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6 Seiten

Das Generationsraumschiff 2/6

Romane/Serien · Spannendes · Experimentelles
Er musste sich beeilen, weil er schon sehr spät dran war. Dieser Besuch bei seinem Freund hatte seinen vollen Terminkalender etwas durcheinander gebracht. Er war gerade die Skylinetreppe hinaufgestiegen - sein Arbeitsplatz war auf dem K-Deck - als es geschah: der Himmel flackerte nun auch für ungeübte Augen deutlich sichtbar, fing plötzlich zu knistern an, und mit einem lauten Zzzischhhhhhh – Geräusch, das nun wirklich niemand überhören konnte, stürzte das Programm, das für den Himmel zuständig war, vollends ab und gab den Blick in das tiefe Weltall frei. Jedermann konnte dort nun Sterne, Gaswolken und vor allem eine tiefe Schwärze sehen, tiefer, als es Thomas und mit Sicherheit die meisten der Anderen um ihn herum je zu Gesicht bekommen hatten oder je vermutet hätten, dass es solch eine Schwärze überhaupt geben könnte.
Es war ziemlich viel los auf der Skylinetreppe. Wahrscheinlich waren die Meisten wie Thomas auf dem Weg zur Arbeit. Als das Programm abgestürzt war, blieben alle, so als sei es zuvor so verabredet worden, plötzlich stehen und starrten wie gebannt nach oben. Es war faszinierend. Zum ersten Mal in ihrem Leben schauten sie da oben etwas Tatsächliches, etwas Reales an, etwas, das nicht durch ein Programm projiziert worden war. Es sah ganz anders aus, als der projizierte Nachthimmel. Es sah eigentlich unspektakulärer aus, aber im gewissen Sinne war es dann doch viel spektakulärer, einfach deshalb, weil es echt war.
Auch Thomas sah wie gebannt nach oben. Tausend Gefühle und Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf. Was würde wohl nun mit seinem Freund geschehen? Sah so tatsächlich das Da-draußen aus? Plötzlich dachte er auch Gedanken, wie: Weshalb gab es überhaupt diese Projektion? Weshalb zeigten sie ihnen nicht diesen tatsächlichen Himmel, diesen tatsächlichen Weltraum, so wie er tatsächlich aussah? Wo gab es da Gefahren für sie, wie ihnen schon von Kindesbeinen an beigebracht wurde?
Thomas war verwirrt. Er schüttelte seinen Kopf. Vielleicht war es genau diese Verwirrung, vor der die da oben sie beschützen wollten.
Er versuchte, sich zusammenzureißen, schließlich hatte er ja noch einiges zu erledigen. Er musste seine Pflichten erfüllen. Hier konnte man ja eindrucksvoll sehen, wohin es führen konnte, wenn einer von ihnen seine Pflichten vernachlässigte. Es führte nur zu Verwirrung und Chaos. All diese Menschen um ihn herum, die jetzt ebenfalls nach oben blickten, vernachlässigten nun ebenfalls ihre Pflichten. Wer weiß, was das alles noch für Konsequenzen haben würde. Vielleicht war schon längstens ein Prozess in Gang gesetzt worden, den keiner mehr aufhalten konnte. Wer weiß, welches System als nächstes ausfallen würde? Das Antriebssystem des Schiffes? Gar das Lebenserhaltungssystem?
Sein Freund hatte sie alle in Gefahr gebracht. Unverantwortlich. Eigensinnig. Selbstsüchtig. Alles nur wegen diesem Alkohol? Er selbst hatte ja die Wirkung dieses teuflischen Getränkes an seinem eigenen Leibe spüren können.
Was würden die da oben wohl nun mit Markus tun? Ihn an den Pranger stellen, damit alle sehen konnten, wer für dieses Chaos verantwortlich war?
Plötzlich dachte er wieder an seine eigenen Pflichten. Er musste sich von diesem Geschehen irgendwie losreißen, schließlich hatte er selbst auch welche zu erledigen. Er war eh schon viel zu spät dran.
Noch ein letztes Mal schaute er sich den echten Himmel da oben an, schüttelte dann aber, als sei es ein nötiges Ritual, seinen Kopf und machte sich eiligst an den viel zu Vielen vorbei, die um ihn herum standen und immer noch wie gebannt nach oben starrten, auf den Weg zum K-Deck, zu seinem Arbeitsplatz, zu SEINEN Verpflichtungen.

