gewesen und nach ein paar Bieren hatten sie offensichtlich mit jemandem Streit angefangen, dem sie dann leider nicht gewachsen gewesen waren. Sie hatten zuviel abgebissen und waren beim Versuch, es herunterzuschlucken, beinahe erstickt. Sie alle behaupteten, ihre Verletzungen rührten von dem stuntreifen Überschlag mit dem Pajero, beharrten darauf, selbst als der Arzt in der Notaufnahme etwas anderes in seinen Bericht schrieb.
Corry traute es McNallen durchaus zu, dass er einige seiner Deputys zu einer Nacht- und Nebelaktion eingespannt hatte und danach kein Wort mehr darüber verlor.
Mrs. McNallen hatte den Rat ihres Anwaltes befolgt und war mit den Kindern ins Hotel gezogen. Der Officer warf ihr wiederholte Untreue vor und versuchte offensichtlich alles, um die Kinder wieder zu sich holen zu können, aber er schien auf verlorenem Posten zu stehen. Während seiner Arbeit war er zu nichts zu gebrauchen, nur zeitweise schien er helle Momente zu haben, dann machte er Pläne für das gesamte Personal, warf alles wieder über den Haufen und vergaß es eine Stunde später wieder.
Corry führte ein heimliches Tagebuch über die Eskapaden ihres Bosses, schrieb es in einen gebundenen Jahreskalender, der immer in ihrem Schreibtisch lag, sie tat es, um sich einen Überblick zu verschaffen, um irgendwann die Puzzleteile zusammen legen zu können; sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie McNallens Leben so aus dem Ruder lief.

