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6 Seiten

Rocking Chairs - Teil 21

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Tintentod
Nach dem Wochenende fuhr Rick mit dem Nova in den Hafen und setzte Ben dort für die Schule ab. Für gewöhnlich ersparte er sich und Ben die Ermahnungen, die Sophie ihm auf den Weg geben würde, er strich ihm das Haar aus dem Gesicht und tat dabei so, als würde er sich die Finger vorher anlecken, damit Bens widerspenstiges Haar auch gehorchte. Ben kicherte und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, kaum dass er ausgestiegen und zur Fähre gelaufen war. Er drehte sich herum und winkte, Rick schlug zweimal auf die Hupe.
Ben hat Spaß in der Schule, dachte er, er macht sich so gut, als wäre es ein Kinderspiel für ihn. Es ist ein Kinderspiel.

Auf der Fähre traf Ben auf die Zwillinge, sie tauschten Comichefte und Süßigkeiten, saßen dicht zusammengedrängt auf der Plastikbank in der Kabine. Kenny und Charlie hatten die üblichen Obstsorten in ihren Lunchtüten, die sie entweder mit Ben tauschten, oder mit wenig Begeisterung und aus reinem Gehorsam aßen.
In Port Clyde wartete der Schulbus auf sie. Wie jeden Morgen beschwerte der Schulbusfahrer sich lauthals darüber, dass die Fähre jedes Mal später käme und ob Burton das mit Absicht tat. Ben hatte ziemlich schnell herausgefunden, dass es ein Scherz zwischen den beiden war. Ihre Wortgefechte waren harsch und teilweise bösartig, aber wenn Ben ihre Gesichter dabei betrachtete, entdeckte er immer ein Zwinkern in ihren Augen. Er konnte solche Dinge sehen, ohne dass ihm das jemand beigebracht hatte. Es war das Erbe seines Vaters.
Ben brachte die Schulstunden mit Lerneifer und viel Albernheiten und Spaß hinter sich, traf sich in den Pausen und zum Essen mit Kenny und Charlie. Er hatte ein paar Freunde in der Schule, die aus Port Clyde und Umgebung kamen, die ihn allerdings sehr selten auf der Insel besuchten. Es schien, als würden die Leute vom Festland ungern etwas mit den Insulanern zu tun haben wollen.