Das letzte Stück zu seinem Arbeitsplatz musste er mit dem Aufzug zurücklegen. Doch zum ersten Mal funktionierte dieser nicht.
Oh man, was war hier nur los? Wie sollte er nun zu seinem Arbeitsplatz kommen?
An dem Aufzug stand eine Nummer, die man bei einer Störung anrufen sollte. Mit etwas zittrigen Händen versuchte er, dort jemanden mit seinem knopfgroßen Telekommunikationsgerät zu erreichen. Er hörte aber lediglich das Besetztzeichen.
Es war unfassbar. Es schien einfach nichts mehr zu funktionieren.
Plötzlich spürte er, wie sich etwas veränderte, von dem er geglaubt hatte, dass sich so etwas niemals verändern könnte: das Raumschiff schien sich ein wenig zur Seite zu neigen. Das kam so überraschend für Thomas, dass er keine Zeit mehr fand, sich irgendwo festzuhalten. Er fiel schwer auf den Boden und rutsche anschließend unaufhaltsam mit schneller Geschwindigkeit auf der Plattform des L-Decks in Richtung Geländer.
Überall um sich herum vernahm er erschrockene Schreie. Es fühlte sich für die Beteiligten wie die sprichwörtliche Apokalypse an: die Welt, die sie kannten und von der sie ausgegangen waren, dass sie auf ewig stabil bleiben würde; dass es nichts und niemand gäbe, das diese Welt in irgendeiner Art und Weise beeinträchtigen könnte, schien nun mir nichts dir nichts in sich zusammenzufallen.
Thomas erreichte das Geländer, welches ihn von einem tiefen Sturz bewahrte. Er prallte dort mit seinem Brustkorb mit solch einer Wucht auf, dass mit einem Mal die gesamte Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er keuchte schwer und schnappte verzweifelt nach Luft. Einen kurzen Moment kam es ihm so vor, als könnte er seine Lungen nicht wieder mit dem lebensnotwendigen Gas füllen. Panik brach in ihm aus, ganz ähnlich der Panik eines Ertrinkenden oder eines mithilfe des Waterboardings gefolterten Opfers. Sein Puls raste, er hatte das Gefühl, als würden seine Adern jeden Moment platzen müssen.
Er versuchte verzweifelt, sich zu beruhigen. Hierzu schloss er seine Augen und trennte sich geistig von dem Geschehen um ihn herum ab; löste sich davon; versuchte, geistig ganz woanders zu sein und zwar an einem Ort, an dem er sich wohl fühlen konnte. Dann zählte er langsam von fünf herab um sich zusätzlich auf etwas anderes, auf ein Ziel, auf eine Aufgabe zu konzentrieren, die möglichst nichts mit seiner gegenwärtigen Situation zu tun hatte.
Diese Maßnahme schien tatsächlich zu funktionieren. Er entkrampfte sich, und konnte dann tatsächlich seine Lungen wieder mit Luft füllen. Langsam beruhigte sich auch sein Puls wieder.
Nach einer kurzen Weile war er wieder so weit, sich seiner Situation stellen zu können. Er öffnete seine Augen. Das Raumschiff schien sich noch weiter zur Seite zu neigen. Thomas hörte jetzt Schreie, die sich schnell von ihm zu entfernen schienen, und zwar nach unten. Oh mein Gott! Es hörte sich so an, als würden Menschen die vielen Stockwerke nach unten fallen!
War dies tatsächlich das Ende? Würde ihre Mission nach all den vielen Jahrhunderten - wie es zumindest die Aufzeichnungen berichteten - nun doch scheitern? Würden sie sterben müssen, so wie die Menschen auf ihrem Heimatplaneten, die sie zurückgelassen hatten? Würde dies nun das Ende der Menschheit bedeuten? Zuerst eine ökologische Katastrophe auf dem Heimatplaneten, dann weiteres menschliches Versagen auf diesem Raumschiff und zack! - schon war es das mit der Menschheit? Sollte dies tatsächlich ihr Schicksal sein?
Nein, so durfte das nicht enden! So nicht! Das war zu billig. Die Menschheit hatte so viel erreicht, so viel Kultur erschaffen und so viele Hindernisse in ihrer Geschichte überwinden müssen, um zu überleben. Dies durfte einfach nicht das Ende sein!
Er musste irgendwie hinauf zu seinem Arbeitsplatz kommen! Er wollte nicht teilhaben am Untergang der Menschheit. Sollten die meisten anderen Rädchen doch zum Stillstand kommen, er wollte zumindest dafür sorgen, dass sich SEIN Rädchen weiterdrehte.