Officer McNallen hatte sein Leben neu eingerichtet, nachdem seine Frau ausgezogen war, mit zwei Koffern, einer Reisetasche und den Kindern; er hatte alles neu fokussiert und machte sich keinerlei Gedanken darüber, ob es richtig war oder nicht. Sein Job als Officer konnte warten, denn nichts war so wichtig wie sein eigenes Leben. Er hasste Gino Martinez aus voller Seele, aber er hatte sich noch nicht entschieden, ob er seine Frau Harriet hassen oder Mitleid mit ihr haben sollte. Langsam entwickelte sich das Bild in ihm, dass Martinez der Auslöser des ganzen Unglücks war und dass Martinez seine gute Frau Harriet mit seinem lateinamerikanischen Charme, den er über die grüne Grenze geschleppt hatte, irgendwie verhext hatte.
So ist es gelaufen. Sie wusste nicht, was sie tat, sie stand unter seinem Einfluss.
Zwei Tage später hatte McNallen sich bezüglich seiner Frau entschieden. Sie war ein hilfloses Opfer, genau wie er selbst, ein Opfer von Gino Martinez, der mit seinem Traktor über sein verschissenes Land fuhr und dabei die ganze Zeit überlegte, wie er die Frau des Police Officers flachlegen konnte. Vielleicht legte er jede Frau in Benton flach, angetrieben von seinem glutäugigen Wesen, jede einzelne Frau, ob verheiratet oder nicht, und das war noch ein Grund mehr, ihn zu hassen.
McNallen überlegte fast ununterbrochen, was er wegen Martinez unternehmen solle, bemerkte nicht, wie er von der Realität immer mehr abrückte, seinen gesunden Menschenverstand durch den Schornstein jagte. Erst lag er eine, dann zwei Stunden beim Haus der Martinez auf der Lauer, dann beobachtete er seinen Kontrahenten fast rund um die Uhr. Er sah, wie Kenny auf seinem Rad nach Hause kam, unglücklich darüber, dass er Rick nicht finden konnte, er beobachtete, wie Ida Wäsche aufhängte und die Pferde fütterte, draußen vor der Tür den Hund bürstete. Er hatte Zeit, er brauchte die Zeit, um sich darüber klar zu werden, was sein nächster Schritt sein würde, das durfte er nicht überhasten.
Corry notierte in ihrem Kalender, dass ihr Boss irgendwohin verschwand, folgte ihm an nächsten Tag und entdeckte ihn bei seiner privaten Schnüffeltour, was ihr sehr unangenehm war, als wäre sie in sein Schlafzimmer geraten und hätte ihn nackt erwischt, mit einer Hand an der Stelle, die sonst nach Anbruch der Nacht seiner Frau vorbehalten war. Sie hatte Angst, er könne sich eine noch größere Dummheit einfallen lassen und überlegte, die Martinez zu warnen, aber was sollte sie sagen? Dass der Polizeichef durchgeknallt sei weil der gute alte Gino außerhalb seines Reviers gewildert hatte? Sollte sie ihm das sagen? Dass er im Begriff stand, erschossen zu werden? McNallen stand neben sich, aber er würde niemanden umbringen.
Corry machte einen Rückzieher, kehrte heim zu ihren heimlichen Kalendereintragungen und außerdem musste sie noch herausfinden, wo Rick steckte. Sie kam in der Sache einfach nicht weiter.
Das änderte sich erst drei Tage später, als sie früh morgens von einem Autofahrer alarmiert wurden, der am Straßenrand seinen Wagen angehalten und zum pinkeln in die Büsche gegangen war, dabei die tiefen Reifenspuren und die geschlagene Schneise entdeckt hatte. Corry und ihr Kollege Heywood kamen eine halbe Stunde später an, Heywood warf einen Blick auf das Nummernschild und sagte: „Mrs. Quinn war gestern bei mir und hat ihn als gestohlen gemeldet und hat sich dabei eine halbe Stunde lang über die Schlechtigkeit der Welt ausgelassen.“