Auf dem Weg nach Hause unterhielten die Jungs sich wieder darüber, dass sie viel lieber mit ihren Rädern fahren würden als den Schulbus zu nehmen. Während Ben davon überzeugt war, seine Eltern irgendwann dazu überreden zu können, meinte Charlie nur, ihre Eltern würden das nie erlauben. Es sei viel zu gefährlich.
„Auf der Insel ist nichts gefährlich“, sagte Ben, „außer, du fällst beim Klettern von einer Klippe.“
„Oder du vergisst dein Asthmaspray zu Hause“, sagte Kenny und sie kicherten über Charlies komisches Gesicht.
Weil sie nicht mit ihren Rädern vom Hafen nach Hause fahren durften und sie gewöhnlich keine Lust hatten, zu Fuß zu gehen, saßen sie an der Anlegestelle und warteten darauf, dass Rick sie abholte.
Wenn Mrs. Gardener sie abholte, kamen sie immer pünktlich zu Hause an, wenn Rick an der Reihe war, konnte das meist etwas dauern.
Diesmal war Rick pünktlich, wartete bereits am Anleger, hatte die Tageszeitung auf der Motorhaube ausgebreitet und suchte nach Anzeigen in der Rubrik der Autoersatzteile. Einige hatte er bereits eingezirkelt. Er faltete die Zeitung zusammen, steckte sich den Kugelschreiber hinter das Ohr und winkte zu den Jungen hinüber.
„Rein mit euch“, sagte er, „ich muss zurück zur Tanke.“
Ben schubste die Zwillinge auf die Rückbank, er saß nicht gerne in der Mitte, weil für gewöhnlich der in der Mitte von beiden Seiten gepiesackt wurde während der Fahrt.
„Wie war euer Tag?“, rief Rick über das knatternde Motorengeräusch hinweg und Kenny, der vorlaute der Zwillinge, antwortete: „Wir haben die Englischarbeit zurückbekommen und Charlie war ausnahmsweise mal besser als ich.“
Obwohl es seinem Bruder gegenüber nett gemeint sein könnte, verstand Charlie den Seitenhieb sehr wohl und kniff seinem Bruder in die Seite. Sie rangelten miteinander, während Ben Erdnüsse mampfte. Rick hatte in dem Nova ständig Süßigkeiten und Knabberkram aus der Tankstelle herumliegen, ganz egal, wie oft Sophie sie ausräumte.
„Irgendwann kriegst du Ärger deswegen“, sagte sie, „wenn du dich ständig an der Tanke bedienst.“, aber er meinte, das würde niemandem auffallen.
„Wir haben die Einladungen bekommen“, sagte Ben.
Rick wusste, von welcher Einladung er sprach und er überlegte während der ganzen Fahrt nach Hause, wie er darum herumkommen würde. Er setzte erst die Zwillinge vor dem Haus der Gardeners ab, winkte Helena zu, die in der offenstehenden Haustür auf ihre Jungs wartete und den Gruß nur zögernd erwiderte.
Als das Strandhaus der Scanlons unterhalb der Dünen in Sichtweite war, fragte Ben: „Du kommst doch mit, oder?“
„Mal sehen.“ Rick wollte weder nein noch ja sagen. Bei einer Absage würde er Ben vermutlich den Rest des Tages verderben, bei einer Zusage, die er nicht einhielt, würde die Enttäuschung später einsetzen. Er war vor einiger Zeit dumm genug gewesen, Ben ein Versprechen zu geben und es nicht zu halten. Für ihn war es keine große Sache gewesen, deshalb hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, aber für Ben war der Tag gelaufen. Rick hatte begriffen, dass Kinder in einem emotionalen Auf und Ab lebten. Mit einem Eis nach dem Mittagessen konnte man sie so glücklich machen, dass sie nicht mehr still sitzen konnten und mit einem gebrochenen Versprechen trieb man sie in die pure Verzweiflung.
Manche Versprechen konnte man nicht halten, so war das Leben, und noch vor nicht allzulanger Zeit hätte Rick zu Rotz und Wasser heulenden fremden Kindern gesagt: Gewöhn dich schon mal dran, es wird nicht besser werden – aber nicht bei seinen Eigenen.
Es würde absolut reichen, wenn Sophie zum Sprechtag in die Schule ging, weil er nicht wusste, was er dort sagen sollte, aber vielleicht war es doch eine gute Idee, Ben den Gefallen zu tun.
Bei der Einschulung hatte eine der Lehrerinnen freundlich bemerkt, dass Ben fließend spanisch sprach. Er hatte sich auf Spanisch mit einem mexikanischen Jungen unterhalten, der ebenfalls eingeschult wurde und sie hatte das Gespräch mitbekommen. Rick hatte gemeint, er sei im Mittelwesten mit den Kindern von Wanderarbeitern aufgewachsen und habe Ben ein paar Brocken beigebracht. Wie konnte er irgendjemandem die Wahrheit erzählen, dazu noch einer Pädagogin, die Wollstrümpfe unter ihrem Rock trug.

