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Das Glöcklein

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Meine Grossmutter lebt im Altersheim. Sie hat ein Glöcklein an der linken Hand. Wenn sie durch die Gänge schlendert, hört man sie schon von weitem kommen. "Ich will, dass man mich hört", hat sie einmal einer Angestellten gesagt.

Meine Grossmutter ist vor langer Zeit Pianistin gewesen und hat in allen grossen Konzertsälen gespielt. Die Menschen waren aufgestanden und hatten begeistert applaudiert, wenn sie Mozart oder Beethoven gespielt hatte. "Ich liebe euch alle", hatte sie jeweils ins Mikrophon geschluchzt, und der Applaus war noch grösser geworden.

Jetzt applaudiert niemand mehr. Klavier spielen kann sie auch nicht mehr. Doch meine Grossmutter erzählt viel von den Stars, die sie angetroffen hatte. Immer wenn meine Grossmutter von ihnen erzählt, frage ich mich, in welchen Altersheimen jene Stars jetzt ihren Lebensabend verbringen. "Grossmutter", frage ich sie dann, "wen würdest du jetzt gerne noch einmal treffen von all den Stars, von denen du mir erzählt hast?" Und sie sagt mir dann immer: "Keinen. Nur den einen, der kein Star gewesen war, einen Mann, den ich auf einer Tournee kennen gelernt hatte. Sandro hiess er, Sandro Cavalli, ein grosser, kräftiger Mann war er gewesen. Ihn würde ich gerne noch einmal treffen. Ich hatte mich in ihn verliebt. Er war für die Tontechnik in Florenz zuständig gewesen."

Meine Grossmutter erzählt mir immer wieder dieselben Geschichten vom Tontechniker Sandro Cavalli. Und immer wenn das Wort Sandro über ihre Lippen kommt, zittert ihre Hand, und ich höre ihr Glöcklein. Ganz leise.
 
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Eine anrührende kleine Story. Gut und flüssig geschrieben.

Dieter Halle (21.01.2012)

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