Der blaue Volvo steckte mit offener Fahrertür zwischen zwei Bäumen fest, voller Beulen und Lackschäden, auf der Straße waren noch die Reifenspuren zu sehen, angefangen am Mittelstreifen bis hinüber in den Straßengraben. Von der Straße aus war der Wagen nicht zu sehen, die Büsche, die er durchbrochen hatte, waren noch immer so dicht, dass die abgebrochenen Zweige niemandem aufgefallen waren. Wäre der Autofahrer nicht pinkeln gegangen, hätte der Wagen noch monatelang zwischen den Bäumen gesteckt.
Corry steckte den Kopf in den Fahrerraum, leuchtete mit der Taschenlampe umher, während Heywood von außen um den Wagen wanderte, die Beulen begutachtete, die geborstenen Scheiben, die seltsam aussehenden Farbspritzer, die überall von innen an den Resten des Glases klebten. Corry schwenkte die Taschenlampe, leuchtete Heywoods Gesicht durch rot gefärbte Glassplitter, die noch im Rahmen steckten und machte ein würgendes Geräusch, als sie endlich den Geruch identifizieren konnte, der ihr in dem Volvo sofort aufgefallen war. Sie taumelte zurück, schob den neugierigen Autofahrer beiseite und rief: „Wir müssen das hier alles absperren, Woody, und versuch den Boss zu erreichen. Er muss sich die Scheiße hier selbst ansehen.“
„Was ist denn?“
„Das ist Blut in dem Wagen. Da drin ist alles voller Blut.“
Heywood rannte und stolperte zum Streifenwagen zurück, dachte dabei die ganze Zeit, ob sie in den letzten Tagen Vermisstenanzeigen rein bekommen hatten.
Erst vermisst, dann ermordet in einem gestohlenen Wagen.
Vielleicht sogar jemand, den er kannte, dessen Familie er kannte. Das würde wahnsinnig aufregend werden.
Mit dem Polizeiabsperrband kam Heywood zurück, wickelte es weitläufig um die Bäume und versuchte noch einmal, den Boss zu erreichen, ohne Erfolg.
„Für wen sperren wir eigentlich ab?“ rief er.
Corry holte tief Luft, tauchte wieder in den Wagen hinein, leuchtete den Fußraum ab, fand noch mehr Blut, hob etwas auf, betrachtete es und versteckte es in ihrer Hand, bis sie es in einem unbeobachteten Moment in die Hosentasche steckte. Sie öffneten die hinteren Türen, fanden dort das Polster durchweicht mit Blut und geronnener Masse, die sich der Pathologe ansehen sollte. Den Kofferraum bekamen sie nicht auf, er war abgeschlossen und sie blieben zögernd davor stehen, während um sie herum langsam der Tag anbrach.
„Ich hab ein Scheißgefühl bei der Sache hier.“
„Der Boss soll den Kofferraum aufmachen“, erwiderte Corry, „ich will gar nicht wissen, was da drin ist.“
Oder wer.
Schließlich erreichten sie über Funk Officer McNallen, der sie anblaffte, er würde vorbeikommen, sobald er Zeit dazu habe und er ließe sich von zwei Deputys nicht sagen, wie eilig die Sache sei.
„Wir können warten“, flüsterte Corry, „wer immer dort in dem Kofferraum liegt, er hat alle Zeit der Welt, er hat’s hinter sich.“
Sie warteten im Streifenwagen, Corry spielte mit dem Stück schmutzigen Heftpflaster, was sie in dem Fußraum gefunden hatte, eines der Pflaster, die Dr. LaSalle um Ricks gebrochene Finger geklebt hatte. Corry wagte nicht, etwas darüber zu sagen, sie wartete darauf, dass ihr Boss den Kofferraum öffnete und sich herausstellte, was dort drin lag, vielleicht gar nichts, vielleicht eine Leiche zwischen Ersatzreifen und Wagenheber.
Oh nein, sie konnte warten.