Rick setzte Ben oben an der Straße ab und fuhr zurück an die Tankstelle. Alex hatte endlich einen Teil seiner Schulden bezahlt und Rick hatte das meiste davon Sophie überlassen. Sie führte akribisch Buch darüber, welche Schulden dringend bezahlt werden mussten. Rick hätte alles in eine Schublade gesteckt und demjenigen, der am lautesten schrie, etwas davon in die Hand gedrückt.
Von der Tankstelle aus telefonierte er mit dem Ersatzteilhändler seines Vertrauens, der in Lewiston saß und sie verabredeten, dass Rick in den nächsten Tagen vorbeikommen und die Sachen abholen würde.
Er hatte kaum aufgelegt, als das Telefon wieder klingelte und er sich mit einem „Ja?“ meldete, den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt, während er sich am Drehständer festhielt, den er gerade mit den Straßenkarten nach draußen rollen wollte.
„Hey“, rief er in den Hörer, „wie geht’s dir? Wie ist das Wetter in Bakersfield?“
Dom meinte, es würde den ganzen Tag regnen und in der Wettervorhersage würden sie nur Lügen verbreiten über das gute Wetter in Kalifornien.
„Weswegen ich anrufe“, sagte Dom, „ich hab von einem alten Kollegen gehört, was passiert ist. Es ist lange her, aber ich bin wirklich froh, dass du rechtzeitig verschwunden bist.“
„Wovon redest du?“ Rick starrte nach draußen auf die Straße, eine Hand noch immer am Kartenständer. Er sah aus wie ein Patient, der mit seinem rollenden Infusionsständer aus dem Krankenhaus geflüchtet war. Während er die Frage stellte, ahnte er bereits, was Dom sagen würde. Etwas war in New York passiert und er hatte es einfach auf seiner Insel nicht mitbekommen.
Hollis? dachte er, nein, der war sicher wieder irgendwo unterwegs. Es war…
„José“, sagte Dom, „sie haben ihn am Wickel. Du hast nichts gehört davon?“
Wie denn, ich bin nur noch mit mir selbst beschäftigt. Im Fernsehen gibt’s nur noch die lokalen Nachrichten über Hummerquoten und Wasserstandsanzeigen. Ab und zu mal Berichte über angeschwemmtes Schmugglergut oder Verkehrsunfälle. Geschichten von kleinen Leuten, die einen Schritt in die falsche Richtung machen. Nichts Weltbewegendes. Wir sind nur ein Haufen Leute, die sich auf einer Insel festklammern und versuchen, mit dem Meer gut Freund zu werden.
„Ich will nichts davon hören“, sagte Rick, „das Einzige, was mich interessiert, ist, ob ich hier mit der Zeit dick und fett werde. Aber was soll’s. Marlon Brando und Ryan O’Neal sind auch fett geworden.“
„Du solltest ein Foto von dir schicken“, meinte Dom, „das möchte ich zu gerne sehen.“ Er klang gut gelaunt, überhaupt nicht besorgt, wozu er auch keinen Grund gehabt hätte, denn schließlich hatte er es selbst gesagt – Rick hatte rechtzeitig die Kurve gekriegt und war verschwunden.
Er erzählte von Bakersfield, wo er sich ein kleines Sommerhaus gemietet hatte und dort Monate im Jahr lebte, um seine Zeit mit vielen kleinen Dingen zu verbringen. Er konnte nicht sagen, was genau er tat, wenn Rick ihn danach fragte, aber er meinte, er habe keine Langeweile.
„Es gibt eine Menge Hobbys, von denen du keine Ahnung hast“, sagte er und Rick stimmte ihm zu.

Er rollte den Kartenständer nach draußen, nachdem er Dom gesagt hatte, er solle die Ohren steif halten (und noch etwas anderes, wenn Kerle in seinem Alter noch Gelegenheit dazu hätten), blieb einen Moment vor der Tankstelle stehen und dachte darüber nach, ob er auf der Insel sicher war.
Mascots Stimme wirbelte in einem kühlen Luftstrom vom offenen Meer hinüber und flüsterte: Du bist nirgends wirklich sicher. Zu viele offene Rechnungen, von dem verrückten José mal abgesehen.
Mit den Füßen kickte Rick die Stopper auf die Räder und kehrte in die Tankstelle zurück. Der Springsteen-Song „The price you pay“ ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und er summte ihn noch eine ganze Weile.