Jemand musste doch für die Gravitation des Schiffes zuständig sein. Wie konnte es sein, dass dieser Person solch ein Fehler unterlief, dass sich dadurch die Gravitation offensichtlich zur Seite verschoben hatte? Solch ein Fehler war unverzeihlich, schließlich hatte es wahrscheinlich sogar schon Tote gegeben.
Thomas hielt sich am Geländer fest. Das Raumschiff hatte sich schon so weit zur Seite geneigt, bzw. die Gravitation sich so weit verschoben gehabt, dass, würde sie sich noch ein wenig weiter verschieben, er über das Geländer hinausfallen konnte.
Plötzlich neigte sich das Schiff wieder auf die andere Seite. Wieder hörte Thomas von überall her erschrockene Schreie der Bewohner dieses Raumschiffes. Für einen kurzen Moment stand das Schiff wieder normal. Fast hätte Thomas damit gerechnet, dass dies auch so bleiben könnte, aber kaum hatte er diese Hoffnung gehegt, neigte sich das Schiff auch schon weiter in die andere Richtung. Thomas hielt sich am Geländer fest.
Überall im Schiff krachte es. Ob dies nun von Menschen oder von Gegenständen verursacht wurde, die irgendwo heftig aufprallten, konnte Thomas nicht mit Sicherheit sagen. Wahrscheinlich verursachte beides diesen schrecklichen Lärm.
Das Schiff neigte sich weiter und weiter zur Seite. Thomas hielt sich krampfhaft am Geländer fest. Die verschobene künstliche Gravitation zog immer fester an ihm, fast schien es ihm so, als WOLLTE sie ihn - aus welchem Grund auch immer - unbedingt auf der gegenüberliegenden Seite des L-Decks haben.
Das Schiff neigte sich so weit zur Seite, dass es schließlich gänzlich auf der Seite zu liegen schien. Thomas hing nun komplett herab. Alles, was ihn von einem vermutlich tödlichen Sturz bewahrte, waren seine Hände, die sich am Geländer krampfhaft festhielten. Seine Finger fingen teuflisch zu schmerzen an. Er wusste nicht, wie lange er das noch durchhalten konnte. Er hing direkt über der Fahrstuhltür. Sie war etwa fünfzehn Meter unter ihm. Sollte er sich tatsächlich nicht mehr halten können, und dieser Moment rückte näher und näher, würde er diesen Sturz mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben können.
Wie lange würde die Gravitation noch verschoben sein? Hatte derjenige, der dafür zuständig war, in diesem Zustand des Schiffes überhaupt noch die Möglichkeit, irgendetwas daran zu ändern?
Die Schmerzen in seinen Fingern wurden unerträglich. Verzweiflung schlich sich in seinen Verstand ein. Langsam fing er an, zwischen einem Sturz und seiner jetzigen schmerzhaften Situation abzuwägen. Wie lange würde er noch durchhalten können? Wie lange noch? Eine Minute? Fünf Minuten? Zehn Minuten?