McNallen hatte versucht, mit seiner Frau zu sprechen, aber die hatte ihm die Hoteltür vor der Nase zugeschlagen und von innen gerufen, sie würde nur noch über ihren Anwalt mit ihm verhandeln.
„Ich will doch nicht verhandeln, Liebling“, schrie er durch die geschlossene Tür, „ich weiß doch, dass er dich dazu gezwungen hat.“
„Was?“ kam es von der anderen Seite der Tür und etwas leiser die Stimme seiner Tochter.
„Ist das Daddy?“
„Sheryl“, brüllte McNallen vollkommen entfesselt, „sag deiner Mutter, sie soll die Tür aufmachen, weil ich mit ihr zu reden habe. Es geht um uns, Harriet, es steht doch nichts mehr zwischen uns.“
Harriets schrille Stimme kam durch die Tür, im Hintergrund Sheryl, die jammernd dazwischenrief, sie solle Daddy reinlassen, sie wolle ihren Daddy sehen, aber Harriet fuhr ihr über den Mund und schrie: „Was zwischen uns steht, Neill, hast du noch immer nicht begriffen, was zwischen uns steht? Unsere Ehe ist am Ende, ich kann es nicht mehr ertragen, mit dir zusammen zu leben, daran können wir niemandem die Schuld geben. Es ist eine Tatsache. Solche Dinge passieren, Officer.“
Früher nannte sie ihn Officer, wenn sie ihn necken wollte, wenn sie sich gut gelaunt über Kleinigkeiten stritten, dann spielte er den Polizisten und sie die Verdächtige. Selbst beim Sex hatten sie das ab und zu getan, aber das war Jahre her. Sie brach McNallens Willen, als sie ihn durch die Barriere der Tür hindurch so nannte, er lehnte sich mit der Stirn gegen den Türrahmen, atmete durch den Mund, weil sich seine Stirnhöhlen zuzogen, und dann verschwand er ohne ein weiteres Wort.
Harriet McNallen lamentierte noch zwanzig Minuten über das Scheitern der Ehe, bis sie merkte, dass ihr Mann gar nicht mehr da war. Sie ließ einen Hotelangestellten nachsehen, ob ihr Mann wirklich nicht mehr vor der Tür lauerte. Erst, als man ihr dies über das Zimmertelefon bestätigte, öffnete sie die Tür und sah selber nach.
Neill McNallen sah seine Harriet erst während der Verhandlung wieder, seine Kinder erst sehr viel später.