Sie hatten keinen Babysitter für Yassi, also mussten sie die Kleine zur Elternversammlung nach Port Clyde mitnehmen. Sophie hatte sich alle Mühe gegeben, die Kinder sauber und ordentlich anzuziehen, aber kurz, bevor sie losfahren wollten, bemalte Yassi ihre Hände mit Bens wasserfesten schwarzen Markern und Sophie kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass sie sich Schnurrbarthaare ins Gesicht malte. Sie hatten Stunden zuvor gespielt, Yassi sei eine Katze. Mit viel Fantasie konnte man die Pfoten und Krallen erkennen, die sich die Kleine auf beide Handrücken gemalt hatte.
„Komm schon“, sagte Rick, die Autoschlüssel schon in der Hand und auf dem Weg nach draußen, „wer achtet schon darauf, ob Kinder saubere Flossen haben. Wenn wir jetzt nicht wegkommen, können wir Willy hinterherwinken und direkt einen Besuch im Museum für Schifffahrt machen.“
Sie verpassten die Fähre nicht, aber es war knapp. Ben hatte gehofft, die Jungs der Gardeners auf der Fähre zu treffen, aber die Familie schien eine Fähre früher genommen zu haben. Ordentliche Familien agierten immer auf der sicheren Seite.
Sophie setzte sich Yassi auf den Schoß und hielt ihr eines ihrer Bilderbücher unter die Nase, aber Yassi hatte sich entschieden, unwillig herumzuzappeln und schließlich in einen Wutanfall auszubrechen, weil ihre Mutter sie nicht herumlaufen lassen wollte.
Rick wechselte aus sicherer Entfernung einen fragenden Blick mit Sophie. Er stand mit Ben in der halb offenen Schiebetür, wo der kühle Seewind hereinblies und hörte sich mit einem Ohr die Geschichte an, wie Carlos am Morgen den alten Kater auf den Baum und dann auf das Hausdach gejagt hatte, und dass Ben ein neues Fahrrad wollte, weil Kenny und Charlie jedes Jahr ein neues Rad bekamen. Er fuhr noch immer mit dem alten Rad herum, das er bekommen hatte und die erste Zeit damit nur im Stehen fahren konnte, weil der Sattel sich für seine Größe nicht weiter herunterdrehen ließ. Und wenn er kein neues Rad bekam, wollte er wenigstens ein Paar von diesen neuen Sneakers haben, mit denen jetzt alle herumliefen.
Sie tauschten die Kinder, Sophie hörte sich Bens Herzenswunsch an, einen nach dem anderen, und Rick drehte eine Runde zwischen den abgestellten Autos mit Yassi, die sich erst wieder beruhigte, als er sie sich auf die Schultern setzte und es ihm nichts auszumachen schien, dass sie sich mit beiden Händen in sein Haar krallte. Auf dem Parkdeck trafen sie auf einen anderen Familienvater, der seinen Sohn auf den Schultern trug, weil der unbedingt die Antennen auf der Führerkabine der Fähre hatte sehen sollen.
Die beiden Kinder starrten sich zunächst nur an, beide in ungewohnter Höhenluft, dann grinsten sie sich an und schnitten sich lustige Grimassen. Rick und der Inseltourist rauchten eine schnelle Zigarette zusammen, wobei sie erst im letzten Moment daran dachten, die Kinder von ihren Schultern zu heben, um sie nicht einzunebeln. Der Mann erzählte, dass er ein Ferienhaus auf dem Festland für vier Wochen gemietet hatte und Abstecher in die Umgebung unternahm. Ricks nächste Frage wäre gewesen, welcher normale Mensch sich vier Wochen Urlaub im Sommer leisten konnte, aber er kam nicht dazu. Yassi produzierte einen kleinen Wutanfall, dessen Ursache Rick nicht klar war, und er meinte, er müsse kurz den kleinen Plagegeist über Bord halten, um wieder Ruhe zu haben.


+++ Beide Fotos mit freundlicher Genehmigung der Fotographen von www.morguefiles.com +++
 
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Kommentare  

Wieder unwahrscheinlich authentisch- das liebe ich so an deinen Geschichten und dennoch spürt man förmlich die Ruhe vor dem großen Sturm. Ricks Vergangenheit scheint ihn einzuholen. Aber er reagiert mir Gelassenheit. Doch wird ihm diese Gelassenheit immer helfen können?

Petra (13.06.2011)

Rick hat es ziemlich idyllisch auf seiner Insel, aber die Nachricht über Joses Festnahme hört sich nicht gut an. Spannend trotz der trügerischen Ruhe.

Jochen (12.06.2011)

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