Er schloss wieder seine Augen. Irgendwie musste er sich von seinem Schmerz in seinen Fingern und nun auch in seinen Schultern ablenken. Das schien ihm die einzige Chance zu sein, diese Situation vielleicht doch noch überleben zu können. Hierzu musste er sich aber auch von den Schreien um ihn herum ablenken, was nicht einfach war. Denn immer wieder drangen sie in sein Bewusstsein ein und holten ihn zu seinem Schmerzempfinden, das nun immer weiter und auch immer schneller anstieg, zurück. Seine Finger waren nun ein einziger Schmerz und seine Schultern brannten wie Feuer.
Er versuchte, sich mit geschlossenen Augen einen Ort vorzustellen, an dem er sich wohl fühlen konnte. Ein Ort mit einer grünen Wiese, mit bunten Schmetterlingen, mit einem Bach und einer hell strahlenden Sonne am Firmament. So etwas hatte er auf Videoaufzeichnungen gesehen. So etwas hatte es angeblich auf ihrem Heimatplaneten früher einmal gegeben.
Es gab selbst Aufzeichnungen von den Düften, die es damals dort gegeben hatte, und von dem Gefühl, wie es war, wenn die Sonne auf die Haut geschienen hatte, oder wie sich das Gras zwischen den Zehen angefühlt hatte. Der Heimatplanet muss ein wunderbarere Ort gewesen sein, ein Ort, wo man in riesigen Ozeanen schwimmen konnte, auf Bergen Ski fahren konnte und in dem man einen Geruch riechen konnte, wie es ihn gegeben hatte, wenn es geregnet hatte, wenn Wasser einfach so vom Himmel gefallen war. Es musste ein Ort voller Wunder gewesen sein, voller Sehenswürdigkeiten und schöner Erlebnissen, die nur darauf warteten, von einem Menschen erlebt zu werden.
Ein Rumpeln holte ihn in seine prekäre Situation zurück. Das Raumschiff wurde erschüttert, fast hätte er dadurch loslassen müssen. Und dann drehte es sich plötzlich wieder schwungvoll in seinen Normalzustand zurück. Thomas klatschte dabei förmlich mit dem Rücken auf dem Boden auf.
Wieder hörte er dabei überall Schreie und Sachen und wahrscheinlich auch Menschen, die irgendwo aufschlugen. Es war ein Alptraum.
Jetzt erst löste er seine Finger vom Geländer. Sie schmerzten höllisch, gleichzeitig erschienen sie ihm aber auch irgendwie taub zu sein. Seine Schultern fühlten sich an als stünden sie in Flammen. Er blieb einfach so auf dem Boden liegen, hatte die Augen immer noch geschlossen und versuchte immer noch, sich von seinen Schmerzen abzulenken.
Langsam nur wurde ihm bewusst, dass er zumindest von dieser letzten ihm als hoffnungslos erschienen Situation gerettet war. Doch was würde als nächstes geschehen? Konnte er sich jemals wieder in diesem Raumschiff sicher fühlen?
In jeder Sekunde rechnete er damit, dass sich das Schiff wieder in irgendeine Richtung neigen würde und es diesmal seinen Tod bedeuten würde.
 
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Kommentare  

Hallo Dieter Halle,

freut mich, dass dir der Text gefällt. Gleich morgen werde ich den nächsten Teil hochladen.


Siebensteins Traum (17.05.2011)

Sehr gut, sagenhaft spannend, obwohl man eigentlich gar nicht richtig weiß, was eigentlich genau mit diesem Raumschiff passiert ist. Warte gespannt auf das nächste Kapitel.

Dieter Halle (17.05.2011)

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