Als er von der Farm der Martinez zurückkam, schaltete er sein Funkgerät wieder ein und augenblicklich hatte er Heywoods quäkende Stimme auf dem Kanal, der ihm sagte, dass er sich melden solle, es ginge um einen seltsamen Unfall auf der Straße Richtung Evansville.
Was konnte schon so dringend sein. Nichts auf der Welt. Er hätte selbst den heiligen Vater warten lassen, so viel war sicher. Er war richtiggehend enttäuscht, als er auf der Landstraße nur einen simplen Rutscher in die heimische Botanik vorfand.
„Weswegen macht ihr so einen Aufstand? Ruft den Abschleppdienst. Herrgott, Baker, wieso hast du das Flatterband gespannt? Muss man hier denn alles alleine machen?“
Corrys erster Gedanke war, dass ihr Boss getrunken hatte, aber sie begriff schon Minuten später, dass es kein Alkohol war, es war Adrenalin. Der Mann war so auf hundertachtzig, dass sie nicht zu fragen wagte, wo er sich die Hose so dreckig gemacht habe. Er war so hochgeputscht, dass er erst beim zweiten Anlauf begriff, dass das Blut in dem Wagen nicht von einem Unfall stammte und dass er sich auf eine kleine Überraschung gefasst machen musste, wenn er den Kofferraum aufbrach.
„Okay“, sagte er zu seinen Deputys, „was immer wir drin finden, ich kümmere mich darum und sonst niemand. Ich habe die Zügel etwas schleifen lassen, aber das ist jetzt vorbei. Klar?“
„McNallen, mach endlich den Kofferraum auf.“
McNallen hebelte ihn unsanft mit einem Brecheisen auf, die Klappe sprang hoch, federte kurz nach, stand dann still. Unter der Wolldecke, die im Kofferraum ausgebreitet war, bewegte sich nichts und der Geruch ließ bereits ahnen, was sie finden würden. Corry hatte einen stärker werdenden Druck auf den Ohren, sie stand einen Schritt hinter Officer McNallen, der die Wolldecke mit zwei Fingern anfasste und beiseite zog.
„Den kennen wir doch“, sagte er nüchtern.
Corry Baker fiel ein Stein vom Herzen, dass es nicht Rick war, der sie dort mit toten Augen anstarrte, so konnte sie noch immer glauben, dass er munter und vergnügt unterwegs war, dem Ruf folgend, der ihn durch die Lande trieb.
Es ist doch kein Wunder, dass er ständig unterwegs ist, hatte Curtis am Telefon erzählt, meine Eltern haben ihn entweder wie einen Sklaven auf der Farm schuften lassen oder sie haben ihn weggesperrt. Ich weiß nicht mehr, wie oft er in der Kammer unter der Treppe eingesperrt war, wenn ich von der Schule nach Hause kam und da war er noch nicht einmal zehn. Er musste in der Küche schlafen, egal, wie kalt es dort war. Mein Vater hat erst begriffen, was sie ihm antaten, als es zu spät war und meine Mutter ist heute noch der Meinung, es sei das einzig richtige gewesen, um ihn unter Kontrolle zu halten. Ich habe vor Jahren versucht, ihn ausfindig zu machen, wovon meine Eltern nichts wissen, aber die Agentur, die ich beauftragt habe, schrieb mir nach sechs Wochen, dass es keinen Sinn mache, jemanden mit dem T-Syndrom zu suchen.
Das Tarnkappen-Syndrom, dachte Corry, hoffentlich funktioniert es noch immer, denn wenn sie dich irgendwo in der Nähe schnappen, werden sie dir wegen des Abgangs hier gewaltig Feuer unterm Arsch machen.
Es war Pyper, der dort in seinem teuren Anzug lag, die Beine angewinkelt, damit er in den Kofferraum passte, die Arme auf den Rücken gedreht.
Jeder würde Rick verdächtigen – wen denn auch sonst? Niemand hätte sonst einen Grund gehabt, Pyper zu beseitigen, er war nur hinter Rick her gewesen.
Sie benachrichtigten den Coroner, ließen die Leiche abtransportieren und Heywood war der erste, der seine Vermutung laut aussprach.
„Wann haben wir eigentlich Scanlon das letzte Mal gesehen?“

Idas hysterischer Anruf erreichte sie, als sie alle gemeinsam im Revier saßen und wild diskutierten. Corry nahm den Anruf entgegen, sagte: „Ida, beruhigen sie sich“, und wie aufs Stichwort verließ Neill McNallen den Raum.
„Officer? Hey, Boss!“
Er ließ sich nicht aufhalten, Corry wurde von Ida am Telefon festgehalten und Heywood war nicht clever genug, um sogleich zu reagieren. Er ließ seinen Boss davonfahren, stellte noch immer Vermutungen an, wer Pyper aus New Jersey umgebracht haben mochte.

Die Sache wirbelte Staub auf, aber dieser Staub legte sich schnell wieder. Der Herbst kam, es wurde Winter und niemand sprach mehr von der Sache mit der Leiche in dem blauen Volvo. Offiziell waren die Ermittlungen eingestellt worden, nur Corry Baker hatte die Akten noch nicht geschlossen.
Ihre Hochzeit mit Joey war fürs Frühjahr geplant und sie hätte sich wirklich um andere Dinge kümmern sollen als um einen Toten, der im Leben nur krumme Dinger gedreht hatte und im Tod endlich niemandem mehr zur Last fiel.
Corry hatte sich für den frei gewordenen Posten als Officer beworben, aber sie war unter fadenscheinigen Argumenten ausgestochen worden und sie bekamen einen alten grauhaarigen Miesepeter aus Evansville vorgesetzt.
„McNallen mag ja zum Schluss durchgeknallt sein, aber mit ihm konnte man wenigstens abends einen trinken gehen.“
„Mich wollten sie nur nicht, weil ich zwei Brüste und eine funktionierende Gebärmutter habe“, sagte Corry.
Sie vermissten Officer McNallen, der sich einer Therapie unterzog, nicht mehr zurückkommen würde nach dem, was er angerichtet hatte.
Die Farm der Martinez war wieder bewohnt und die meisten Leute in Benton sagten, dass Ida und Gino sowieso nie ganz in diese Gegend gepasst hätten; ganz so, als seien sie allein an allem Schuld gewesen. Corry war die einzige, die es bedauerte, dass sie aufgaben und aus der Gegend verschwanden. Sie hatte mit Kenny über Rick gesprochen, wenige Tage bevor die Abreise geplant war.
„Wenn er den Mann umgebracht hat, dann aus Notwehr“, sagte Kenny, „ich hab gesehen, wie er Rick bedroht hat, er hätte ihn fast im Parkteich ertränkt.“

Nach Weihnachten und Neujahr setzte eine harte Frostwelle ein, die das Leben in und um Benton fast zum erliegen brachte und die einzigen, die alle Hände voll zu tun hatten, waren die Abschleppdienste.
Corry und Heywood saßen im Diner, gönnten sich einen Kaffee und Apfelkuchen, als ein silberner alter Oldsmobile durch die Straße gerollt kam, so langsam und majestätisch, als seien die Insassen auf einer Sightseentour. Vor dem Diner hielt der Olds an und ein Mann in einem dicken grünen Parka stieg aus. Sein Kopf und Gesicht verschwanden in der pelzumrandeten Kapuze, betrat das Diner und setzte sich an die Theke, bestellte zwei große Kaffees zum mitnehmen.
Die Bedienung hatte Schwierigkeiten ihn zu verstehen, er sprach spanisch, aber sie holte den Koch aus der Küche, einen 20-jährigen Exilkubaner, und sie bat ihren Gast an der Theke mit einer wedelnden Geste, seine Bestellung zu wiederholen.
„Er will zwei große Kaffees zum mitnehmen. Viel Zucker, schwarz.“
„Kommt sofort.“ Sie legte den Kopf schief, um unter die Kapuze zu lächeln. Der Koch wollte wieder in seine Küche verschwinden, aber der Mann unter der Kapuze hielt ihn zurück.
„Was ist mit der Farm der Martinez passiert?“
Der Koch rückte seine Baseballkappe zurecht, die dunkel gefärbt war vom Grillfett und Küchendunst, sah sich um und weil nicht viel zu tun war, lehnte er sich an die Theke und sagte: „Die Martinez leben nicht mehr hier, sie sind weggezogen, haben das Land aufgegeben. Was wollten sie von ihnen?“
„Ich hab gehört, dass sie Landarbeiter einstellen.“
„Haben sie, aber im Winter gibt’s auf einer Farm wenig zu tun.“
Die Bedienung stellte die Styroporbecher auf die Theke, der Mann bezahlte, gab Trinkgeld und blieb auf dem Hocker sitzen.
„Weswegen haben sie aufgegeben?“ fragte er.
„Es hat im Sommer einen Unfall gegeben, wenn man es einen Unfall nennen konnte. Gino ist von unserem damaligen Police-Officer angegriffen worden, wegen einer privaten Sache, es war eine haarsträubende Geschichte. Sie sind weggegangen, weil das vermutlich das Beste war, was sie machen konnten. Mehr will ich dazu nicht sagen, da hinten am Tisch sitzen zwei Deputys und ich will keinen Ärger bekommen, nur weil ich diese Geschichte weiter erzähle.“
„War wohl’n heißer Sommer hier.“ Die Kapuze rutschte etwas zurück, ließ andeutungsweise ein dunkles scharf geschnittenes Gesicht erkennen, als er sich zu den Deputys umdrehte.
„Ich muss wieder an den Herd“, sagte der Koch und verschwand.
Corry war aufgestanden und zur Theke herübergekommen, nachdem ihr der Wagen draußen ins Auge gefallen war.
„Hallo. Ich bin Deputy Baker“, sagte sie, sprach ein langsames aber flüssiges Spanisch, lächelte freundlich, „kann ich ihnen helfen?“
„Er hat nicht übertrieben.“
„Wie bitte?“ Corry hatte den Wagen gesehen und sofort gedacht: Dieser Schlitten hätte Rick auch gefallen, obwohl sie seit einer Ewigkeit nicht mehr an ihn gedacht hatte.
„Ich bin wegen des Kaffees hier und weil ich ihnen etwas ausrichten soll. Weiß der Teufel, weshalb es ihm so wichtig ist, dass sie die Wahrheit kennen. Ich persönlich wäre nicht wieder hergekommen.“
Corry deutete mit dem Kinn zu einem der leeren Tische hinüber und sagte, dass sie dort ungestörter miteinander sprechen könnten.
„Wird nicht lange dauern.“
An dem Tisch saßen sie sich gegenüber und endlich lüftete sich die Parkakapuze, zum Vorschein kam ein indianisches Gesicht und blauschwarzes glattes langes Haar, in der Mitte gescheitelt und im Nacken zum Zopf gebunden.
„Es geht um den Toten in dem Volvo, der mit den Kugeln im Hals und in der Brust und dessen Hände mit schwarzen Kabelbindern auf den Rücken gefesselt waren.“
„Diese Details haben wir nie an die Presse raus gegeben.“
„Ich weiß. Mein Freund weiß, dass sie denken, er hätte es getan, aber so war es nicht. Ein Dritter ist nach Benton gekommen, um meinen Freund nach New York zurückzuholen. Pyper wollte meinen Freund für sich einspannen, aber der Dritte war damit nicht einverstanden. Er hat ihn erledigt, auf seine Art. Um meinen Freund zu befreien.“
„Wer ist dieser Dritte? Sind sie das?“
„Nein“, antwortete der Indianer ernst, „ich würde niemanden umbringen, nur weil er sich mir in den Weg stellt. Sie werden von mir nicht erfahren, wer er ist, das gehört nicht zum Plan. Ich werde jetzt den Kaffee nehmen und rausgehen und wenn sie hier sitzen bleiben, bis wir weggefahren sind, finden sie noch ein kleines Geschenk in ihrem Briefkasten.“
Der Indianer erhob sich, nahm sich den Kaffee von der Theke und war fort, Corry kämpfte heftig mit sich. Sie wollte dem silbernen Oldsmobile folgen, nachsehen, ob Rick hinter dem Steuer saß, aber dann würde sie niemals ihr kleines versprochenes Geschenk erhalten. Es klang so unwahrscheinlich, dass ein großer unbekannter Dritter Pyper ermordet hatte, nur um Rick einen Gefallen zu tun, aber Fakt war, dass sie nie daran geglaubt hatte, Rick könnte es selbst gewesen sein.
Okay, dachte sie, ich bleibe hier sitzen, kein Problem. Niemand wird erfahren, dass ich hier unser Sommerintermezzo aufgeklärt habe. Wäre schön, wenn ich McNallen davon berichten könnte, warum musste dieser Idiot auch Gino Martinez fast umbringen? Dieses dumme Pferd hat ihm das Leben gerettet, hat McNallen im Schweinsgalopp umgenietet, während er auf Gino anlegte. Kein Wunder, dass er drecküberzogen bei uns ankam und Hufabdrücke auf dem Hintern hatte. Wir hätten darüber lachen können, wenn es nicht so tragisch gewesen wäre.

Rick und Mascot fuhren gut gelaunt nach New Mexico zurück, hörten laute Musik, rauchten Pot, fuhren ohne Unterbrechung und sprachen nicht über den kleinen Zwischenstop in Benton und Mt. Vernon. Eine nette heiße Zeit lag vor ihnen, Zeit zum Ausspannen und zum Spaß haben, bevor es wieder zurück nach New York ging, wo nächtliche Arbeit auf sie wartete.
„Was hast du ihr in den Briefkasten geworfen?“ fragte Mascot auf Spanisch, nachdem sie die Grenze passiert hatten und Rick sagte: „Ich wollte nur etwas loswerden, wozu ich nicht mehr gekommen bin.“
„Wir haben verdammt viel erledigt.“
„Gerade das wichtigste.“
Sie hatten in Mt. Vernon ein paar alte Erinnerungen aufgefrischt, die verlassene Farm der Scanlons besucht und dann hatte Rick lange mit seinem Bruder telefoniert, als sei es das natürlichste der Welt.
Nein, er wollte ihn nicht sehen, noch nicht, aber es tat gut, mit ihm zu sprechen. Es war ein Anfang.


Die Kassette, die Rick Corry überlassen hatte, hörte sie im Autoradiorecorder, wo sie sicher sein konnte, dass sie niemand hörte. Sie fuhr ziellos durch das verschneite Benton, hörte Ricks Stimme aus dem Hecklautsprecher.
„Hi“, begann er, räusperte sich und es hörte sich an, als würde er einen ermutigenden Schluck aus dem Glas nehmen, bevor er weiter sprach, „Corry, Mascot wird’s dir schon gesagt haben, was in dem Volvo passiert ist und ich will das gar nicht weiter ausbreiten. Ich wette, du hast das Resultat gesehen. Ich hätte den Wagen niemals so versaut, aber mein Boss ist leider etwas impulsiv. Sagt man das so? Er konnte Pyper noch nie leiden und deshalb ist Pyper jetzt Geschichte, aber was ich eigentlich sagen wollte, ist das hier. Du hattest Recht, dass ich mein Leben aufräumen sollte, du hattest vollkommen Recht. Es war kein Zufall, dass ich in die Nähe von Mt. Vernon geraten bin, es hat mir die Augen geöffnet und dafür bin ich dir dankbar. Hey, meinen Fingern geht’s wieder gut und ich mache auch wieder Unfug mit ihnen. Ich wollte nie darüber nachdenken, was passiert ist, ich wollte mit meiner Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Du bist der beste Cop, der mir je untergekommen ist, das wollte ich sagen. Behalte das so bei. Und ich wollte noch sagen, dass du dir keine Gedanken um mich machen sollst. Ich pass schon auf mich auf.“
Es klickte und Corry dachte, das Band wäre zu Ende, als Ricks Stimme sich noch einmal meldete: „Übrigens weiß ich, wer 73 den Güterzug gestoppt hat, ich hab den Zeitungsartikel bei dir zu Hause gesehen. Kannst du’s dir denken? Mascot hat behauptet, ich hätte es mir eingebildet, aber er wollte es nur nicht zugeben. Ich weiß nicht, wie er’s gemacht hat, er sagte, er wolle den Jungs auf dem Zug mal ein wenig Angst machen. Das hat er geschafft.
Jetzt, wo meine Finger wieder in Ordnung sind, probier ich ein paar neue Sachen aus. Ich hab Kontakt zu Curtis. Ich lass die harten Sachen aus. Wenn wir uns mal irgendwo über den Weg laufen, wirst du mich vermutlich gar nicht mehr erkennen.“
Corry identifizierte Bargeräusche auf der Cassette, gedämpft durch eine Tür oder eine Wand.
„Ich sitze hier im Büro meines Bosses und ich nehm das auf, bevor wir losfahren. Ich werd versuchen Kenny zu besuchen, um zu sehen, wie es dem Zwerg geht, weil ich was wieder gutzumachen habe.“
Ich hätte dich gerne gesehen, dachte Corry, nicht nur deinen Kumpel. Ich bedaure es, dich nicht unter anderen Umständen kennen gelernt zu haben.
 
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Alles, das ist wohl wahr, sogar der Regen im Urlaub ist schöner, als zu arbeiten in dieser Zeit. Hauptsache mal andere Bilder vor Augen oder einfach ein Ort, an dem man sich wohl fühlt und abschalten kann von ALLEM. Dann hoffe ich, ihr kommt erholt und voller neuer Energie und beschwingt wieder zurück, so dass es noch lange anhält ;-)

Zur Geschichte muss ich sagen, dass ich wieder so voll begeistert bin. Das war wieder so eine wirklich bis zum letzten Wort spannende Geschichte, was ich bei Dir immer so ein Phänomen finde, dass Du das immer wieder schaffst, weil Du auch so einen außergewöhnlich guten Schreibstil hast und man immer weiter lesen möchte. Sogar in den wenigen Seiten Aufklärung am Ende, steckt noch so viel Unerwartetes und Überraschendes und ich fand das am Ende auch nochmals so unverhofft rührend von Rick. Das war wirklich wieder toll. DANKE!


Fan-Tasia (05.07.2009)

Liebe alle,
habe mich noch schnell angemeldet bevor ich wirklich verschwinde.
Habt Dank für die Bewertungen und Kommentare!
Ich werde selbst den irischen Regen genießen.
Liebe Grüße Tinte & Dublin


Tintentod (26.06.2009)

Hab`s mir doch gedacht. Piper bekommt seine gerechte Strafe und Rick bleibt eben Rick. Nein, der lässt sich nicht so leicht umkrempeln- nicht mal von der süßen Corry. Dennoch hat man so einen leisen Hoffnungschimmer, weil Rick Kenny nicht vergessen hat. Wirklich eine tolle Geschichte. Sehr spannend und auch humorvoll geschrieben.

Jochen (24.06.2009)

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